Klin Monbl Augenheilkd 2025; 242(06): 661-670
DOI: 10.1055/a-2372-3505
Übersicht

Lebensstiländerungen im Alter und ihr potenzieller Einfluss auf das primäre Offenwinkelglaukom

Article in several languages: English | deutsch
1   Augenklinik am Wittenbergplatz, Berlin, Deutschland
,
Clivia Erb
2   Universität Heidelberg, Deutschland
,
Avaz Kazakov
3   External Relations and Development, Salymbekov University, Bishkek, Kyrgyzstan
,
Gulnara Kapanova
4   Medical Faculty of Medicine, Al-Farabi Kazakh National University, Almaty, Kazakhstan
,
Burkhard Weisser
5   Sportmedizin, Institut für Sportwissenschaft, Kiel, Deutschland
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Das primäre Offenwinkelglaukom ist eine primäre Mitochondriopathie, die über den oxidativen Stress zu einer Neuroinflammation führt und später in eine Neurodegeneration übergeht. Dabei sind neben dem visuellen System zahlreiche weitere Hirnareale betroffen. Da es beim Altern im Rahmen einer mitochondrialen Dysfunktion ebenfalls zu einer niedriggradigen chronischen Entzündungsreaktion kommt (Inflamm-Aging), überlagern sich diese entzündlichen Prozesse im Alter und verstärken die glaukomassoziierten pathophysiologischen Vorgänge. Um aktiv diesen Entzündungsereignissen entgegenzuwirken, soll die Therapie von vorhandenen Systemerkrankungen optimiert, die Chronobiologie eingehalten und das Mikrobiom verbessert werden. Hierfür unterstützend sind eine erhöhte physische und mentale Aktivität. Somit ist neben einer personalisierten zieldruckorientierten Augeninnendrucksenkung auch eine holistische Sichtweise erforderlich, um der Neurodegeneration primäres Offenwinkelglaukom therapeutisch gerecht zu werden.


Einleitung

Das primäre Offenwinkelglaukom (POWG) ist in Europa mit 74% die häufigste Glaukomform [1] und tritt mit ca. 70% mit einem erhöhtem Augeninnendruck (AID) auf. Die restlichen 30% sind Patienten mit einem Normaldruckglaukom (NDG) ohne statistisch erhöhten AID [2]. Da das NDG eher als eine „Small-Vessel“-Erkrankung angesehen wird [3], ist sie pathophysiologisch von einem POWG zu unterscheiden und soll somit nicht in dieser Übersicht berücksichtigt werden.

Das POWG wird nach derzeitigem Wissensstand als eine primäre Mitochondriopathie eingestuft [4], [5], bei der es durch genetische Mutationen der mitochondrialen DNA zu einer um 21% verminderten mittleren mitochondrialen respiratorischen Aktivität kommt [6]. Durch die veränderte Aktivität des OPA-1-Gens [7] und/oder durch einen Genpolymorphismus der Cholesterol-24S-Hydroxylase [8] wird die mitochondriale respiratorische Aktivität weiter verschlechtert. Die damit verbundene mitochondriale Dysfunktion äußert sich u. a. in einer verminderten Verstoffwechselung von freien Radikalen und damit einhergehend vermehrtem oxidativen Stress, einer verminderten ATP-Produktion, einer Instabilität der zellulären Plasmamembran mit unkontrolliertem Einströmen von Botenstoffen und Kalzium in die Zelle und der Induktion von metabolischen Dysfunktionen [9]. Als Folge kommt es zu einer überschießenden zellulären Immunantwort und Entzündungsreaktion, was zu einer Beschleunigung der zellulären Alterung und der Apoptose führt. Für das POWG konnten diese inflammatorischen Prozesse nachgewiesen werden [10], die eine Neuroinflammation bedingen [11] und später in eine Neurodegeneration münden [12]. Hinzu kommt, dass das POWG mit zahlreichen Systemerkrankungen überlagert wird, wie der arteriellen Hypertonie, dem Diabetes mellitus und einer Dyslipidämie [13], [14], die selbst zu einer sekundären Mitochondriopathie führen [15] [16] [17] und damit die primäre Mitochondriopathie beim POWG verstärken.

Beim POWG kommt es im Rahmen der generalisierten Neurodegeneration zu einer Verminderung des Corpus geniculatum laterale, der Sehstrahlung, des visuellen Kortex und einer Beteiligung des gesamten Gehirns [18], [19]. Bisher sind bereits über 10 verschiedene Hirnareale außerhalb des visuellen Kortex nachgewiesen worden, die mit erheblichen Veränderungen einhergehen, wie z. B. mit einer veränderten spontanen Gehirnaktivität, einer veränderten funktionalen Konnektivität und der Volumenabnahme der grauen Hirnsubstanz [19]. Da die visuelle Wahrnehmung ca. 60% des gesamten Gehirns beansprucht [20], kommen zu den klassischen Gesichtsfeldausfällen die zusätzlichen, oft wenig gut einzuordnenden klinischen Beobachtungen hinzu, wie eine verminderte Lesegeschwindigkeit, eine Störung des Stereosehens und frühe Kontrast- und Farbsinnstörungen [21].

Zudem ist beim POWG der intrakranielle Druck vermindert [22] und somit die translaminäre Druckdifferenz (Augendruck minus intrakraniellen Druck) erhöht, was eine größere transversale Belastung an der Lamina cribrosa bedeutet und für die glaukomatöse Optikusneuropathie ungünstig ist [23]. Allerdings ist noch nicht eindeutig klar, woher der verminderte Liquordruck kommt. Zum einen könnte es eine verminderte Liquorproduktion bei neurodegenerativen Veränderungen im Plexus choroideus, dem Bildungsort des Liquors, sein, zum anderen wurde ein Kompartment-Syndrom im subarachnoidalen System innerhalb des Canalis opticus nachgewiesen [24]. Jedenfalls wurde auch für das POWG ein beeinträchtigtes glymphatisches System diskutiert [25], das unter dem Kapitel „Einhaltung der Chronobiologie“ noch genauer beschrieben wird. Ergänzend wurde eine synaptische Dysfunktion gefunden [26] und in der Retina sind β-Amyloid- und hyperphosphorylierte Tau-Ablagerungen nachgewiesen worden, die u. a. zu einer erheblichen Mikrogliaaktivierung führen [27]. Die Neurodegeneration unterstützend kommt eine generalisierte endotheliale Dysfunktion, eine Blut-Hirn-Schranken-Störung und eine enterale Mikrobiomstörung [28] hinzu. Letztendlich konnte in einer kürzlich publizierten Studie bei Glaukompatienten ein erhöhtes Risiko für einen Morbus Alzheimer und eine vaskuläre Demenz nachgewiesen werden [29].

Das Älterwerden ist auch mit einer steigenden Prävalenz des POWG verbunden [30], [31]. Dabei ist das Altern eher ein Risikofaktor für die vorliegende Neurodegeneration, wie es auch bei vielen anderen neurodegenerativen Erkrankungen der Fall ist, wie beim Morbus Alzheimer und dem Morbus Parkinson [32].

Das Altern wird heute als ein sehr komplexer Prozess verstanden, der sich nach derzeitigem Wissensstand aus folgenden Einzelprozessen zusammensetzt [33]:

  • genomische Instabilität

  • Telomerverschleiß

  • epigenetische Veränderungen

  • mitochondriale Dysfunktion

  • beeinträchtigte Autophagie

  • Verlust der Proteostase

  • Dysregulation der RNA-Verarbeitung

  • gestörte Nährstoffsensitivität

  • zelluläre Seneszenz

  • Stammzellenerschöpfung

  • veränderte interzelluläre Kommunikation

  • Störung des Mikrobioms

  • veränderte biomechanische Eigenschaften

  • vaskuläre endotheliale Dysfunktion

Alle diese Prozesse laufen in unterschiedlichem Maße ab, interagieren untereinander und führen zu einer chronischen, z. T. subklinischen Entzündung, die als Inflamm-Aging beschrieben wird [34]. In der Folge kommt es zu einem signifikanten Anstieg von chronischen Erkrankungen, wie Diabetes mellitus Typ II, Dyslipidämien, arterieller Hypertonie und chronischer Nierenerkrankung [35], [36].

Allerdings bleibt das Altern noch ein ungeklärter biologischer Prozess, der als sehr heterogenes und multifaktorielles Geschehen angesehen wird und bei dem viele Fragen noch offen sind [37]. Selbst der Zeitpunkt, ab wann das Altern beginnt, wird kontrovers diskutiert [37]. Ab dem 25. Lebensjahr kann man bereits Altersprozesse biochemisch und strukturell nachweisen [38].

Da das POWG eine primäre Mitochondriopathie darstellt, unterliegt die Summe der Mitochondrien zusätzlich auch eben diesen altersbedingten Veränderungen. Das Mitochondrium ist ein von einer Doppelmembran umschlossenes Zellorganell, das eine eigene Erbsubstanz enthält (mitochondriale DNA). Dort laufen zahlreiche essenzielle Stoffwechselprozesse ab, wie z. B. der Citratzyklus, die Synthese von Phospholipiden, eine Mitbeteiligung am Apoptose-Signalweg und vor allem die mitochondriale Atmungskette [39]. Über die mitochondriale Atmungskette findet die Verstoffwechslung von freien Radikalen statt und es wird direkt und indirekt Energie in biochemisch verfügbarer Form im ubiquitären Energieträger als Adenosintriphosphat (ATP) zur Verfügung gestellt. Die große Bedeutung für den zellulären Stoffwechsel zeigt sich in der Gesamtheit der mitochondrialen Oberfläche bei einem erwachsenen Menschen von ca. 4 Fußballfeldern [40].

Für die mitochondriale Atemkette ist bspw. Coenzym Q10 (CoQ10) notwendig. Es ist ein essenzieller Bestandteil mitochondrialer Enzymkomplexe und unabdingbar für die Bereitstellung von ATP. Es ist ein körpereigenes Molekül, das in der Leber gebildet wird [41]. Damit trägt CoQ10 für die Vitalität der Zelle wesentlich bei. Allerdings wird es in der Leber mit zunehmendem Alter weniger gebildet. So liegt z. B. der CoQ10-Gehalt des Herzes bei einem 40-jährigen Gesunden nur noch bei 68% der Konzentration, die ein gesunder 20-Jähriger aufweist [42]. Dieser Alterungsprozess konnte auch für die Aderhaut und die Netzhaut nachgewiesen werden: Im Vergleich zu einem 30-Jährigen hat ein 80-Jähriger nur noch 60% der CoQ10-Konzentration in beiden Geweben [43]. Als unterstützende Maßnahme steht CoQ10 als Nahrungsergänzungsmittel zur Verfügung, die Dosierung als Tablette sollte bei 50 – 100 mg/Tag liegen, da die enterale Resorptionsrate nur bei ca. 30% liegt [41].

Welche Einflüsse haben positive Lebensstiländerungen auf das Altern und auch auf das POWG?


Optimale Einstellung der vorliegenden Systemerkrankungen

Im Alter kommt es zu einem deutlichen Anstieg von chronischen Systemerkrankungen [36], die über das Inflamm-Aging den Alterungsprozess erheblich begünstigen [44].

Beim POWG kommt eine arterielle Hypertonie in ca. 50%, ein Diabetes mellitus in 22 – 30% und eine Dyslipidämie in 20 – 30% vor [45], [46]. Um die neurodegenerativen Prozesse generell zu verbessern, gilt es, die Systemerkrankungen optimal zu therapieren. Bei der Therapie der arteriellen Hypertonie sollten die Durchschnittswerte nicht über 120/80 mmHg, die Blutdruckschwankung nicht über 30% sowie die Tag-Nacht-Schwankung nicht unter 10% (Non-Dipper) und nicht über 20% (Extreme-Dipper) liegen [47]. Vor allem niedrige diastolische Blutdruckwerte unter 60 mmHg sind ungünstig und können die Glaukomprogression negativ begünstigen [48], aber auch die Entwicklung einer Demenz fördern [49]. Hierbei spielt vor allem auch die orthostatische Hypotension eine besondere Rolle [50].

Beim Diabetes mellitus sollten bei den älteren Patienten die HbA1c-Werte nicht unter 6% liegen, um Hypoglykämien zu vermeiden. Am besten ist der Bereich zwischen 7 und 8% [51], [52].

Bei den Dyslipidämien wird bei einem POWG mindestens ein LDL-Cholesterin von unter 100 mg/dl, bei bereits vorliegenden vaskulären Vorerkrankungen ein LDL unter 55 mg/dl empfohlen [53].


Einhaltung der Chronobiologie

Unter Chronobiologie wird die zeitliche Organisation von biologischen Systemen verstanden. Sie untersucht Regelmäßigkeiten und rhythmisch wiederkehrende Faktoren in der Lebensweise von Individuen. Beim Menschen spielt der Hauptzeitgeber des Körpers, der Nucleus suprachiasmaticus, ein Teil des Hypothalamus, eine wichtige Rolle. Zusätzlich hat jedes Organsystem seine eigenen Zeittaktgeber in Form von CLOCK-Genen, die selbstständig arbeiten [54]. Typische Prozesse wie der Augeninnendruck, der Herzschlag, die Atmung, der Schlaf und hormonelle Abläufe, wie der Menstruationszyklus, sind chronobiologisch gesteuert. Im Alter kommt es zu einer Störung der chronobiologischen Prozesse, z. T. bedingt durch einen Mangel an Melatonin [55], die zu Veränderungen der neuroimmunologischen Homöostase führen [56] und folglich neurodegenerative Prozesse begünstigen können [57]. Zudem ist Melatonin beteiligt an der Entschlackung des Gehirns von Stoffwechselendprodukten, die durch das glymphatische System erfolgt [58]. Dabei ist das glymphatische System ein perivaskulärer, mit Liquor gefüllter Raum um die Hirnarterien und Hirnvenen mit Verbindung zum Subarachnoidalraum und ist direkt mit den Sehnerven verbunden. Es ist für die Entsorgung zellulärer Abfallstoffe im zentralen Nervensystem (ZNS) verantwortlich. Der Prozess erfolgt fast ausschließlich während des Schlafes [59]. Durch den altersbedingten Mangel an Melatonin kommt es zu einer Störung dieser Reinigungsfunktion und folglich zu einer Unterstützung der Entwicklung von neurodegenerativen Erkrankungen [58], [60]. Da Melatonin antioxidative Eigenschaften hat und zu einer Stabilisierung der mitochondrialen Funktion beiträgt [61], wird ein Melatoninmangel neben anderen Faktoren als ein Bindeglied zwischen dem glymphatischen System und der mitochondrialen Dysfunktion angesehen [61], [62].

Ergänzend kommt es im zunehmenden Alter zu einer Änderung der Qualität des Schlafs wie Schlafeffizienz und der Schlafdauer [63]. Die normale Schlafdauer eines gesunden Erwachsenen wird zwischen 7 und 9 h angegeben [64]. Eine verkürzte Schlafdauer erhöht das kardiovaskuläre Risiko [65]. Zudem sind Schlafstörungen mit einem Anstieg von neurodegenerativen Erkrankungen assoziiert [66], da durch die Verkürzung der Schlafdauer auch die zerebrale Reinigungsfunktion des glymphatischen Systems gestört wird. Hinzu kommt, dass Schlafstörungen mit einem erniedrigten Serumspiegel des neuronalen Wachstumsfaktors BDNF (Brain-derived Neurotrophic Factor) verbunden sind [67], der z. T. für die synaptische Aktivität und die funktionelle und strukturelle Plastizität im ZNS verantwortlich ist [68]. Ein verminderter Serumspiegel von BDNF wird als ein Biomarker für die kognitive und sensorische Neurodegeneration angesehen [69].

Beim POWG ist ebenfalls die Chronobiologie gestört [70], z. T. bedingt durch die Beeinträchtigung der intrinsischen photosensitiven retinalen Ganglienzellen [71], aber auch durch die zerebralen und visuellen Beeinträchtigungen. Sowohl das Melatonin [72] als auch der BDNF [73] haben eine wichtige Rolle in der Chronobiologie beim POWG.

Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für das POWG:

  • Das bekannte Tag-Nacht-Verhalten des Augeninnendruckes kann sich im Alter ändern, sodass z. B. bei einem Patienten die ursprünglich höchsten Druckwerte nicht mehr um 16 Uhr, sondern um 22 Uhr auftreten. Dies könnte zu einer Fehleinschätzung der Therapieeinstellung führen, da diese abendlichen/nächtlichen Druckspitzen unter normalen Praxiszeiten nicht erfasst werden.

  • Bei einem gestörten glymphatischen System ist ein geregelter und ausreichender Schlaf wichtig. Da hierfür dem Melatonin eine große Bedeutung beigemessen wird, kann es bei der Therapie des Glaukoms ergänzend eingesetzt werden [72], was gerade bei erheblichen Schlafstörungen eine gute ergänzende Therapieoption darstellt. In Deutschland ist Melatonin als Nahrungsergänzungsmittel und in retardierter Form auch als ein verschreibungspflichtiger Arzneistoff verfügbar.

  • In der Ernährung hat sich gezeigt, dass die gleichmäßige Ernährung von großer Bedeutung ist. Der als Chrono-Nutrition neu bezeichnete Forschungszweig konnte zeigen, dass es allein durch ein zeitlich unterschiedliches Essverhalten zu unterschiedlichen Genaktivierungen kommt [74], [75]. In diesem Sinne ist eine zeitlich regelmäßige Essenseinnahme sinnvoll und das Vermeiden der zahlreichen Zwischendurch-Mahlzeiten notwendig.


Aufrechterhaltung eines gesunden enteralen Mikrobioms

Das humane enterale Mikrobiom bezeichnet die Gesamtheit aller Mikroorganismen im menschlichen Darm, vor allem im Dickdarm. Es gibt dort mehr als 1000 verschiedene Arten von Bakterien mit einem Umfang von über 100 Billionen Bakterien insgesamt. Die Aufgaben des Mikrobioms liegen u. a. in der Kontrolle der Verdauung, der Regulierung der Darmwandbarriere, der Hemmung und Aktivierung verschiedener Stoffwechselwege, der Anregung der Darmbeweglichkeit (Motilität) und der Aufnahme von Nährstoffen und von Energie. Zudem ist das enterale Mikrobiom immunologisch aktiv, indem es das Eindringen schädlicher Organismen verhindert, die Aktivität und das Wachstum von schädigenden Mikroorganismen hemmt, die Bildung von Schutzfaktoren der Darmschleimhaut fördert, selbst antimikrobiell wirksam ist und die Bildung von Entzündungsmediatoren einschränkt [76]. Inzwischen sind im menschlichen Körper verschiedene Mikrobiom-Achsen bekannt, wie die Mikrobiom-Hirn- und die Mikrobiom-Auge-Achse [77], [78].

Zahlreiche Faktoren können sich auf das Mikrobiom ungünstig auswirken. Neben den klassischen Schadeinwirkungen, wie Rauchen und Alkohol, die beide einen ungünstigen Einfluss auf die Zusammensetzung des Mikrobioms haben [79], [80], [81], sind auch z. B. Essensgewohnheiten mit Fast Food für das Mikrobiom schädlich [82]. Durch die dadurch ausgelöste Veränderung der enteralen mikrobiellen Zusammensetzung kommt es zu einer chronischen Darmwand-Permeabilitätsstörung, die neben der Aktivierung von Entzündungsprozessen auch zu einer verringerten Produktion von kurzkettigen Fettsäuren führt. Dabei handelt es sich um gesättigte und unverzweigte Fettsäuren kurzer Kettenlänge mit 2 – 6 Kohlenstoffatomen [83]. Sie werden im Darm aus unverdaulichen Kohlenhydraten (Ballaststoffe und verdauungsresistente Stärke) von der Darmflora gebildet und über die Monocarboxylat-Transportproteine in fast allen Geweben aufgenommen, einschließlich des Gehirns [84]. Sie sind im Gehirn an der Regulation des Appetits und am Energiestoffwechsel beteiligt [85], [86] und können zur Vermeidung und bei der Behandlung von Stoffwechselkrankheiten wie z. B. Diabetes mellitus Typ II und Adipositas helfen [87]. Kommt es nun im Rahmen einer Mikrobiomstörung zu einer verringerten Bildung dieser kurzkettigen Fettsäuren, kann es zu zerebralen Energieversorgungsproblemen kommen wie auch zur Induktion von Autoimmunerkrankungen [88]. Zudem gibt es Verbindungen vom Mikrobiom zu verschiedenen Systemerkrankungen, wie z. B. zum Diabetes mellitus [89], zur arteriellen Hypertonie [90] und zu den Dyslipidämien [91].

Im Alter kommt es beim humanen enteralen Mikrobiom zu einer Verschiebung der mikrobiellen Biodiversität, zu einer Überexpression von pathogenen Keimen, zu einer verminderten Produktion von kurzkettigen Fettsäuren, zu einer veränderten Darmmukosa und zu einer erhöhten Permeabilität der Darmwand [92], [93], [94]. Ursachen liegen z. T. in einem veränderten Essensverhalten, durch eine Änderung der Chronobiologie, durch eine eingeschränkte körperliche Beweglichkeit, durch die Zunahme von Systemerkrankungen und damit verbunden mit zahlreichen Medikamenten. Durch diese Veränderungen kommt es zu einer Dysregulation des Immunsystems mit einer niedriggradigen chronischen Entzündung [95], [96]. Diese immunologischen Veränderungen führen zu einer Neuroinflammation mit nachfolgender zerebraler Neurodegeneration [97]. In diesem Kontext sind die bakteriellen und zellulären Umbauprozesse des Darms eng verbunden mit den klassischen neurodegenerativen Erkrankungen, wie Morbus Alzheimer und Morbus Parkinson [98], [99].

Zusätzlich ist beim POWG in einer Metaanalyse ein statistisch gesicherter Zusammenhang mit der Infektion des gramnegativen Bakteriums Helicobacter pylori nachgewiesen worden [100]. Hierbei hat das Lipopolysaccharid (LPS) als ein Hauptbestandteil der äußeren Zellwand von gramnegativen Bakterien eine ungünstige Auswirkung auf den Darm [101]. Es erhöht die enterale Permeabilität, worüber das Immunsystem aktiviert wird [102]. Durch Helicobacter pylori kommt es auch zu einer atrophen Gastritis, die zu einem Mangel an Folsäure und Vitamin B12 führt. Über diesen Weg kann eine Hyperhomozysteinämie ausgelöst werden [103], die ihrerseits sowohl mit der Neurodegeneration im Allgemeinen [104], [105] als auch mit dem POWG [106] in Verbindung steht. Auf jeden Fall ist es sinnvoll, bei progredienten Glaukomverläufen Helicobacter pylori als eine mögliche Ursache der Neuroinflammation bestimmen zu lassen, um dann eine entsprechende Therapie einzuleiten.

Als positive Lebensstiländerung sowohl für das Alter als auch für das POWG gilt eine Verbesserung des enteralen Mikrobioms. Hierzu zählen Maßnahmen wie eine regelmäßige Nahrungsaufnahme zu festen Zeiten (s. o.) und eine bevorzugt mediterrane Ernährung [107], zumal sie die mitochondriale Dysfunktion verbessern kann [108]. Ergänzend wird der reichliche Verzehr von Gemüse und Obst angeraten. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt „5 am Tag“ – möglichst verteilt auf 3 Portionen Gemüse (ca. 400 g) und 2 Portionen Obst (ca. 250 g) [109]. Damit diese Nahrungsmittel möglichst viele ihrer Vitamine erhalten, empfiehlt es sich, vor allem saisonale Produkte mit kurzen Transportwegen zu wählen. Weiterhin ist die Verwendung von hochwertigen Ölen sinnvoll, wie bspw. Olivenöl, da es antiinflammatorische Eigenschaften hat [110], ebenso der Einsatz von Probiotika, die als lebende Mikroorganismen definiert werden, die einen gesundheitlichen Nutzen für den Wirt haben können, indem sie ein gutes Gleichgewicht im enteralen Mikrobiom bewirken. Als ein Beispiel sei Kefir genannt, eine fest definierte Zusammensetzung bestimmter Bakterienstämme [111], der antioxidative, antiinflammatorische und antimikrobielle Eigenschaften besitzt [112]. In Ergänzung werden Nahrungsergänzungsmittel diskutiert, um den tatsächlich nötigen Wirkspiegel an Vitaminen und anderen Wirkstoffen überhaupt zu erreichen. Für Vitamin C wird ab dem 19. Lebensjahr bei Männern 110 mg/Tag, bei Frauen 95 mg/Tag empfohlen [113]. In Äpfeln schwankt die Vitamin-C-Konzentration je nach Apfelsorte zwischen 0,05 mg/100 g und 0,96 mg/100 g Apfelgewicht [114]. Bei einem durchschnittlichen Gewicht eines mittelgroßen Apfels von 200 g und unter optimalen Bedingungen (frisch, kurzer Transportweg, gute Lagerbedingungen) müsste man pro Tag hundert Äpfel essen. Da sich aber beim Menschen die Bioverfügbarkeit zwischen natürlichem und synthetischem Vitamin C nicht unterscheidet, ist die Einnahme als Nahrungsergänzungsmittel ein akzeptabler alternativer Weg [115]. Auch sportliche Aktivitäten haben einen positiven Einfluss auf das enterale Mikrobiom [116]. Um jedoch alle diese Kenntnisse sinnvoll in ein tragbares und für den Patienten akzeptierbares Konzept zu integrieren, empfiehlt sich die Hilfestellung durch einen erfahrenen Ernährungsberater, der das Gesamtziel vor Augen hat und mit einem Therapiekonzept in kleinen Stufen den Patienten dabei nicht überfordert.


Physische Aktivität

Mit zunehmendem Alter entwickeln sich zahlreiche Umbauprozesse im skelettomuskulären System, die z. T. durch die Abnahme der Muskelmasse und durch eine Osteoporose bedingt sind. Dadurch und durch Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen kommt es zu einer zunehmenden Einschränkung der Beweglichkeit im Alter, die mit einem Anstieg der koronaren Herzerkrankung, des Diabetes mellitus Typ II, von Karzinomen und mit einer verkürzten Lebenszeit verbunden ist [117], [118]. Zudem bewirkt die herabgesetzte physische Aktivität eine gesellschaftliche Isolation, die zu einer weiteren Beeinflussung des hormonellen, immunologischen und neuronalen Gleichgewichtes führt [119], [120].

Beim POWG kommt es im Rahmen der Optikusneuropathie und der Beteiligung des visuellen zerebralen Systems zu zahlreichen Sehbeeinträchtigungen, wie Gesichtsfeldeinschränkungen, Störungen im Stereosehen, Farbsinn- und Kontrastsinnstörungen sowie erhöhtes Blendempfinden [21]. Dies resultiert in einer verminderten physischen Aktivität [121] und in Gangstörungen [122].

Insofern ist es sinnvoll, die physische Aktivität zu fördern, unabhängig vom Alter und speziell abgestimmt auf die persönliche Situation des POWG-Patienten. Dies ist in den meisten Fällen erfolgreich umsetzbar durch einen Bewegungstherapeuten.

Die positiven Effekte der physischen Aktivität sind offensichtlich: Neben der positiven Beeinflussung der motorischen Leistung [123] kommt es zu einer Verbesserung des Mikrobioms [124], zu einer vermehrten Ausschüttung von BDNF [125], zu weniger ausgeprägten kardiovaskulären Erkrankungen [126] und vor allem ist sportliche Aktivität mit einer Verbesserung von neurodegenerativen Erkrankungen [127] verbunden. Im Jahr 2020 wurden von der WHO die Leitlinien zur körperlichen Aktivität und sitzendem Verhalten herausgegeben [128]. Für die älteren Erwachsenen (> 65 Jahre) werden für Ausdauerbelastungen pro Woche mindestens 150 – 300 min moderate Ausdauerbelastungen oder mindestens 75 – 150 min intensive körperliche Belastungen empfohlen. Für das Krafttraining wird an mindestens 2 Tagen pro Woche kräftigende Übungen für alle größeren Muskelgruppen angeraten, die sitzende Zeit soll generell reduziert und durch körperliche Aktivität jeder Art ersetzt werden und an mindestens 3 Tagen pro Woche sollen Gleichgewichtsübungen und Krafttraining erfolgen, um Stürze zu vermeiden.

Beim POWG konnte vor allem bei Ausdauersportarten eine Augeninnendrucksenkung beobachtet werden [129]. Allerdings sollte keine pauschale Empfehlung zu mehr sportlicher Aktivität gegeben werden, da die ausgewählte Sportart die vorliegende Gesamtperfusion des Patienten berücksichtigen sollte. So ist ein Ausdauertraining bei höheren Blutdruckwerten sinnvoll, bei Patienten mit einem niedrigen diastolischen Blutdruck unter 60 mmHg wird eher ein leichtes Kraftsporttraining empfohlen, um den Blutdruck nicht noch weiter abzusenken. Zudem ist wichtig, dass nicht bis an die Leistungs- und Erschöpfungsgrenze Sport betrieben werden sollte, da dadurch ein massiver Anstieg des systemischen oxidativen Stresses ausgelöst werden kann [130]. Auf der anderen Seite ist die Fettoxidation besser bei 10 000 Schritten pro Tag im Vergleich zu 2000 Schritten pro Tag [131].


Mentale Aktivität

Älterwerden ist oft auch mit einer abnehmenden mentalen Aktivität verbunden [132]. Ein wichtiger pathophysiologischer Faktor scheint das glymphatische System zu sein. Denn durch Schlafveränderungen, Infamm-Aging oder Komorbiditäten kommt es zu einem beeinträchtigten glymphatischen System, wodurch mentale Störungen gehäuft auftreten [133]. In Folge der zunehmenden Inflammation kommt es zu einer Mikroglia-Aktivierung und zu Veränderungen der synaptischen Plastizität, die mit einer Beschleunigung des mentalen Alters verbunden ist [134] und durch vaskuläre Beeinträchtigungen negativ verstärkt wird [135].

Da auch beim POWG kognitive Dysfunktionen nachgewiesen wurden [136], die mit verminderten Stressbewältigungsstrategien verbunden sind [137] und zu Persönlichkeitsstörungen [138] und einer erhöhten Neigung zur Depression [139] führen, spielt das mentale Altern insofern auch für das POWG eine große Rolle.

Neuere Arbeiten zeigen, dass man aber durchaus diesem Prozess positiv entgegenwirken kann. Gerade das Entdecken von Neuem fördert mentale Prozesse [140] sowie auch das aktive Erlernen neuer Fähigkeiten, wie Sprache, Instrumente oder Malen [141], [142]. Besonders die soziale Einbindung ist für das mentale Wohlbefinden von Bedeutung [143]. Im Vergleich zur physischen Aktivität hat das kognitive Training die mentale Aktivität besser unterstützt [144].


Ausblick

In den letzten 20 Jahren hat das POWG einen weitreichenden Wandel in der Sichtweise auf die Erkrankung erfahren. Die klassische Vorstellung einer lokalen Optikusneuropathie ist verlassen worden zugunsten einer systemischen Neurodegeneration, deren Ursprung in einer primären Mitochondriopathie mit nachfolgender Neuroinflammation liegt. Neben der traditionellen Augeninnendrucksenkung in den individualisierten Zieldruckbereich müssen in Zukunft die therapeutischen Behandlungskonzepte sehr viel breiter realisiert werden. Gerade im Verständnis zum Inflamm-Aging und der damit erhöhten Empfindlichkeit des Gewebes gegenüber dem intraokulären Druck ist es wenig nachvollziehbar, dass die European Glaucoma Society die intensive Augendrucksenkung bei älteren POWG-Patienten nicht empfiehlt [145], wo doch genau diese Patienten am meisten bei einem erhöhten Augeninnendruck Schaden nehmen. Das hohe Alter der Senioren ist kein Grund für eine eingeschränkte Behandlungsintensität, da im Einzelfall nicht vorhergesagt werden kann, wie lange die individuelle Lebenserwartung ist.

In Zukunft ist es von essenzieller Bedeutung, ein personalisiertes holistisches Therapiekonzept für jeden einzelnen POWG-Patienten zu erstellen, um der komplexen Pathogenese der generalisierten Neurodegeneration gerecht zu werden. Hierzu ist es unbedingt erforderlich, das soziale Umfeld, wie Lebenspartner, Familienangehörige und Freunde miteinzubeziehen.

Fazit

Bereits bekannt:

  • Erhöhtes Alter ist ein Risikofaktor für das POWG.

  • Das Älterwerden ist ein sehr komplexer Prozess.

  • Bekannte Maßnahmen zur Verlangsamung des Alterns sind eine optimale Therapieeinstellung der vorliegenden Systemerkrankungen sowie physische und mentale Aktivität.

Neu beschrieben:

  • Das POWG zählt zu den neurodegenerativen Erkrankungen.

  • Das Altern führt zu einer chronischen subklinischen Entzündung (Inflamm-Aging).

  • Neue Schwerpunkte zur Verlangsamung des Alterns sind eine Einhaltung von chronobiologischen Abläufen und die Aufrechterhaltung eines gesunden enteralen Mikrobioms.



Interessenkonflikt

Erb: Beratung von AbbVie, Santen und OmniVision. Vorträge bei AbbVie, Thea, Santen, Ursapharm.
Die übrigen Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse/Correspondence

Prof. Carl Erb
Augenklinik am Wittenbergplatz
Kleiststraße 23–26
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Deutschland   
Phone: + 49 (0) 3 02 36 08 87 90   
Fax: + 49 (0) 30 30 23 60 88 79   

Publication History

Received: 17 December 2023

Accepted: 19 July 2024

Article published online:
27 August 2024

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