Open Access
CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2025; 87(08/09): 524-530
DOI: 10.1055/a-2525-2794
Originalarbeit

INVADE: Ein hausärztliches Langzeitpräventionsprogramm zum Erhalt der Hirngesundheit. Ergebnisse aus den Jahren 2013–2020

INVADE: a real-life primary care long-term intervention program for brain health – results from 2013 to 2020
Horst Bickel
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München, München, Germany
,
Bernhard Nimmrichter
2   Institut für Versorgungsforschung, INVADE, Baldham, Germany
,
Klaus Pürner
2   Institut für Versorgungsforschung, INVADE, Baldham, Germany
,
Dirk Sander
3   Klinik für Neurologie, Neurologische Frührehabilitation und Weiterführende Rehabilitation, Benedictus Krankenhaus Tutzing und Feldafing, Tutzing, Germany
,
Hans Förstl
4   Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München, München, Germany
› Institutsangaben
 

Zusammenfassung

Einleitung

Das hausärztliche Präventionsprogramm INVADE (INterventionsprojekt VAskuläre Hirnerkrankungen und Demenz im Landkreis Ebersberg) soll Schlaganfällen und Demenzen durch systematische Detektion und evidenzbasierte Behandlung von modifizierbaren vaskulären Risikofaktoren vorbeugen. Berichtet wird über die Ergebnisse einer achtjährigen Evaluationsphase.

Methoden

Längsschnittstudie mit nicht-randomisierter Kontrollgruppe. Den über 50-jährigen AOK-Versicherten aus dem Kreis Ebersberg/Obb. wurde die Teilnahme an INVADE angeboten. Als Kontrollgruppe dienten die gleichaltrigen AOK-Versicherten aus dem Kreis Dachau. Primäre klinische Endpunkte (Mortalität und Pflegebedürftigkeit) und sekundäre Endpunkte (stationäre Behandlungen aufgrund zerebrovaskulärer Erkrankungen) beruhten auf Routinedaten der AOK. Die Auswertungen erfolgten nach dem Prinzip „intention to treat“.

Ergebnisse

Die Interventionsgruppe (n=10.663) bestand zu 39,7% aus Versicherten, die sich in das Programm eingeschrieben hatten. Im Vergleich mit der Kontrollgruppe (n=13.225) ergaben sich signifikante Vorteile. Die Mortalität war um 6%, die Inzidenz der Pflegebedürftigkeit um 10% und die Prävalenz der Pflegebedürftigkeit um 18,6% vermindert. In acht Jahren traten etwa 190 Sterbefälle und 260 neue Fälle von Pflegebedürftigkeit weniger auf als erwartet. Die Prävalenz sank um 1.600 Pflegejahre. Krankenhausbehandlungen aufgrund zerebrovaskulärer Erkrankungen differierten nicht.

Schlussfolgerung

Die Resultate sprechen dafür, dass ein auf die Kontrolle vaskulärer Risikofaktoren ausgerichtetes hausärztliches Präventionsangebot zur Reduktion von Pflegebedürftigkeit und zur Erhöhung der Lebenserwartung beitragen könnte.


Abstract

Background

The primary care prevention program INVADE (INtervention project on VAscular brain diseases and Dementia in the district of Ebersberg) is intended to prevent stroke and dementia through systematic detection and evidence-based treatment of modifiable vascular risk factors. The study reports on the results of an eight-year evaluation phase.

Methods

Longitudinal study with non-randomized control group. AOK-insured patients over the age of 50 from the Bavarian district of Ebersberg were invited to participate in the project. The control group consisted of AOK-insured individuals of the same age-group from the district of Dachau. Primary clinical endpoints (mortality and long-term care dependency) and secondary endpoints (inpatient treatment due to cerebrovascular diseases) were based on the administrative data from the AOK. Analyses were carried out according to the principle “intention to treat”.

Results

The intervention group (n=10,663) included 39.7% of insured persons who had enrolled in the program. Significant advantages were observed in the intervention group compared to the control group (n=13,225). Mortality was reduced by 6%, the incidence of long-term care by 10% and the prevalence of long-term care by 18.6%. There were about 190 fewer deaths and 260 fewer new cases of long-term care dependency than expected over a period of eight years. The prevalence of care dependency decreased by 1,600 years. The frequency of hospital treatment for cerebrovascular diseases, however, did not differ between the groups.

Conclusion

Our results suggest that a real-life practice-based prevention program aimed at better control of vascular risk factors can possibly contribute to a reduction of care dependency and an increase in life expectancy.


Einleitung

Mit der Alterung der Bevölkerung ist eine starke Zunahme von zerebrovaskulären und dementiellen Erkrankungen verbunden [1] [2]. In Deutschland wurden laut Krankenhausstatistik in den letzten Jahren durchschnittlich rund 100.000 Patienten per annum aufgrund von transitorischen ischämischen Attacken und 250 000 aufgrund von Schlaganfällen stationär behandelt [3]. Nach epidemiologischen Schätzungen kommt es jährlich zu mehr als 400 000 Neuerkrankungen an Demenz, die Prävalenz wird mit 1,8 Mio. Patienten beziffert [4]. Schlaganfälle und Demenzen zählen nicht nur zu den führenden Todesursachen im Alter, sondern auch zu den Hauptursachen für den Eintritt von Pflegebedürftigkeit und die Inanspruchnahme von Pflegeheimen [5] [6].

Das Potential zur Prävention von Hirnerkrankungen ist derzeit noch ungenügend ausgeschöpft. Nach gegenwärtiger Kenntnis könnten sich durch die vollständige Elimination modifizierbarer Risikofaktoren potentiell bis zu 40% der Demenzen [7] und mehr als 60% der Schlaganfälle vermeiden lassen [6]. Vor allem vaskuläre Risikofaktoren wie Hypertonie, Dyslipidämie, Diabetes mellitus und ein ungesunder Lebensstil spielen eine entscheidende Rolle [8] [9]. Sie sind sowohl am Auftreten von Demenzen als auch von Schlaganfällen beteiligt [2] [10] [11] [12] [13]. Dass ihre Bekämpfung präventiv wirksam sein könnte, wurde bislang jedoch vor allem aus Beobachtungsstudien erschlossen und nur ansatzweise durch Interventionsstudien bestätigt. Wir berichten im Folgenden über ein in die medizinische Grundversorgung eingebettetes Präventionsvorhaben, das über einen langen Zeitraum begleitet wurde (INVADE: INterventionsprojekt VAskuläre Hirnerkrankungen und Demenz im Landkreis Ebersberg).

Konzipiert wurde INVADE als Modellprojekt der AOK Bayern. Leitgedanke war es, Hirnerkrankungen durch die systematische Detektion von Risikofaktoren und ihre konsequente Behandlung im Rahmen der hausärztlichen Betreuung vorzubeugen. Die achtjährige Modellphase zeigte vielversprechende Resultate [14]. Schon bald nach Beginn konnte eine signifikante Verringerung sämtlicher objektiv messbaren Risikofaktoren nachgewiesen werden. Darüber hinaus gingen Pflegebedürftigkeit und Mortalität, die als Hauptkriterien der Präventionswirkung dienten, in erheblichem Maße zurück.

Der Erfolg des Vorhabens führte dazu, dass INVADE als Projekt der Integrierten Versorgung fortgeführt wurde. Aus dieser Folgephase liegen inzwischen Daten über weitere 8 Jahre vor. Die vorliegende Arbeit prüft, ob die Wirkungen des Präventionsprogramms langfristig Bestand hatten und sich die ursprünglich beobachteten Effekte auch bei einer Verstetigung der Interventionsmaßnahmen zeigten.


Methoden

In das Präventionsprogramm können sich Versicherte der AOK Bayern einschreiben, sofern sie mindestens 50 Jahre alt sind und ihren Wohnsitz im Landkreis Ebersberg (Oberbayern) haben. Auf das Programm wird durch die Hausärzte, Aushänge in den Praxen, Zeitungsanzeigen, Gesundheitsveranstaltungen und Anschreiben der Krankenkasse hingewiesen. Interessenten werden ausführlich über Ziele und Inhalte des Vorhabens unterrichtet und geben bei Teilnahme ihre schriftliche Zustimmung.

Als Prüfdesign wurde eine Längsschnittstudie mit nicht-randomisierter Kontrollgruppe gewählt. Die Interventionsgruppe bestand aus den AOK-Versicherten im Kreis Ebersberg (EBE), die Anfang 2009 im Alter von 50 Jahren und mehr waren und denen aufgrund dessen die Teilnahme an INVADE offenstand. Die Kontrollgruppe wurde von der Gesamtheit der über 50-jährigen AOK-Versicherten gebildet, die im Landkreis Dachau (DAC) wohnten und lediglich die übliche hausärztliche Versorgung in Anspruch nehmen konnten.

DAC war vor Beginn von INVADE aufgrund von Lage, gleichen Morbiditätsverhältnissen und struktureller Ähnlichkeit mit EBE als Vergleichslandkreis ausgewählt worden. Beide Kreise liegen in der Nachbarschaft von München, besitzen aber keine gemeinsamen Grenzen, sondern sind durch die Stadt München voneinander getrennt, so dass eine allgemeinmedizinische Versorgung im jeweils anderen Landkreis unwahrscheinlich ist. Mit 267 bzw. 272 Einwohnern/qkm ist die Bevölkerungsdichte gleich hoch. Zum Ausschluss initialer Morbiditätsunterschiede zwischen den Landkreisen wurde geprüft, ob die primären klinischen Endpunkte voneinander abwichen. Dabei zeigte sich, dass weder im vor Projektbeginn liegenden Jahr 2000, noch in der Rekrutierungsphase von 2001 bis 2003 signifikante Differenzen in Mortalität und Pflegebedürftigkeit bestanden hatten.

Präventionsprogramm

INVADE ist ein hausärztliches Präventionsprojekt mit dem Ziel, das Auftreten schwerwiegender Hirnerkrankungen zu vermindern und damit der Entstehung von Pflegebedürftigkeit und vorzeitigem Tod vorzubeugen. Dies geschieht durch standardisierte Erkennung von kardiovaskulären Risikofaktoren und ihre evidenzbasierte Behandlung. Die Teilnehmer geben Auskunft über soziodemografische Merkmale, gesundheitlichen Zustand und medizinische Versorgung. Die Hausärzte dokumentieren Krankheitsvorgeschichte, aktuelle Erkrankungen und Medikation. Sie berichten über Rauch- und Trinkgewohnheiten, das Ausmaß körperlicher Aktivität, Beeinträchtigungen in den Alltagsaktivitäten und führen einen Kurztest zur Prüfung kognitiver Leistungen durch. Die weiteren Untersuchungen schließen die Messung von Körpergröße und Gewicht, ein 12-Kanal-EKG, eine Blutdruckmessung und die Bestimmung des „Ankle-Brachial-Index“ als Indikator einer peripheren arteriellen Durchblutungsstörung ein. Aus Nüchternblut werden in einem Zentrallabor Serumlipide, Serumglukose, HbA1c, Kreatinin und C-reaktives Protein bestimmt. Zertifizierte Ärzte führen eine farbcodierte Duplexsonografie der Halsgefäße durch.

In jedem Folgequartal berichten die Hausärzte anhand eines hochstrukturierten Dokumentationsbogens über Behandlung und gesundheitlichen Zustand der Teilnehmer. Nach jeweils zwei Jahren wird das vollständige Untersuchungsprogramm wiederholt. Die Daten aus allen Quellen werden an INVADE übermittelt, dort geprüft, zusammengeführt und dem Hausarzt als Risikoprofil des Patienten mit Verweis auf die Behandlungsziele und die maßgeblichen Behandlungsleitlinien rückgemeldet.

Interventionsschwerpunkte bestehen in der Behandlung von Hypertonie, Diabetes mellitus, Dyslipidämien, Vorhofflimmern und depressiven Störungen. Bei Übergewicht, Substanzmissbrauch, ungenügender körperlicher Aktivität und Ernährungsmängeln wird ärztlicherseits und unter Einbezug der Beratungsstellen der AOK auf Lebensstiländerungen hingewirkt. In jeder Praxis ist die Mitarbeit einer eigens zu diesem Zweck ausgebildeten und zertifizierten Präventionsassistentin verpflichtend. Die Assistentinnen haben die Aufgabe, den Patienten Wissen über ihre Gesundheitsrisiken zu vermitteln und sie in das Monitoring einzubinden, um damit die Adhärenz zu verbessern und die Einsicht in die empfohlenen Lebensstiländerungen zu fördern.

Vor und während antihypertensiver Behandlung wird ein ambulantes Blutdruck-Monitoring (ABDM) vorgenommen. Patienten werden zur Eigenmessung des Blutdrucks angeleitet, von den Assistentinnen in der Kontrolle unterstützt und ggfs. im Hypertoniezentrum des Kreiskrankenhauses vorgestellt.


Klinische Endpunkte

Als primäre klinische Endpunkte dienen die Mortalität und die Inzidenz von Pflegebedürftigkeit nach SGB XI. Hirnerkrankungen zählen zu den häufigsten Todesursachen und sind für den größten Teil der Pflegebedürftigkeit im höheren Lebensalter verantwortlich. Wenn es gelingt, die Entstehung von Schlaganfällen und Demenzen durch Präventionsmaßnahmen zu verhindern, sollte das in einer Senkung der Sterberate und insbesondere in einem Rückgang neuer Fälle von Pflegebedürftigkeit sichtbar werden. Beide Endpunkte liegen vollständig für alle Versicherten vor. Zusätzlich wurden die Effekte von INVADE auf den Bestand (Prävalenz) an Pflegebedürftigen analysiert, der entscheidenden Größe für gesellschaftliche und ökonomische Belastungen durch den Pflegebedarf.

Stationäre Behandlungen von zerebrovaskulären Erkrankungen dienten als sekundäre klinische Endpunkte. Nach der ICD-10-Entlassungsdiagnose wurden die drei Endpunkte „Transitorische ischämische Attacke (G45)“, „Intrazerebrale Blutung (I61, I62)“ und „Hirninfarkt (I63)“ gebildet. Da sie nur in Ausnahmefällen zur Klinikeinweisung führen, stand für die Demenzerkrankungen ein vergleichbares Kriterium nicht zur Verfügung.

Sämtliche Endpunkte beruhen auf Routinedaten der AOK, die in anonymer Form für die im Jahr 1958 oder früher geborenen Versicherten der beiden Landkreise vorlagen. Neben Alter und Geschlecht beinhalten sie Daten zu Häufigkeit, Dauer, Kosten und Gründen einer stationären Behandlung, zum Beginn und Verlauf der Pflegebedürftigkeit sowie zur Versicherungsdauer und ggfs. zu den Gründen eines Versicherungsendes (z. B. durch Tod).


Statistische Analyse

Die Effekte von INVADE wurden am Vergleich der AOK-Versicherten aus EBE und DAC bemessen. Die Analysen folgten dem Prinzip des „intention to treat“, d. h. die Versicherten aus EBE wurden ungeachtet dessen, ob sie an INVADE teilgenommen hatten oder nicht, mit den Versicherten aus DAC verglichen. Um Verfälschungen des Outcomes durch unterschiedlich starke Migration zu vermeiden, wurden die Versichertenkollektive aus den beiden Landkreisen zum 01.01.2013 „eingefroren“. Wer Anfang 2013 in EBE wohnte, zählte für die Evaluation auch bei einem späteren Wohnortwechsel zur Interventionsgruppe. Gleichaltrige, die Anfang 2013 ihren Wohnsitz in DAC hatten, bildeten die Kontrollgruppe.

Für die statistischen Analysen wurde das Programmpaket SPSS für Windows, Version 28.0, verwendet. Als Signifikanzgrenze wurde ein p<0,05 festgelegt.

Die primären Endpunkte Mortalität und inzidente Pflegebedürftigkeit wurden mittels multivariabler Cox-Regressionen unter Adjustierung für Alter und Geschlecht analysiert. Als inzidente Pflegebedürftigkeit galt die erstmalige Zuerkennung einer Pflegestufe von I bis III bzw. eines Pflegegrades zwischen 1 und 5 ohne weitere Differenzierung nach dem Schweregrad.

Die Prävalenz der Pflegebedürftigkeit ergab sich als Quotient aus Pflegetagen und Versicherungstagen zwischen 2013 und 2020. Die Pflegetage wurden im allgemeinen linearen Modell als Randmittel unter statistischer Kontrolle von Alter, Geschlecht und Versicherungstagen unter Beobachtung berechnet.

Für den Vergleich der sekundären Endpunkte wurden logistische Regressionsmodelle verwendet. Unterschiede in Dauer und Kosten der Behandlungen wurden mittels Kovarianzanalysen analysiert, Unterschiede in der Anzahl der Einweisungen mithilfe von Poisson-Regressionen.



Ergebnisse

Anfang 2013 gab es in EBE 10.633 AOK-Versicherte der Geburtsjahrgänge 1958 oder früher, in DAC belief sich die Zahl auf 13.225. Die beiden Gruppen standen mehr als 161.000 Personenjahre unter Beobachtung (72.214 Jahre in EBE, 89.113 Jahre in DAC). Für 96,9% der Versicherten liegen die Evaluationsdaten lückenlos vor. Rechtszensierte oder unterbrochene Versicherungsverläufe gab es bei lediglich 3,1% der Versicherten.

Die Vergleichsgruppen unterschieden sich signifikant nach Alter und Geschlecht voneinander. In EBE lag das Durchschnittsalter mit 70,64 Jahren (SD=9,99) um fast sechs Monate über dem mittleren Alter von 70,15 Jahren (SD=9,95) in DAC (p<0,001). Mit 43,0% übertraf der Männeranteil in EBE den Männeranteil von 41,6% in DAC (p<0,05).

Von den 10.633 Versicherten aus EBE hatten sich 4.230 Personen in den Jahren 2009 bis 2012 in das Präventionsprogramm eingeschrieben. Der Anteil der aktiv an INVADE beteiligten Versicherten betrug 39,7% (37,4% der Männer und 41,4% der Frauen). Die Interventionsgruppe bestand damit mehrheitlich aus Personen, die sich nicht formal für das Vorhaben registriert hatten.

Zwischen 2013 und 2020 starben 6.538 Versicherte ([Tab. 1]). Nach Adjustierung für Alter und Geschlecht ergab sich für EBE ein signifikant um 6% vermindertes Sterberisiko. In Subgruppen mit geringer Zahl von Sterbefällen wurde das 5-%-Signifikanzniveau zwar nicht erreicht, das Sterberisiko war jedoch sowohl bei Männern und Frauen als auch bei den jüngeren und den älteren Versicherten numerisch in gleichem Maße gesenkt. Die Reduktion um 6% bedeutet, dass sich pro Jahr knapp 25 Sterbefälle weniger ereigneten, als nach der Sterblichkeit in der Kontrollgruppe zu erwarten war.

Tab. 1 Unterschiede zwischen Interventionsgruppe (EBE) und Kontrollgruppe (DAC) im primären. Endpunkt Mortalität

Versichertengruppe

EBE (n=10.663) Sterbefälle

DAC (n=13.225) Sterbefälle

Hazard Ratioa (95-%-Konfidenzintervall)

p-Wert

Frauen (n=13.801)

1.614 (26,6%)

1.983 (25,7%)

0,93 (0,87–0,99)

0,033

Männer (n=10.087)

1.321 (28,8%)

1.620 (29,5%)

0,94 (0,88–1,02)

0,123

Alter<75 Jahre (n=15.995)

950 (13,6%)

1.248 (13,9%)

0,94 (0,86–1,02)

0,153

Alter≥75 (n=7.893)

1.995 (54,3%)

2.355 (55,6%)

0,94 (0,88–0,99)

0,032

Alle Versicherten Jahrgang 1958 und früher (n=23.888)

2.935 (27,5%)

3.603 (27,2%)

0,94 (0,90–0,99)

0,013

a Hazard Ratio (HR) für EBE nach Adjustierung für Alter und Geschlecht; DAC bildet die Referenzgruppe

Neue Fälle von Pflegebedürftigkeit waren insgesamt und in allen Subgruppen signifikant seltener in EBE als in DAC ([Tab. 2]). Die Reduktion im Pflegerisiko fiel stärker aus als die Mortalitätsreduktion. Die Verminderung um 10% entspricht einer pro Jahr um mehr als 30 Fälle geringeren Inzidenz.

Tab. 2 Unterschiede zwischen Interventionsgruppe (EBE) und Kontrollgruppe (DAC) im primären Endpunkt inzidente Pflegebedürftigkeit

Versichertengruppea

EBE (n=9.637) Inzidente Pflegefälle

DAC (n=11.934) Inzidente Pflegefälle

Hazard Ratiob (95-%-Konfidenzintervall)

p-Wert

Frauen (n=12.288)

1.418 (26,2%)

1.794 (26,1%)

0,90 (0,84–0,96)

0,002

Männer (n=9.238)

913 (21,7%)

1.144 (22,6%)

0,91 (0,83–0,99)

0,025

Alter<75 Jahre (n=15.357)

821 (12,2%)

1.130 (13,1%)

0,89 (0,81–0,97)

0,011

Alter≥75 (n=6.213)

1.510 (51,9%)

1.808 (54,7%)

0,91 (0,85–0,97)

0,004

Alle Versicherten Jahrgang 1958 und früher (n=21.571)

2.331 (24,2%)

2.938 (24,6%)

0,90 (0,85–0,95)

<0,001

a Unter Ausschluss der initial bereits Pflegebedürftigen (n=2.317). b Hazard Ratio (HR) für EBE nach Adjustierung für Alter und Geschlecht; DAC bildet die Referenzgruppe

Noch deutlicher als bei der Inzidenz fielen die Unterschiede in der Prävalenz der Pflegebedürftigkeit aus ([Tab. 3]). Adjustiert für Alter, Geschlecht und Risikozeitraum errechnete sich für EBE in den Jahren von 2013 bis 2020 pro Kopf eine durchschnittliche Zahl von 240,4 Tagen, an denen Pflegebedürftigkeit bestanden hatte. In der Vergleichsgruppe aus DAC betrug die mittlere Zahl der Pflegetage hingegen 295,5. Für beide Geschlechter und in beiden Altersgruppen unterschied sich die Pflegedauer in EBE und DAC hochsignifikant voneinander. Der um 55,1 Tage verringerte Pflegebedarf (-18,6%) ergibt über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg eine Reduktion um 1.600 Pflegejahre.

Tab. 3 Unterschiede zwischen Interventionsgruppe (EBE) und Kontrollgruppe (DAC) in der Prävalenz von Pflegebedürftigkeit während der Jahre 2013–2020

Versichertengruppe

Prävalenzrate (%) a EBE

Prävalenzrate (%) a DAC

p-Wert

(Mittlere Zahl der Pflegetage pro Versicherten in den Jahren 2013–2020)

Frauen (n=13.801)

10,9% (271,4)

13,7% (339,9)

<0,001

Männer (n=10.087)

8,3% (202,5)

9,9% (242,5)

<0,001

Alter<75 Jahre (n=15.995)

4,8% (129,0)

6,3% (167,9)

<0,001

Alter≥75 (n=7.893)

22,1% (454,7)

26,7% (549,2)

<0,001

Alle Versicherten Jahrgang 1958 und früher (n=23.888)

9,7% (240,4)

12,0% (295,5)

<0,001

a Prävalenzrate berechnet als Quotient aus der Zahl der Pflegetage dividiert durch die Zahl der Tage mit Krankenversicherung in den Jahren 2013 bis 2020

[Tab. 4] stellt die Unterschiede im sekundären Endpunkt einer stationären Behandlung wegen zerebrovaskulärer Erkrankung dar. Die Odds Ratios für sämtliche klinischen Endpunkte zeigen zwar mit 0,93 bis 0,96 eine ähnliche Verringerung wie die der Mortalität an, statistisch sichern lässt sich diese Risikoreduktion jedoch nicht.

Tab. 4 Unterschiede zwischen Interventionsgruppe (EBE) und Kontrollgruppe (DAC) in den sekundären Endpunkten einer inzidenten stationären Behandlung mit Diagnose einer zerebrovaskulären Erkrankung

Klinischer Endpunkt (ICD-10-Code)

EBE (n=10.663) Fallzahl (%)

DAC (n=13.225) Fallzahl (%)

Odds Ratioa (95-%-Konfidenzintervall)

p-Wert

Transitorische ischämische Attacke – TIA (G45)

335 (3,1%)

418 (3,2%)

0,96 (0,83–1,11)

0,600

Intrazerebrale Blutung (I60)

116 (1,1%)

151 (1,1%)

0,93 (0,73–1,19)

0,564

Hirninfarkt (I61, I62)

617 (5,8%)

777 (5,9%)

0,95 (0,85–1,06)

0,390

Mindestens einer der drei Endpunkte (G45, I60-I62)

988 (9,3%)

1.243 (9,4%)

0,95 (0,87–1,04)

0,276

a Odds Ratio (OR) für EBE adjustiert für Alter, Geschlecht und Versicherungszeit in den Jahren 2013–2020; DAC bildet die Referenzgruppe

In der Anzahl der stationären Aufnahmen gab es ebenfalls keine Unterschiede ([Tab. 5]). Auf 100 Versicherte kamen in acht Jahren in EBE 11,6 und in DAC 11,4 Behandlungen mit der Entlassungsdiagnose „Hirninfarkt“, „intrazerebrale Blutung“ oder „transitorische ischämische Attacke“. Die Interventionsgruppe wurde jedoch insgesamt signifikant häufiger stationär behandelt als die Kontrollgruppe. Auf 100 Versicherte aus EBE entfielen 331,8 stationäre Aufenthalte, auf 100 Versicherte aus DAC nur 311,9. Außerdem lagen die Gesamtverweilzeiten der Versicherten in EBE mit durchschnittlich 26,8 Tagen signifikant höher als die 25,1 Tage in DAC. Die Gesamtkosten von 16.550 € in EBE überstiegen die Kosten in DAC (16.120 €) dagegen in statistisch nur unbedeutendem Umfang.

Tab. 5 Unterschiede zwischen Interventionsgruppe (EBE) und Kontrollgruppe (DAC) in der Anzahl von stationären Behandlungen während der Jahre 2013–2020

Hauptdiagnose bei stationärer Behandlung (ICD-10-Code)

EBE

DAC

Exp(B) a (95-%-Konfidenzintervall)

p-Wert

Stationäre Behandlungen pro 100 Versicherte

Alle Diagnosen

331,8

311,9

1,064 (1,049–1,079)

<0,001

Transitorische ischämische Attacke (G45)

3,0

3,2

0,985 (0,861–1,127)

0,823

Intrazerebrale Blutung (I60)

1,5

1,4

1,019 (0,833–1,246)

0,855

Hirninfarkt (I61, I62)

6,8

6,5

1,044 (0,950–1,147)

0,371

Zerebrovaskuläre Erkrankungen (G45, I60 – I62)

11,6

11,4

1,023 (0,952–1,099)

0,536

aExp(B) für EBE (Poisson-Regression nach Adjustierung für Alter, Geschlecht und Versicherungszeit in den Jahren 2013–2020); DAC bildet die Referenzgruppe


Diskussion

Das hausärztliche Präventionsprogramm INVADE zielt darauf ab, Schlaganfällen und Demenzen durch die systematische Erfassung vaskulärer Risikofaktoren und ihre evidenzbasierte Behandlung vorzubeugen und damit Pflegebedürftigkeit und vorzeitigen Tod zu verhindern. Ob das Angebot zur Teilnahme, das sich an die über 50-jährigen AOK-Versicherten aus dem Landkreis Ebersberg richtet, zu sichtbaren Verbesserungen der gesundheitlichen Lage beigetragen hat, war Gegenstand einer auf Routinedaten der AOK basierenden Evaluation. Als Kontrollgruppe fungierten die AOK-Versicherten des Landkreises Dachau. Der Evaluationszeitraum erstreckte sich über acht Jahre von 2013 bis 2020. Die Datenanalyse erfolgte nach dem Prinzip „intention to treat“. Mortalität und Pflegebedürftigkeit bildeten die primären, die Inanspruchnahme stationärer Behandlungen die sekundären klinischen Endpunkte.

Mortalität und Pflegebedürftigkeit waren im Interventionslandkreis signifikant reduziert. Die Mortalität blieb um 6% unter der Erwartung, die neuen Fälle von Pflegebedürftigkeit traten um 10% seltener auf und die Zahl der Pflegetage fiel um 18,6% geringer aus. Die Unterschiede lagen bei Männern und Frauen sowie bei jüngeren und älteren Versicherten in gleicher Höhe. Bemessen an der Kontrollgruppe, traten im Evaluationszeitraum von 8 Jahren etwa 190 Sterbefälle und 260 neue Fälle von Pflegebedürftigkeit weniger auf als erwartet. Die verringerte Prävalenz entsprach in dieser Zeitspanne einer Reduktion um insgesamt rund 1.600 Pflegejahre.

In den sekundären Endpunkten spiegelten sich keine Vorteile der Intervention. Weder die Wahrscheinlichkeit, infolge einer zerebrovaskulären Erkrankung stationär behandelt werden zu müssen, noch die Anzahl der Einweisungen waren im Vergleich mit der Kontrollgruppe vermindert. Die Gesamtzahl der stationären Behandlungen, alle Anlässe zusammengenommen, war sogar leicht erhöht, ebenso die Gesamtverweildauer.

Die vorliegenden Evaluationsresultate von INVADE stimmen in hohem Maße mit den Ergebnissen aus der Modellprojektphase [14] überein. Die Mortalitätsminderung um 6% fiel zwar etwas geringer aus als die ursprüngliche Reduktion um 8,2%, ließ sich aber erneut statistisch sichern. Erstaunlich deutlich waren die Wirkungen auf die Pflegebedürftigkeit. Die Inzidenz war um 10% verringert und deckte sich mit dem früheren Resultat (-9,8%). Eine stark gewachsene Differenz war indessen bei der Prävalenz der Pflegebedürftigkeit zu beobachten. Während es in der Frühphase im Mittel 7,8% Pflegebedürftige weniger als erwartet waren, betrug der Unterschied nun 18,6%. Sollte sich dieser Effekt in unabhängigen Studien bestätigen lassen, versprächen Präventionsprogramme beträchtliche Entlastungen des Pflegesektors. Andere groß angelegte Studien [10] [15] fanden zwar ganz ähnliche Resultate wie wir in Bezug auf Endpunkte wie Mortalität und kardiovaskuläre Ereignisse, nach unserem Wissen existieren bisher aber keine vergleichbaren Projekte, die sich mit der Wirkung auf den Pflegebedarf beschäftigt hätten.

Vorteile der Studie sind in der langen Laufzeit, der umfangreichen Stichprobe aus der Allgemeinbevölkerung und der hohen Validität der Endpunkte, die auf projektunabhängigen Routinedaten der Kranken- und Pflegeversicherung beruhen, zu sehen.

Limitationen bestehen darin, dass sich direkte Wirkungen von Präventionsmaßnahmen auf die Demenzerkrankungen mangels eines geeigneten Endpunktes nicht prüfen lassen, sondern lediglich aus den Wirkungen auf das Proxy-Kriterium Pflegebedürftigkeit gefolgert werden können. Außerdem bleibt im Rahmen einer multimodalen Intervention unklar, welche Effekte von den einzelnen Interventionsbestandteilen ausgehen.

Zudem stellt sich die Frage, ob die beobachteten Effekte tatsächlich eine Folge der Interventionen gewesen sind oder ob sie durch eine ungenügende Vergleichbarkeit der Studiengruppen erklärt werden können. Die übliche Methode der Kontrollgruppenbildung durch Cluster-Randomisierung der Praxen erschien grundsätzlich ungeeignet, da während der langen Laufzeit des Vorhabens von zahlreichen Praxiswechslern auszugehen war und womöglich gerade das Präventionsangebot zusätzlich manchen Patienten zum Wechsel bewogen hätte. Zur Kontrolle wurden deshalb die AOK-Patienten aus dem Kreis Dachau herangezogen. Mehrere Gründe sprechen für deren Eignung. Die Zugehörigkeit zur selben Krankenkasse dürfte ebenso wie der Wohnsitz in einem ländlich geprägten Kreis mit gleicher Bevölkerungsdichte und gleicher Nähe zur Großstadt München eine hohe Ähnlichkeit bewirken. Wichtig ist aber vor allem, dass die verfügbaren Gesundheitsindikatoren keine nennenswerten Unterschiede anzeigten. Vor Beginn und in der Rekrutierungsphase von INVADE wichen weder die Sterberaten noch die Inzidenz und Prävalenz der Pflegebedürftigkeit in den beiden Kreisen voneinander ab [14]. Darüber hinaus belegen die aktuellen Resultate, dass in EBE kein genereller Gesundheitsvorteil bestand. Vielmehr zeigten die Krankenhausdaten, dass die Interventionsgruppe sogar geringfügig häufiger als die Kontrollgruppe stationäre Behandlungen in Anspruch nahm, was gegen eine allgemein bessere Gesundheit als Erklärung für die Unterschiede in Mortalität und Pflegebedarf spricht.

Präventionsprogramme wie INVADE scheinen sich erfolgreich in die hausärztliche Tätigkeit integrieren zu lassen und auch in der Verstetigung über lange Zeiträume möglicherweise einen Beitrag zum Erhalt der Hirngesundheit leisten zu können. Die unerwartet starken Wirkungen auf Inzidenz und Prävalenz von Pflegebedürftigkeit verlangen dringend nach weiterer Bestätigung.


Fördermittel

AOK Bayern. Die Gesundheitskasse — Integrierte Versorgung nach §§ 140a ff SGB V



Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Horst Bickel
Technische Universität München, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Ismaninger Str. 22
80333 München

Publikationsverlauf

Eingereicht: 22. Mai 2024

Angenommen: 06. Dezember 2024

Artikel online veröffentlicht:
13. März 2025

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