Gesundheitswesen 2010; 72(11): 790-796
DOI: 10.1055/s-0029-1242782
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Analyse von Selektionsanreizen für Krankenkassen nach Einführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs: Eine empirische Analyse

Analysis of Selection Inventives for Health Insurances After Introduction of the Morbidity-Oriented Risk Compensation Scheme: An Empirical AnalysisM. Lüngen1 , A. Drabik1 , G. Büscher1 , A. Passon1 , M. Siegel1 , S. Stock1
  • 1Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität zu Köln
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Publication Date:
26 January 2010 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: Mit der Einführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs sollten den Wettbewerb verzerrende Selektionsanreize im Finanzausgleich der gesetzlichen Krankenkassen korrigiert werden. Ob sich – trotz des besseren Ausgleichs der Morbidität – noch Selektionsanreize bezüglich sozialer Bevölkerungsgruppen bieten, konnte bisher empirisch nicht untersucht werden. Wir prüften, inwieweit die beobachtbaren Versichertenmerkmale Einkommen, höchster Bildungsabschluss, Einwohnerzahl des Wohnortes und Familienstatus (Kinder im Haushalt) nach Einführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs für Krankenkassen geeignete Indikatoren sind, um Risikoselektion zu betreiben.

Methode: Die Untersuchung basiert auf Umfragedaten von 75 122 Versicherten zur Inanspruchnahme ambulanter und stationärer Versorgungsleistungen, Arzneimitteln, Rehabilitationsmaßnahmen, Heil- und Hilfsmitteln, zum Vorliegen chronischer und akuter Erkrankungen sowie dem sozio-ökonomischen Status. Die Leistungsausgaben wurden für jedes Individuum gemäß der dokumentierten Inanspruchnahme für die Hauptleistungsbereiche der Krankenversicherung abgeschätzt. Einbezogen wurden stationäre Versorgung, ambulante Versorgung, Arzneimittel, Rehabilitation sowie Heil- und Hilfsmittel. Die Ausgaben wurden nach Alter und Geschlecht standardisiert sowie gemäß der im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich einbezogenen Erkrankungen differenziert. Der Einfluss der untersuchten Versichertenmerkmale auf die Leistungsausgaben wurde mithilfe von Regressions- und Varianzanalysen bestimmt.

Ergebnisse: In die Auswertung konnten 52 484 Personen (69,86%) mit vollständiger Dokumentation einbezogen werden. Bei Personen ohne im Risikostrukturausgleich berücksichtigten Erkrankungen waren die Versichertenmerkmale „Kinder im Haushalt”, „höherer Bildungsabschluss” und „höheres Einkommen” mit niedrigeren Leistungsausgaben korreliert. Bei Personen mit im Risikostrukturausgleich berücksichtigten Erkrankungen konnte kein eindeutiger Trend festgestellt werden. Dort waren auch geringeres Einkommen und niedrigere Bildungsabschlüsse teilweise mit niedrigeren Leistungsausgaben verbunden. Für das Merkmal „Größe des Wohnortes” konnte in keiner der Gruppen ein signifikanter Einfluss nachgewiesen werden.

Diskussion: Bezieher hoher Einkommen und Personen mit höherem Bildungsabschluss verursachen innerhalb der Gruppe der Personen ohne Erkrankungen, welche im Risikostrukturausgleich erfasst werden, weiterhin geringere Leistungsausgaben. Damit besteht für die Krankenkassen auch nach der Einführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs ein Anreiz zur Risikoselektion. Um diesem Selektionsanreiz entgegen zu wirken, können jedoch Maßnahmen der gezielten Prävention möglicherweise sinnvoller sein, als eine weitergehende Adjustierung im Risikostrukturausgleich.

Abstract

Background: The risk compensation scheme (RCS) in the Statutory Health Insurance (SHI) was implemented in 1994 to discourage risk selection between sickness funds. However, several expertise papers have concluded since then that the sociodemographic risk adjusters in place could not adequately curb risk selection. To minimise incentives for risk selection in the Statutory Health Insurance (SHI) further, the RCS was refined in 2009 by adding 80 diseases as additional risk adjusters. In spite of the better compensation of differences in morbidity, however, incentives for risk selection may still persist. In this study, we investigated the association of indicators such as region (number of inhabitants in the city), income, level of education and family status (children in the household) with health care costs to determine if risk selection is still attractive for sickness funds under the refined RCS.

Method: The analysis is based on a 2002 cross-section survey comprising 75 122 individuals. Health expenditures were estimated using self-documented utilisation data and were standardised for age, sex and diagnoses covered by the risk adjustment scheme. We included costs for inpatient care, outpatient care, pharmaceuticals, rehabilitation, and medical devices. To assess the effects of the above-mentioned individual characteristics on health-care expenditure, regression analyses and analyses of variances were performed.

Results: Full documentation was available for 52 484 individuals (69.86%). From these the variables “family status (children in the household)”, “higher educational level”, and “higher income” were associated with lower costs for individuals without chronic conditions. For individuals with chronic conditions, results were mixed. “Family status”, “education” and “income” showed no clear association with lower or higher costs and were not statistically significant. The variable “region” was neither significantly associated with chronically ill nor for healthy individuals.

Discussion: With respect to age, sex, and morbidity, individuals with high income and education and without chronic diseases apparently cause lower costs. Thus, health status, income and education remain as possible selection criteria for sickness funds in Germany. However, the refined RCS compensates for the largest proportion of cost differences between insured with and without chronic disease. Possible causes of the small but remaining differences and whether improving preventive programmes or providing awareness campaigns may be appropriate strategies to tackle this issue should be investigated in future research.

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Korrespondenzadresse

Dr. M. Lüngen

Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische

Epidemiologie der Universität zu Köln

Gleueler Straße 176–178

50935 Köln

Email: Markus.Luengen@uk-koeln.de

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