physiopraxis 2025; 23(06): 18-20
DOI: 10.1055/a-2560-9711
Therapie

Praxisleitlinie Schulterschmerz – Handlungsempfehlungen bei Muskel-Sehnen-assoziierten Schulterschmerzen

Anne Jarck
,
Andreas Alt
,
Christine Alwins
,
Corinna Bender
,
Tobias Braun
,
Florian Dittrich
,
Tom Frankenstein
,
Alexandra Gossing
,
Arndt Gräbner
,
Paul Hemmie
,
Daniel Kaulhausen
,
Michael Maiwald
,
Larissa Pagels
,
Martin Römhild
,
Fabian Schneider
,
Annika Schwarz
,
Felix Strauch
,
Philip Thies
,
Barbara Vogel
,
Kerstin Lüdtke
 

Da die Fähigkeit, Muskel-Sehnen-assoziierte Schulterschmerzen zu erkennen und evidenz-basiert zu behandeln, durch die Blankoverordnung an Bedeutung gewinnt, hat sich eine Arbeitsgruppe aus Wissenschaftler*innen und Praktikern zusammengetan und eine deutschsprachige Handlungsempfehlung auf Grundlage internationaler Leitlinien erstellt. Hier finden Sie die Kurzversion als übersichtliche Grafik, die Ihnen den Praxisalltag erleichtern soll. Ausdrucken, aufhängen und verbreiten ausdrücklich erwünscht!


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© anut21ng Stock/stock.adobe.com. Stock photo – posed by a model

Beschwerden im Schulterbereich zählen laut des Heilmittelberichts 2024 des wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zu den am weitesten verbreiteten Problemen des Bewegungsapparats und sind – nach Wirbelsäulenbeschwerden – der zweithäufigste Anlass für eine physiotherapeutische Behandlung [1]. Der Heilmittelbericht bestätigt damit internationale Studienergebnisse zu Prävalenzen von Schulterschmerzen.

Patient*innen mit Schulterdiagnosen sind demnach für Physiotherapeut*innen relevant, da diese Beschwerdebilder häufig auftreten und die Funktion und Lebensqualität stark beeinträchtigen können. Im Mittel nahmen die Patient*innen laut WIdO 13,6 Termine wahr, wobei über die Hälfte der Behandlungen nach einer Verordnung endete [1]. Mit Einführung der Blankoverordnung im November 2024 für Patient*innen mit Schulterbeschwerden gewinnt die Fähigkeit von Physiotherapeut*innen, Muskel-Sehnen-assoziierte Schulterschmerzen zu erkennen und evidenzbasiert zu behandeln, an Bedeutung und wird zu einer zentralen Kompetenz im Rahmen der erweiterten Versorgungsverantwortung [2].

Handlungsempfehlung für die physiotherapeutische Praxis

Für die physiotherapeutische Diagnostik und Behandlung stehen aktuell keine spezifischen deutschsprachigen Leitlinien zur Verfügung. Zwar publizierte die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) für diese Patient*innengruppe Leitlinien zum subakromialen Impingement [3] und zu Rotatorenmanschettenläsionen [4], diese adressieren jedoch vorwiegend die ärztliche Versorgung und enthalten keine konkreten Handlungsempfehlungen für die physiotherapeutische Praxis. Um diese Lücke zu schließen, formierte sich ein Team aus Physiotherapeut*innen und formulierte eine Handlungsempfehlung, die in der Zeitschrift physioscience eingereicht wurde und sich dort derzeit im Reviewprozess befindet. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sind auch die Autor*innen dieser hier publizierten Kurzversion. Sie alle bringen unterschiedliche Kompetenzen mit, verschiedene akademische Abschlüsse und klinische Berufserfahrung von unter 5 bis mehr als 20 Jahren. Inhaltlich haben 17 Personen klinische Erfahrung im Bereich von Schulterpathologien, sieben haben eine Lehr- und fünf eine Forschungstätigkeit in diesem Feld, wobei darunter auch Mehrfachkompetenzen einzelner Teammitglieder fallen. Methodisch verfügen sieben Personen über Erfahrung als Autor*innen von Übersichtsarbeiten, vier waren bereits an Leitlinienentwicklungen beteiligt.

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ABB. 1 Gute anatomische Kenntnisse sind die Basis einer fundierten physiotherapeutischen Diagnostik.Quelle: Prometheus LernAtlas - Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Schünke M, Schulte E, Schumacher U, Voll M, Wesker K, Hrsg. 6., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022

An methodischen Vorgaben der AWMF orientiert

Zur Vorbereitung einer evidenzbasierten physiotherapeutischen Praxisleitlinie orientierte sich das Team an den methodischen Vorgaben der AWMF und erstellte zunächst physiotherapeutische Handlungsempfehlungen. Zu diesem Zweck analysierten sie internationale Leitlinien und bereiteten sie in strukturierter Form auf. Die Ergebnisse dienen dazu, den wissenschaftlichen Kenntnisstand in deutscher Sprache darzustellen, potenzielle Forschungslücken sichtbar zu machen und Anhaltspunkte für notwendige inhaltliche Weiterentwicklungen zu liefern. All dies machte das Team mit dem übergeordneten Ziel, fundierte Handlungsempfehlungen für die physiotherapeutische Versorgung von Patient*innen mit Muskel-Sehnen-assoziierten Schulterschmerzen bereitzustellen.

Grundlage der Analyse bildeten acht englischsprachige Praxisleitlinien [6]–[13], die die Autorengruppe im Rahmen zweier systematischer Übersichtsarbeiten als qualitativ hochwertig bewertete [14], [15]. Zur Zusammenfassung identifizierten jeweils mindestens zwei Teammitglieder unabhängig voneinander relevante Inhalte in ein einheitliches Template. Im Rahmen von vier Online-Konsensuskonferenzen stimmte die Arbeitsgruppe inhaltliche Überschneidungen und Diskrepanzen ab und konsentierte diese, wobei der Fokus auf zentralen klinischen Fragestellungen wie Red Flags, Differenzialdiagnose, physiotherapeutische Untersuchung und Behandlung lag. Die Zuordnung der Evidenz- und Empfehlungsgrade erfolgte in Übereinstimmung mit dem Regelwerk der AWMF (TAB.) [5].

TAB. Empfehlungs- und Evidenzgrade der AWMF

Empfehlungsgrad

Beschreibung

Formulierung

Evidenzgrad

Basierend auf …

A

starke Empfehlung

soll/soll nicht

Ia

mindestens 1 Metaanalyse von RCTs

B

Empfehlung

sollte/sollte nicht

Ib

mindestens 1 RCT

0

offen

kann erwogen werden/es kann darauf verzichtet werden

IIa

mindestens 1 RCT

IIb

mindestens 1 quasiexperimentelle Studie

III

mindestens 1 nichtexperimentelle Studie

IV

Expertenmeinung

Leitlinien

Leitlinien sind systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben, um die Entscheidungsfindung von Ärzt*innen sowie Angehörigen von weiteren Gesundheitsberufen und Patient*innen für eine angemessene Versorgung bei spezifischen Gesundheitsproblemen zu unterstützen [5].


Kurzversion für den Praxisalltag

Parallel zur ausführlichen Zuordnung der Evidenz- und Empfehlungsgrade und ergänzend zu den Handlungsempfehlungen erstellte das Team eine Kurzversion für praktizierende Therapeut*innen, die alle relevanten Aspekte auf drei Seiten zusammenfasst (S. 21–23). Denn für die Anwendung in der Praxis kann eine kompakte Zusammenfassung der Empfehlungen – ergänzt durch übersichtliche Flussdiagramme oder in klinische Algorithmen eingebettete Entscheidungswege – eine schnelle Orientierung im Versorgungsalltag bieten [5].

Diese vorliegende Kurzversion stellt einen strukturierten physiotherapeutischen Versorgungsprozess für Patient*innen mit Schulterbeschwerden dar. Sie beginnt mit der Anamnese und körperlichen Untersuchung, bei der gezielt nach Red Flags und Hinweisen auf Differenzialdiagnosen ermittelt wird (S. 21–22). Bei entsprechenden Hinweisen sollte man eine ärztliche Abklärung initiieren. Liegen keine solchen Hinweise vor, geht der Prozess in die Therapieplanung (S. 23) und Behandlung über. Die Behandlung kann Interventionen wie beispielsweise edukative Maßnahmen, aktive Übungen, auch kombiniert mit Manueller Therapie und Strategien zur Förderung des Selbstmanagements beinhalten.


Handlungssicherheit für Blankoverordnungen

Beim hier vorgestellten Dokument handelt es sich explizit um eine Zusammenfassung und Einordnung existierender englischsprachiger Praxisleitlinien. Es ist keine neu erstellte Leitlinie nach AWMF-Vorgaben. Die Arbeitsgruppe erstellte diese, um insbesondere die physiotherapeutische Vorgehensweise unter der Blankoverordnung zu begleiten und Physiotherapeut*innen hierfür mehr Handlungssicherheit zu geben. Durchgeführte Interventionen können so gegenüber Patient*innen, überweisenden Ärztinnen und Ärzten und den Kostenträgern transparent begründet werden. Ebenso lassen sich nicht durchgeführte Interventionen, wie thermische, physikalische oder passive Maßnahmen, aussagekräftig rechtfertigen. Praxisleitlinien bieten allen beteiligten Personen mehr Transparenz und einen Überblick, was in der Physiotherapie erwartet werden kann, und erleichtern so den Praxisalltag von Physiotherapeut*innen.

Anne Jarck1, Andreas Alt3, Christine Alwins12, Corinna Bender8, Tobias Braun8, Florian Dittrich5, Tom Frankenstein1, Alexandra Gossing9, Arndt Gräbner7, Paul Hemmie13, Daniel Kaulhausen6, Michael Maiwald10, Larissa Pagels1, Martin Römhild11, Fabian Schneider11, Annika Schwarz4, Felix Strauch14, Philip Thies4, Barbara Vogel2, Kerstin Lüdtke1



Autorenteam

Das Autorenteam forscht, arbeitet, lehrt oder studiert hier:

1 Institut für Gesundheitswissenschaften, Fachbereich Physiotherapie, Pain and Exercise Research (P.E.R.L.), Universität zu Lübeck

2 Zentrale Physiotherapie, Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Sportorthopädie, TUM Klinikum Rechts der Isar

3 SportClinic Zürich, Abteilung für Physiotherapie, KNOP-Academy

4 Fakultät Gesellschaftswissenschaften, Hochschule Bremen

5 Diakonisches Institut für Soziale Berufe, Weingarten

6 Student im Masterprogramm Physiotherapie, Fakultät für Rehabilitation und Sport, Karls-Universität, Prag

7 Zentrum für Bewegung und Teilhabe GbR, Bensheim

8 Fachbereich Gesundheit und Soziales, HSD Hochschule Döpfer

9 Praxis Osteomed, Seesen

10 Diploma Hochschule, Fachbereich Gesundheit und Psychologie

11 Forschungs- und Bildungsinstitut für evidenzorientierte Medizin, FIEOM, Emmerthal

12 Schule für Physiotherapie, Akademie der Gesundheit, Berlin

13 Zentrale Abteilung Physiotherapie, Universitätsmedizin Göttingen

14 Universität Augsburg, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät


Publication History

Article published online:
10 June 2025

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ABB. 1 Gute anatomische Kenntnisse sind die Basis einer fundierten physiotherapeutischen Diagnostik.Quelle: Prometheus LernAtlas - Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Schünke M, Schulte E, Schumacher U, Voll M, Wesker K, Hrsg. 6., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022