Gesundheitswesen 2010; 72(2): 65-66
DOI: 10.1055/s-0030-1247511
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Europa

EuropeM. Wildner
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Prof. Dr. M. Wildner

Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Veterinärstraße 2

85762 Oberschleißheim

Email: manfred.wildner@lgl.bayern.de

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Publication Date:
18 February 2010 (online)

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Europas Kurs war klar nach Westen ausgerichtet. Der Stier, an dessen Hörnern sich die unschuldig entführte Europa festhielt, schwamm geradewegs nach Kreta. Dort verwandelt sich der Stier zum göttlichen Zeus. Die phönizische Königstochter Europa (Wortbedeutung: die „Weit-sichtige”) gebiert ihm drei Söhne, bis Zeus sie wieder verlässt. Auf Geheiß der Liebesgöttin Aphrodite wird der Erdteil, an dessen erster Insel der Stier an Land gegangen war, Europa genannt: „Tröste dich, Europa! Zeus ist es, der dich geraubt hat; du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes; unsterblich wird dein Name werden, denn der fremde Weltteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!” [1]. Die göttliche Affäre endet mit einem „happy end”: Europa wird mit ihren Kindern vom kinderlosen kretischen König Asterios geheiratet. Ihr Sohn Minos begründet in der Mythologie die früheste „europäische” – kretisch-minoische – Hochkultur (Blüte um 1600 v. Chr.). Deren Stärke baute auf einer maritim-kommerziell ausgerichteten Handelsflotte auf.

Man mag sich bei dieser friedlichen Entwicklung an den Zweizeiler erinnert fühlen, der dreitausend Jahre später über die glückliche Heiratspolitik des europäischen Kaiserhauses der Habsburger gesagt wurde: Bella gerant alii, tu felix Austria nube. Nam quae Mars aliis, dat tibi diva Venus (dt. Kriege führen mögen andere, du glückliches Österreich heirate. Denn was Mars den anderen verschafft, gibt dir die göttliche Venus) [2]. Noch eine Nachwirkung der Verheißung der Aphrodite?

Eine Nachwirkung vielleicht gar bis in die Gegenwart? Sehen wir nicht ein sich friedlich erweiterndes Europa? Im Rahmen der Montanunion 1951 und der Römischen Verträge 1957 wurde es zunächst von nur sechs Staaten getragen (Frankreich, Deutschland, Italien sowie die Benelux-Staaten). 1992 konstituierte sich die Europäische Union mit dem Vertrag von Maastricht bereits mit 12 Mitgliedstaaten. Zum 1. Dezember 2009 gibt sich die EU mit dem Vertrag von Lissabon ein zur Legislative befugtes Parlament. Zu diesem Zeitpunkt umfasst sie bereits 27 Staaten mit etwa einer halben Milliarde Einwohner. „In Vielfalt geeint”, lautet das im Jahr 2000 aus einem Schülerwettbewerb heraus gekürte Europamotto. Damit soll ausgedrückt werden, „dass sich die Europäer über die EU geeint für Frieden und Wohlstand einsetzen, und dass die vielen verschiedenen Kulturen, Traditionen und Sprachen in Europa eine Bereicherung für den Kontinent darstellen” [3]. Dass die Farben der Europaflagge – 12 gelbe Sterne vor blauem Hintergrund – 1986 mit europabürokratischer Genauigkeit definiert wurden, versteht sich (Pantone Yellow, RGB 255/204/0 und Pantone Reflex blue, RGB 0/51/153). Bislang hat einzig Grönland – autonomer Bestandteil des zur EU gehörenden Königreiches Dänemark – 1985 die EU wieder verlassen: hauptsächlich wegen der Überfischung grönländischer Gewässer durch europäische Fangflotten. Aphrodite könnte zufrieden sein: Europas heutige Söhne und Töchter scheinen wieder auf Kurs zu sein.

Dies war nicht immer der Fall. Das ursprünglich hellenistisch-römische Europa hatte sein Kerngebiet in den Ländern rund um das Mittelmeer. Der Verlust des europäischen Kulturraumes an der heute nordafrikanischen Mittelmeerküste im 7. und 8. Jahrhundert n. Chr. war verbunden mit einer kompensatorischen Ausdehnung nach Norden: mit Gallien, Germanien und Britannien als neuen Kernlanden im Westen und einer Erweiterung Europas auf die slawischen Gebiete im oströmischen Raum [4]. Nach der Kaiserkrönung Karls des Großen (800) bildete sich der Gedanke eines verwandelten römischen Reiches heraus: Das christliche Europa des karolingischen Reiches.

Viele der später für Europa konstitutiven Elemente wurden nur leidvoll errungen: Die Trennung von Kirche und Staat, die Glaubensfreiheit, die Entdeckung des Individuums und seiner (Menschen-)Rechte einschließlich der Rechte der Frau und der Kinderrechte. Die Suche nach Identität und Halt in einer ersten Runde kolonialer Globalisierung führte zu exzessiver Nationalstaatlichkeit und zwischenstaatlichen „Erbfeindschaften”. „Amerika, du hast es besser/als unser Kontinent, der alte,/hast keine verfallenen Schlösser/und keine Basalte./Dich stört nicht im Innern/zu lebendiger Zeit/unnützes Erinnern/und vergeblicher Streit” sinniert Goethe 1827 [5]. Es wird vermutet, dass er damit auf die Monroe-Doktrin von 1823 Bezug nahm, welche die strikte politische Trennung von Neuer und Alter Welt zur außenpolitischen Leitlinie der USA machte.

Letztlich trugen die ins Unfassbare gesteigerten menschenverachtenden Totalitäten der Weltkriege und Genozide des 20. Jahrhunderts zur Neugeburt Europas bei, nun doch mithilfe der USA: in Form einer über- und zwischenstaatlichen Wertegemeinschaft. Erster politischer Kristallisationspunkt war der sog. Schuman-Plan von 1950, welcher vom Leiter des französischen Planungsamtes, Jean Monnet, erarbeitet worden war und vom französischen Außenminister Robert Schuman politisch vertreten wurde. Bereits 1948 hatte sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als weitere zwischenstaatliche Organisation mit u. a. einem Europäischen Regionalbüro konstituiert. Dessen regionale Zuständigkeit ist nicht deckungsgleich mit der EU: sie umfasst über die Mitgliedsstaaten der EU hinaus beispielsweise Island, Norwegen, die Schweiz, die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawiens, die Türkei und Israel.

Inzwischen hat der so erfolgreiche „Amerikanische Traum” – dass jeder durch harte Arbeit und eigene Willenskraft sein Leben verbessern kann – durch einen „Europäischen Traum” Gesellschaft bekommen [6]. In seinem gleichnamigen Buch („Ein Muntermacher für deprimierte Alteuropäer”) konstatiert der US-amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin die geschichtliche Einzigartigkeit der EU. Ihre Legitimität beruht erstmalig und einmalig für ein Staatengebilde nicht auf der machtvollen Kontrolle von Territorium und zugehörigem Staatsvolk, sondern auf einem auf den universellen Menschenrechten basierenden Verhaltenskodex. Dieser wird durch ständiges Engagement, Diskussionen und multiple Verhandlungen mit Hilfe von Regelungen und Direktiven umgesetzt und fortlaufend aktualisiert. Diese polyzentrische Politik beinhaltet subsidiäre Aufgabenwahrnehmungen über öffentliche Politiknetze auf lokaler, regionaler, nationaler, transnationaler und globaler Ebene. Kennzeichnend sind Beratungen, Verhandlungen, Kompromisse und flexible Konsensfindungsprozesse.

Damit wurde die EU weder zu einem „Superstaat” noch zu einem bloßen Instrument nationaler Eigeninteressen, sondern zu etwas Drittem. Zu einem vielseitigen Forum, in dem die Institutionen der EU die Rolle des Dirigenten oder auch Schiedsrichters einnehmen. Die EU ist mehr als Prozess denn als Struktur zu begreifen: ihre Arbeitsweise ist konnektiv und dezentralisiert, ein Multilevel-Regierungs-Prozess, der mit der Informationsrevolution Schritt hält. Damit entspricht die EU den (post)modernen gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen mit zunehmender Individuation bei gleichzeitiger höherer Integration wie kein anderes Staatengebilde auf der Welt. Begriffe wie „Stewardship” und „Governance/Gouvernementalität” umschreiben diesen neuen Weg indirekten Regierens im kommunikativen Austausch von Regierung, Wirtschaft und zivilgesellschaftlichen Akteuren. „Die Frage ist, was für neue Bindungen die Menschen dazu bringen könnten, ihre alten Loyalitäten zu überwinden und den Europäischen Traum zu einem gemeinsamen werden zu lassen”, schreibt Rifkin. Und antwortet: „Um es einfach zu sagen, auch wenn es ganz und gar keine einfache Aufgabe ist: Wir müssten unsere Bindungen an Eigentum und Territorium zugunsten universeller Menschenrechte und der kollektiven Verantwortung für unsere Erde ausweiten” [6, S. 288].

Obwohl die EU in ihren Gründungsverträgen sowie in der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, Lissabon 2008) zunächst eine Harmonisierung der Sozialsysteme ausgeklammert hat, übernimmt sie auch Verantwortung für den Gesundheits- und Verbraucherschutz. Art. 168 (AEUV) sagt: „Bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt. Die Tätigkeit der Union ergänzt die Politik der Mitgliedstaaten und ist auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit gerichtet. Sie umfasst die Bekämpfung der weit verbreiteten schweren Krankheiten, wobei die Erforschung der Ursachen, der Übertragung und der Verhütung dieser Krankheiten sowie Gesundheitsinformation und -erziehung gefördert werden; außerdem umfasst sie die Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren. Die Union ergänzt die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Verringerung drogenkonsumbedingter Gesundheitsschäden einschließlich der Informations- und Vorbeugungsmaßnahmen”.

Entsprechende Strukturbildungen sind das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) in Stockholm/Schweden, die European Food Safety Authority (EFSA) in Parma/Italien, für europäische Arzneimittelzulassungen die European Medicines Agency in London/England, die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz in Bilbao/Spanien und innerhalb der Europäischen Kommission die Generaldirektion Gesundheit und Verbraucher (Directorate General for Health and Consumer Affairs, DG SANCO) in Brüssel/Belgien. Die Frage der Patientenmobilität innerhalb der EU wurde durch Urteile des Europäischen Gerichtshofes (Geraets-Smits/Peerboom, Kohll/Decker) im Sinne eines freien Dienstleistungsverkehrs nachdrücklich entschieden. Sie bezieht sich auf Dienstleistungen, welche im jeweiligen Ursprungsland im Leistungspaket enthalten sind, solange die betroffenen Gesundheitssysteme nicht überfordert werden [7] [8] [9]. Detaillierte Informationen zu den Organisationsformen der Gesundheitssysteme im weiter gefassten Europa der WHO werden von den European Observatories on Health Care als sogenannte „HiT”-Reporte zur Verfügung gestellt („Health Systems in Transition”, URL: http://www.euro.who.int/observatory/Hits/TopPage).

Mit Themen des Gesundheitssystems befasst sich auch diese Ausgabe: mit Benachteiligung durch Ausgabenarmut, Kosteneffektivität ambulanter Pflege und Qualitätsindikatoren ambulanter Pflege in der Schweiz, geschlechtsspezifischen Unterschieden der Aufnahme auf Intensivstationen in Österreich, Off-Label-Use von Arzneimitteln, Adipositas und gesundheitsbezogener Lebensqualität bei Kindern.

Um noch einmal auf den Anfang Europas zurückzukommen, ein Tipp: Die „Kreta-Diät” (Mittelmeerdiät), vermutlich von Frau zu Frau weitergegeben, hat einen bemerkenswert positiven Effekt auf Körpergewicht, kardiale und mentale Gesundheit zumindest der Kreter [10]. Liebe geht bekanntlich auch durch den Magen.

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