Gesundheitswesen 2010; 72(1): 23-28
DOI: 10.1055/s-0029-1237739
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gesundheit fördern statt kontrollieren – lessons learned, lessons to learn

Promoting Instead of Controlling Health – Lessons Learned, Lessons to LearnJ. Kuhn1 , A. Trojan2
  • 1Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
  • 2Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Medizin-Soziologie, Zentrum für Psychosoziale Medizin
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Publication Date:
15 September 2009 (online)

Zusammenfassung

Gesundheitsförderung war in der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation als Aufforderung zur Selbstverantwortung angelegt, aber nicht reduziert auf scheinbar rein persönliche Risikofaktoren. Die Ottawa-Charta nimmt vielmehr eine enge Verklammerung von Gesundheit und Gesellschaft vor und folgt darin der Sichtweise der frühen Sozialmedizin, etwa dem Diktum Rudolf Virchows, dass Politik nur Medizin im Großen sei. Mit der in den 90er Jahren dominant werdenden neoliberalen Ideologie ist diese Verklammerung teilweise wieder gelöst worden. Dies leistet individualistischen Sichtweisen auf die Selbstverantwortung Vorschub. Zugleich war ein Wiedererstarken expertokratischer Präventionsstrategien zu beobachten. Neuerdings scheint die Diskussion über Selbstverantwortung wieder gesellschaftskritische Akzente zurückzugewinnen. Dies gilt es zu befördern, zugleich aber die Prävention vor einer Selbstüberforderung zu bewahren.

Abstract

Health promotion, as laid down in the Ottawa Charta by the World Health Organisation, embraces the call for self-responsibility. Self-responsibility, however, is not merely directed towards apparently personal risk factors. The Ottawa Charta clearly puts health in a wider societal context and follows the line of early social medicine, which, as Virchow put it, understood politics as medicine on a large scale. With the increasing dominance of neoliberal thinking during the 1990s, this view of health in its societal context was pushed aside to make way for an individualistic understanding of self-responsibility. At the same time a resurgence of expert-led prevention strategies could be observed. Recently, however, the discussion on self-responsibility appears to be regaining societal aspects. The task on hand is, to support this societal approach to health whilst at the same time to ensure the field of health promotion does not overstretch itself.

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Korrespondenzadresse

Dr. J. Kuhn

Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Veterinärstraße 2

85764 Oberschleißheim

Email: joseph.kuhn@lgl.bayern.de

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