© anut21ng Stock/stock.adobe.com. Stock photo – posed by a model
Beschwerden im Schulterbereich zählen laut des Heilmittelberichts 2024 des wissenschaftlichen
Instituts der AOK (WIdO) zu den am weitesten verbreiteten Problemen des Bewegungsapparats
und sind – nach Wirbelsäulenbeschwerden – der zweithäufigste Anlass für eine physiotherapeutische
Behandlung [1]. Der Heilmittelbericht bestätigt damit internationale Studienergebnisse zu Prävalenzen
von Schulterschmerzen.
Patient*innen mit Schulterdiagnosen sind demnach für Physiotherapeut*innen relevant,
da diese Beschwerdebilder häufig auftreten und die Funktion und Lebensqualität stark
beeinträchtigen können. Im Mittel nahmen die Patient*innen laut WIdO 13,6 Termine
wahr, wobei über die Hälfte der Behandlungen nach einer Verordnung endete [1]. Mit Einführung der Blankoverordnung im November 2024 für Patient*innen mit Schulterbeschwerden
gewinnt die Fähigkeit von Physiotherapeut*innen, Muskel-Sehnen-assoziierte Schulterschmerzen
zu erkennen und evidenzbasiert zu behandeln, an Bedeutung und wird zu einer zentralen
Kompetenz im Rahmen der erweiterten Versorgungsverantwortung [2].
Handlungsempfehlung für die physiotherapeutische Praxis
Handlungsempfehlung für die physiotherapeutische Praxis
Für die physiotherapeutische Diagnostik und Behandlung stehen aktuell keine spezifischen
deutschsprachigen Leitlinien zur Verfügung. Zwar publizierte die Arbeitsgemeinschaft
der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) für diese Patient*innengruppe
Leitlinien zum subakromialen Impingement [3] und zu Rotatorenmanschettenläsionen [4], diese adressieren jedoch vorwiegend die ärztliche Versorgung und enthalten keine
konkreten Handlungsempfehlungen für die physiotherapeutische Praxis. Um diese Lücke
zu schließen, formierte sich ein Team aus Physiotherapeut*innen und formulierte eine
Handlungsempfehlung, die in der Zeitschrift physioscience eingereicht wurde und sich
dort derzeit im Reviewprozess befindet. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sind auch
die Autor*innen dieser hier publizierten Kurzversion. Sie alle bringen unterschiedliche
Kompetenzen mit, verschiedene akademische Abschlüsse und klinische Berufserfahrung
von unter 5 bis mehr als 20 Jahren. Inhaltlich haben 17 Personen klinische Erfahrung
im Bereich von Schulterpathologien, sieben haben eine Lehr- und fünf eine Forschungstätigkeit
in diesem Feld, wobei darunter auch Mehrfachkompetenzen einzelner Teammitglieder fallen.
Methodisch verfügen sieben Personen über Erfahrung als Autor*innen von Übersichtsarbeiten,
vier waren bereits an Leitlinienentwicklungen beteiligt.
ABB. 1 Gute anatomische Kenntnisse sind die Basis einer fundierten physiotherapeutischen
Diagnostik.Quelle: Prometheus LernAtlas - Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem.
Schünke M, Schulte E, Schumacher U, Voll M, Wesker K, Hrsg. 6., vollständig überarbeitete
Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022
An methodischen Vorgaben der AWMF orientiert
An methodischen Vorgaben der AWMF orientiert
Zur Vorbereitung einer evidenzbasierten physiotherapeutischen Praxisleitlinie orientierte
sich das Team an den methodischen Vorgaben der AWMF und erstellte zunächst physiotherapeutische
Handlungsempfehlungen. Zu diesem Zweck analysierten sie internationale Leitlinien
und bereiteten sie in strukturierter Form auf. Die Ergebnisse dienen dazu, den wissenschaftlichen
Kenntnisstand in deutscher Sprache darzustellen, potenzielle Forschungslücken sichtbar
zu machen und Anhaltspunkte für notwendige inhaltliche Weiterentwicklungen zu liefern.
All dies machte das Team mit dem übergeordneten Ziel, fundierte Handlungsempfehlungen
für die physiotherapeutische Versorgung von Patient*innen mit Muskel-Sehnen-assoziierten
Schulterschmerzen bereitzustellen.
Grundlage der Analyse bildeten acht englischsprachige Praxisleitlinien [6]–[13], die die Autorengruppe im Rahmen zweier systematischer Übersichtsarbeiten als qualitativ
hochwertig bewertete [14], [15]. Zur Zusammenfassung identifizierten jeweils mindestens zwei Teammitglieder unabhängig
voneinander relevante Inhalte in ein einheitliches Template. Im Rahmen von vier Online-Konsensuskonferenzen
stimmte die Arbeitsgruppe inhaltliche Überschneidungen und Diskrepanzen ab und konsentierte
diese, wobei der Fokus auf zentralen klinischen Fragestellungen wie Red Flags, Differenzialdiagnose,
physiotherapeutische Untersuchung und Behandlung lag. Die Zuordnung der Evidenz- und
Empfehlungsgrade erfolgte in Übereinstimmung mit dem Regelwerk der AWMF (TAB.) [5].
TAB. Empfehlungs- und Evidenzgrade der AWMF
Empfehlungsgrad
|
Beschreibung
|
Formulierung
|
Evidenzgrad
|
Basierend auf …
|
A
|
starke Empfehlung
|
soll/soll nicht
|
Ia
|
mindestens 1 Metaanalyse von RCTs
|
B
|
Empfehlung
|
sollte/sollte nicht
|
Ib
|
mindestens 1 RCT
|
0
|
offen
|
kann erwogen werden/es kann darauf verzichtet werden
|
IIa
|
mindestens 1 RCT
|
|
|
|
IIb
|
mindestens 1 quasiexperimentelle Studie
|
|
|
|
III
|
mindestens 1 nichtexperimentelle Studie
|
|
|
|
IV
|
Expertenmeinung
|
Leitlinien sind systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand
wiedergeben, um die Entscheidungsfindung von Ärzt*innen sowie Angehörigen von weiteren
Gesundheitsberufen und Patient*innen für eine angemessene Versorgung bei spezifischen
Gesundheitsproblemen zu unterstützen [5].
Kurzversion für den Praxisalltag
Kurzversion für den Praxisalltag
Parallel zur ausführlichen Zuordnung der Evidenz- und Empfehlungsgrade und ergänzend
zu den Handlungsempfehlungen erstellte das Team eine Kurzversion für praktizierende
Therapeut*innen, die alle relevanten Aspekte auf drei Seiten zusammenfasst (S. 21–23).
Denn für die Anwendung in der Praxis kann eine kompakte Zusammenfassung der Empfehlungen
– ergänzt durch übersichtliche Flussdiagramme oder in klinische Algorithmen eingebettete
Entscheidungswege – eine schnelle Orientierung im Versorgungsalltag bieten [5].
Diese vorliegende Kurzversion stellt einen strukturierten physiotherapeutischen Versorgungsprozess
für Patient*innen mit Schulterbeschwerden dar. Sie beginnt mit der Anamnese und körperlichen
Untersuchung, bei der gezielt nach Red Flags und Hinweisen auf Differenzialdiagnosen
ermittelt wird (S. 21–22). Bei entsprechenden Hinweisen sollte man eine ärztliche
Abklärung initiieren. Liegen keine solchen Hinweise vor, geht der Prozess in die Therapieplanung
(S. 23) und Behandlung über. Die Behandlung kann Interventionen wie beispielsweise
edukative Maßnahmen, aktive Übungen, auch kombiniert mit Manueller Therapie und Strategien
zur Förderung des Selbstmanagements beinhalten.
Handlungssicherheit für Blankoverordnungen
Handlungssicherheit für Blankoverordnungen
Beim hier vorgestellten Dokument handelt es sich explizit um eine Zusammenfassung
und Einordnung existierender englischsprachiger Praxisleitlinien. Es ist keine neu
erstellte Leitlinie nach AWMF-Vorgaben. Die Arbeitsgruppe erstellte diese, um insbesondere
die physiotherapeutische Vorgehensweise unter der Blankoverordnung zu begleiten und
Physiotherapeut*innen hierfür mehr Handlungssicherheit zu geben. Durchgeführte Interventionen
können so gegenüber Patient*innen, überweisenden Ärztinnen und Ärzten und den Kostenträgern
transparent begründet werden. Ebenso lassen sich nicht durchgeführte Interventionen,
wie thermische, physikalische oder passive Maßnahmen, aussagekräftig rechtfertigen.
Praxisleitlinien bieten allen beteiligten Personen mehr Transparenz und einen Überblick,
was in der Physiotherapie erwartet werden kann, und erleichtern so den Praxisalltag
von Physiotherapeut*innen.
Anne Jarck1, Andreas Alt3, Christine Alwins12, Corinna Bender8, Tobias Braun8, Florian Dittrich5, Tom Frankenstein1, Alexandra Gossing9, Arndt Gräbner7, Paul Hemmie13, Daniel Kaulhausen6, Michael Maiwald10, Larissa Pagels1, Martin Römhild11, Fabian Schneider11, Annika Schwarz4, Felix Strauch14, Philip Thies4, Barbara Vogel2, Kerstin Lüdtke1