Rehabilitation (Stuttg) 2008; 47(5): 263
DOI: 10.1055/s-0028-1086040
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zur Relevanz von Kontextfaktoren in der Rehabilitation

On the Relevance of Context Factors in Rehabilitation
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Publication Date:
20 October 2008 (online)

Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte und im Jahre 2001 verabschiedete Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und das damit verbundene Konzept der „funktionalen Gesundheit” befinden sich auch in Deutschland seit einigen Jahren in der Erprobung und Umsetzung in unterschiedlichen Anwendungsbereichen [1, 2]. Neben der Bedeutung als Klassifikation besteht eine wesentliche konzeptionelle Erweiterung darin, bei der Beurteilung von Gesundheitsproblemen ebenso wie bei deren Bewältigung den jeweiligen Lebenshintergrund einer Person und ihren Einfluss auf die Teilhabe in der Gesellschaft systematischer als bisher einzubeziehen. Das bedeutet vor allem, die für den Einzelfall relevanten umwelt- und personenbezogenen Kontextfaktoren, die sich förderlich oder hinderlich auf die Teilhabe auswirken können, konsequenter und gezielter als bisher in den Rehabilitationsprozess einzubeziehen. Für die Weiterentwicklung von Konzepten, die Definition von Rehabilitationszielen, für die konkrete Planung und Durchführung von Maßnahmen bedeutet das aber, die externen förderlichen Faktoren ebenso wie die Barrieren und ihre Auswirkungen konzeptionell in den Rehabilitationsprozess zu integrieren.

Ein systematisches Einbeziehen von Kontextfaktoren in die Beurteilung von Gesundheitsproblemen bedeutet nicht nur eine Veränderung des Blickwinkels, sondern hat auch Auswirkungen auf das Verständnis von Krankheit und Behinderung und erfordert eine Neuausrichtung von rehabilitativen Maßnahmen sowie unter Umständen zusätzliche Ressourcen. Die ICF stellt als Klassifikation das erforderliche Wissen über den Stellenwert von Kontextfaktoren und ihre Zusammenhänge zu anderen Komponenten für die Rehabilitation nicht unmittelbar zur Verfügung. Deshalb ist es Aufgabe der Rehabilitationsforschung, die Bedeutung von Kontextfaktoren für die Praxis zu untersuchen und Wege der Anwendung bzw. Umsetzung aufzuzeigen. In der Regel ist es deshalb nicht ausreichend, Kontextfaktoren als solche in theoretische oder konzeptionelle Betrachtungen einzubeziehen. Über ihren Einfluss sind vielmehr empirische Analysen notwendig, die konkrete Informationen über Zusammenhänge für die Praxis bieten können.

Der wissenschaftliche Kenntnisstand über Kontextfaktoren im Rahmen von Konzepten der „funktionalen Gesundheit” ist bisher als gering einzuschätzen. Es liegen so gut wie keine Untersuchungen vor, die Kontextfaktoren explizit zu einem zentralen Gegenstand von Forschung gemacht und deren Auswirkungen auf die Beeinträchtigung von Teilhabe untersucht haben. Aus diesem Grunde freuen wir uns, in dieser Ausgabe die Ergebnisse einer expertengestützten Pilotstudie vorstellen zu können, die am Beispiel neurologischer Erkrankungen die Bedeutung von Kontextfaktoren im Rehabilitationsprozess untersucht hat. Ausgangspunkt der Studie von Fries und Fischer war die Überlegung, dass es für die Therapiekonzepte wichtig ist, die positiven und negativen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Komponenten der ICF zu kennen. In diesem Zusammenhang haben sie untersucht, wie stark Kontextfaktoren das Ausmaß von Beeinträchtigungen im Vergleich zu Funktions- und Aktivitätsstörungen bestimmen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass rund zwei Fünftel der Beeinträchtigungen von Teilhabe auf person- und umweltbezogene Kontextfaktoren zurückzuführen sind. Dies unterstreicht – hier am Beispiel neurologischer Erkrankungen – die notwendige Neuausrichtung von Rehabilitationskonzepten, zu der hier ein wichtiger Beitrag geliefert wird.

Neben der Studie zur Bedeutung von Kontextfaktoren in der neurologischen Rehabilitation werden weitere relevante Ergebnisse aus der orthopädischen Rehabilitation sowie zu Patientenbefragungen und zum Qualitätsmanagement vorgestellt.

Literatur auf S. 321 d.Z.

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