Sprache · Stimme · Gehör 2025; 49(02): 87
DOI: 10.1055/a-2489-7099
Interview

Was hat phonologische Bewusstheit mit phonologischen Wortformen zu tun?

Interview mit Prof. Sylvia Costard, Professorin für Logopädie an der Hochschule Bochum
Carola Schnitzler
Zur Person

Frau Prof. Sylvia Costard war nach dem Studium an den Universitäten Köln und Gießen als wissenschaftliche Mitarbeiterin/Assistentin am Universitätsklinikum der RWTH Aachen und den Universitäten Gießen und Köln tätig. Seit Oktober 2010 ist sie Professorin an der Hochschule Bochum im Studienbereich Logopädie mit dem Schwerpunkt „Kindliche Sprach-, Sprech- und Schriftsprachstörungen“.

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Unter phonologischer Bewusstheit versteht man den bewussten Zugriff auf die lautlichen Einheiten einer phonologischen Wortform. Was ist eine phonologische Wortform bzw. eine phonologische Repräsentation?

Eine phonologische Wortform ist unsere abstrakte Vorstellung von der Lautseite eines Wortes, mit der wir auf die Bedeutung des Wortes verweisen. Die phonologische Repräsentation umfasst gemäß Claessen et al. [1] das im mentalen Lexikon kodierte Wissen zu einer phonologischen Wortform.

Wie sehen frühe kindliche Wortformen aus?

Kinder produzieren mit ca. 12 Monaten erste Wörter. Die frühen Wortformen haben eine einfache Struktur, vermutlich u. a. da durch das unausgereifte phonologische Arbeitsgedächtnis nicht alle im Input angebotenen Laute gleichzeitig erfasst und gespeichert werden können. Auch lässt die noch unausgereifte motorische Kontrolle anfangs nur recht globale Artikulationsbewegungen zu. Gleichzeitig sind frühe Wortformen aber auch akkurat, denn sie sind systematisch entlang prägnanter Merkmale wie Wortanfang, -ende und -prosodie aufgebaut.

Und wie entwickeln sich phonologische Repräsentationen?

Die phonologischen Repräsentationen sind anfangs vermutlich als holistische Einheiten organisiert, spiegeln also zunächst die Wortform grob wider, noch ohne Details auf Lautebene. Der Wortschatzzuwachs erfordert dann graduell immer kleinere interne Einheiten bis hin zu Phonemen. Das führt im mentalen Lexikon zu ständigen Restrukturierungsprozessen. Die phonologische Bewusstheit für Phoneme entwickelt sich allerdings im Wesentlichen erst mit dem Schriftspracherwerb.

Welche Rückschlüsse lassen Fähigkeiten zur phonologischen Bewusstheit über phonologische Repräsentationen zu?

Die stabile, akkurate und in Phonemen organisierte phonologische Repräsentation scheint eine wichtige Basis für den bewussten Umgang mit Phonemen im Schriftspracherwerb zu sein. Einschränkungen in der phonologischen Bewusstheit können auf Probleme in der Organisation oder Stabilität phonologischer Repräsentationen weisen.

Inwieweit sind phonologische Repräsentationen beim Lese- und Rechtschreiberwerb relevant?

In unserem Schriftsystem ist die phonologische Wortform der Dreh- und Angelpunkt, denn die Schreibung eines Wortes ist sehr stark an der Phonemsequenz seiner Lautform orientiert. Der Schriftspracherwerb erfordert und führt gleichzeitig dazu, dass Kinder sich über die Phoneme bewusst werden. Damit stellt der Erwerb basaler schriftsprachlicher Kompetenzen am Schulanfang hohe Anforderungen an die phonologische Sprachverarbeitung. „Wohlgeformte“ phonologische Wortformen sind hierfür eine wichtige Grundlage. Die Beschäftigung mit Schrift kann umgekehrt aber auch Präzisierungen und Änderungen in phonologischen Repräsentationen auslösen. Hier haben wir es also mit einem Wechselspiel zu tun.

Was bedeutet das für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen, also SES?

Es gibt eine Reihe von Hinweisen darauf, dass viele Kinder mit SES eine geringere Qualität in ihren phonologischen Repräsentationen aufweisen als sprachunauffällige Kinder. Dies gilt auch für Kinder mit SES im Vorschulalter, die vor der Einschulung eine logopädische bzw. Sprachtherapie symptomfrei abgeschlossen haben. Bei nicht altersentsprechenden oder defizitären phonologischen Repräsentationen besteht ein erhöhtes Risiko, die oben erwähnten Anforderungen beim Schriftspracherwerb nicht ohne Weiteres bewältigen zu können und eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung auszubilden. Damit diese Kinder nicht von Anfang an im Schulsystem benachteiligt sind, müssen aus meiner Sicht Logopäd*innen und Sprachtherapeut*innen viel enger in den Übergang vom Vorschul- zum Schulbereich eingebunden werden als bisher.

Das Interview führte Dr. Carola Schnitzler.



Publication History

Article published online:
04 June 2025

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  • Literatur

  • 1 Claessen M, Heath S, Fletcher J. et al. Quality of phonological representations: a window into the lexicon?. International Journal of Communication Disorders 2009; 44: 121-144