Sprache · Stimme · Gehör 2010; 34(3): 121
DOI: 10.1055/s-0030-1263185
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sprechplanung und Sprechapraxie

Speech Motor Planning and Apraxia of SpeechW. Ziegler
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Publication Date:
12 October 2010 (online)

Die Aphasiologen des 20. Jahrhunderts konnten sich mit dem Konzept der Sprechapraxie nie anfreunden. Sofern sie die Störung überhaupt erwähnten, geschah das immer mit vielen terminologischen und theoretischen Fragezeichen, meist verbunden mit dem Zusatz, dass es sich dabei vielleicht doch nur um eine aphasische oder dysarthrische Variante handeln könnte [1, 2]. Die Motorik des Sprechens spielte in den neurolinguistischen Theorien dieser Zeit keine Rolle und die einschlägigen Modelle waren von den motorischen Prinzipien des Sprechens unbeeinflusst. Die Sprechapraxie hat in diesen Theorien naturgemäß keinen Raum gefunden.

In den letzten Jahren hat sich der Fokus neurolinguistischer Theorien erweitert. Unter anderem mit der Veröffentlichung des Levelt-Modells wurden die Verarbeitungsschritte von der phonologischen Repräsentation bis zur Artikulation von Wörtern zunehmend als durchgängige Prozesskette betrachtet. Insbesondere ist die Stufe der phonetischen Planung inzwischen Gegenstand lebhafter psycholinguistischer Forschung [3]. In der Phonologie sind Theorien entstanden, die Wörter als Geflechte abstrakter sprechmotorischer Gesten [4] oder als „emergente” Strukturen sensorischer und motorischer Funktionen des Sprechens betrachten [5]. Phonetische Theorien beschäftigen sich zunehmend damit, wie graduell skalierte motorische Einheiten zu kategorialen phonologischen Repräsentationen gerinnen können und durchbrechen damit die Unvereinbarkeit kontinuierlich-motorischer und diskret-linguistischer Strukturen [6]. Techniken der neuronalen Modellierung wurden eingesetzt, um den Prozess der Entwicklung sprechmotorischer Fertigkeiten und der Planung und Kontrolle von Sprechbewegungen durch Computermodelle zu simulieren [7]. Und schließlich hat die Entwicklung von Verfahren der Untersuchung des offenen Sprechens im fMRT-Scanner aufschlussreiche Bildgebungsstudien zu den neuronalen Grundlagen der Sprechplanung hervorgebracht [8].

Von diesen Entwicklungen konnte auch die Sprechapraxieforschung profitieren. Ausgehend von neuen psycholinguistischen Modellen wurden zunehmend hypothesengeleitete Untersuchungen sprechapraktischer Störungsmuster durchgeführt. Dabei hat unter anderem das Konzept der Frequenz von Einheiten (z. B. Silben) an Bedeutung gewonnen. Es kann mit der Automatisiertheit von Sprechbewegungsmustern und der Herausbildung „höherer” motorischer Kontrolleinheiten in Verbindung gebracht werden kann [9]. Angelehnt an moderne motorische Konzepte wurden Behandlungsverfahren entwickelt und überprüft, und damit wichtige Prinzipien motorischen Lernens in die Sprechapraxietherapie eingeführt [10]. Als klinisches Modell sprechmotorischer Planungsstörungen wurde die Sprechapraxie darüber hinaus auch vermehrt Gegenstand von Läsionsstudien [11]. Die Ergebnisse dieser Forschung gaben wiederum Impulse für die Grundlagenforschung zur Sprechmotorik, insbesondere auch für Bildgebungsstudien bei Sprachgesunden.

In den 4 Beiträgen zu diesem Themenheft werden einige dieser neueren Strömungen in der Sprechapraxieforschung aufgegriffen. In einem ersten Beitrag (W. Ziegler) werden die Symptome der Sprechapraxie skizziert und Abgrenzungsfragen diskutiert. Die Darstellung ist dabei mit einer kritischen Betrachtung konventioneller Ansätze und einigen Verweisen auf neuere Konzepte verknüpft.

Der 2. Beitrag (A. Staiger, I. Aichert) fasst die Diskussion über die dem sprechapraktischen Störungsmechanismus zugrunde liegenden Einheiten zusammen und zeigt Schlussfolgerungen für die Therapie auf. Dieser Artikel knüpft an die vom Levelt-Modell ausgehenden Impulse an und skizziert die Weiterentwicklungen dieser Ideen im Rahmen der klinischen Sprechapraxieforschung.

Der 3. Beitrag (B. Brendel, H. Ackermann) vermittelt einen Überblick über die neuere Forschung zur funktionellen Neuroanatomie sprechmotorischer Planungsprozesse. Dabei werden sowohl Läsionsstudien als auch experimentelle fMRT-Studien berücksichtigt. Dieser Artikel soll den Lesern helfen, die Literatur zu diesem rasch expandierenden Forschungsfeld zu überblicken und zu gliedern.

Der 4. Beitrag (B. Kröger) stellt schließlich eine Forschungsrichtung vor, in der versucht wird, durch Computermodelle sprechmotorische Planungsprozesse und deren Störungen zu simulieren. Hiermit werden Annahmen über die Architektur des sprechmotorischen Systems geprüft und weiterentwickelt.

Das Heft wird durch einen Beitrag in der Rubrik „Neue Impulse” ergänzt, in dem 2 Studentinnen des Münchner MA-Studienganges Sprachtherapie über die Entwicklung von Therapiematerial berichten, das sich an neuen theoretischen Perspektiven orientiert. Außerdem schildert im Interview-Beitrag dieses Themenhefts ein Betroffener seine „Innenansicht” der Sprechapraxie und seine 10-jährige Erfahrung mit dieser Erkrankung.

Ich bedanke mich bei allen Autoren, die zu diesem Heft beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt Dr. H. B. für seine Bereitschaft, offen über seine Erfahrungen mit der Sprechapraxie zu berichten. Anja Staiger und Ingrid Aichert haben bei der redaktionellen Arbeit geholfen und mir viele wertvolle Ratschläge gegeben.

Literatur

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. W. Ziegler

EKN

Dachauer Straße 164

80992 München

Email: wolfram.ziegler@extern.lrz-muenchen.de

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