Sprache · Stimme · Gehör 2025; 49(03): 134
DOI: 10.1055/a-2516-7604
Interview

Morphologie und Syntax bei Sprachentwicklungsstörungen: Ein wichtiges Themenfeld in der Logopädie

Interview mit Dietlinde Schrey-Dern
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Zur Person

Dietlinde Schrey-Dern war vor ihrer Pensionierung Gymnasiallehrerin sowie langjährig Lehrlogopädin für Sprachstörungen bei Kindern an der Lehranstalt für Logopädie der RWTH Aachen und Lehrbeauftragte im dortigen Studiengang „Lehr- und Forschungslogopädie“. Außerdem hatte sie zahlreiche berufs- und verbandspolitische Positionen und Funktionen inne unter anderem als Präsidentin des DBL, Delegierte beim CPLOL. Gegenwärtig ist sie Sprecherin des Arbeitskreises Berufsgesetz.

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Sie haben in den 1980er-Jahren Ihre Ausbildung als Logopädin in Aachen absolviert? Welche Diagnostikinstrumente wurden damals zur Feststellung von morpho-syntaktischen Störungen verwendet?

Damals wurden zur Diagnose von morpho-syntaktischen Störungen der HSET und die Remmler-Nachsprechprobe eingesetzt. Der HSET überprüfte die grammatische Kompetenz der Kinder durch das Nachsprechen von Sätzen. Dies galt auch für die Remmler-Nachsprechprobe aus der DDR von Ruth Becker. Beide Instrumente orientierten sich an der Zielgrammatik der Erwachsenensprache, um den Schweregrad der grammatischen Störung einzuschätzen. Zum Beispiel wurde ein Agrammatismus 3. Grades diagnostiziert, wenn das Kind den Satz „Der Vogel fliegt“ als „das Vogel“ nachsagte.

Und wie sah dann die Therapie aus?

Bei fehlerhaftem Artikelgebrauch wie in dem Beispiel sollte das Kind Bildkarten den durch Symbole gekennzeichneten Artikeln zuordnen. Zur Behandlung fehlender Prädikate wurde die „Signalmethode nach Freundthaler“ aus den 1930er Jahren verwendet, die auf dem Zuordnen von Satzteilen zu Symbolen basierte. Beide Ansätze waren ineffektiv. Es gab eine gewisse Ratlosigkeit in Bezug auf die Behandlung grammatischer Probleme bei Kindern, allgemein wurde empfohlen, durch Vorsprechen korrekter Strukturen die Probleme anzugehen.

Wie war denn die Logopädie-Ausbildung damals im Hinblick auf morpho-syntaktische Störungen?

In den 1980er Jahren hatte ich das Glück, in Aachen von Luise Springer ausgebildet zu werden. Hier wurden uns neueste Erkenntnisse der Psycholinguistik von Harald Clahsen präsentiert, darunter seine Forschungsergebnisse zum Ablauf des kindlichen Spracherwerbs und die Profilanalyse als Analyseinstrument, das er in Anlehnung an LARSP entwickelt hatte.
Mit der Profilanalyse leitete sich im deutschen Sprachraum ein Paradigmenwechsel ein. Statt der Zielgrammatik wurde nun der Verlauf der kindlichen Sprachentwicklung in charakteristischen Phasen zur Einschätzung des Sprachentwicklungsstandes herangezogen. Dies markierte einen Quantensprung, psycholinguistische Erkenntnisse bildeten auf einmal die Grundlage für therapeutisches Handeln.
Die Verzögerung dieses Wandels in Deutschland, es dauerte ca. 10 –15 Jahre, könnte mit dem Berufsfachschulstatus zusammenhängen. In Großbritannien war der Beruf von Anfang an auf Hochschulebene angesiedelt, was eine enge Zusammenarbeit mit Grundlagenwissenschaften ermöglicht.
Heute wird immer noch der Begriff Dysgrammatismus verwendet, anstelle der linguistischen Bezeichnung morpho-syntaktische Störung, obwohl Begriffe wie phonetisch-phonologische Störung und semantisch-lexikalische Störung bereits etabliert sind.

Was ist Ihres Erachtens wichtig für die weitere Entwicklung im Bereich morpho-syntaktischer Störungen bei Kindern?

Eine zentrale Forschungsstelle zur Erhebung und Analyse von Sprachentwicklungsdaten des Deutschen könnte Forschenden im Bereich Logopädie/Sprachtherapie sowie Therapeut*innen wertvolle Informationen liefern.
Die Etablierung von Therapieforschung an Hochschulen ist entscheidend für die Weiterentwicklung des Fachbereichs Logopädie/Sprachtherapie. Untersuchungen zur Effektivität von Therapieansätzen, Intensität, Dauer, Therapiepausen und Indikatoren für ein Therapieende sind wichtig. Eine Öffnung der DFG für Projekte im Bereich der Therapieforschung wäre sehr wünschenswert.
Nur ein neues Berufsgesetz mit hochschulischer Ausbildung garantiert die wissenschaftlich fundierte Weiterentwicklung der Logopädie und ermöglicht eine gleichberechtigte interprofessionelle Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen.

Das Interview führte Prof. Jürgen Cholewa



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Article published online:
29 August 2025

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