Sprache · Stimme · Gehör 2011; 35(1): 7
DOI: 10.1055/s-0031-1271768
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sprachverarbeitungsmodelle

Models of Language ProcessingS. Abel
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Publication Date:
31 March 2011 (online)

Stefanie Abel

In der heutigen Logopädie ist der sogenannte kognitiv-linguistische Ansatz das Standardverfahren zur Förderung oder Wiederherstellung von Sprachfunktionen. Die Behandlung baut dabei auf einem kognitiven Modell auf, in dem sich die beeinträchtigten linguistischen Komponenten identifizieren lassen. Die Therapie kann dann direkt auf die zugrundeliegende Störung ausgerichtet werden (störungsspezifische Behandlung) oder sie strategisch umgehen (Kompensation). In der klinischen Praxis wird derzeit bevorzugt das serielle Logogen-Modell von John Morton, das in verschiedenen erweiterten Versionen vorliegt, als Grundlage für die modellgeleitete Therapie genutzt. Die Berücksichtigung von 4 modalitätsspezifischen Lexika, die separat störbar sind, ist für die Feststellung dissoziativer Störungen besonders vorteilhaft. Jedoch ist das Modell statisch und deskriptiv – eine Komponente ist ganz oder gar nicht betroffen – und interaktive Eigenschaften des sprachlichen Systems werden nicht berücksichtigt. Zudem ist es auf die Wortebene beschränkt.

Die Einbindung weiterer, aktuell verfügbarer Modelle in die therapeutische Praxis wäre sehr wünschenswert. Das vorliegende Heft mit dem Themenschwerpunkt „Sprachverarbeitungsmodelle” stellt deshalb eine Auswahl weiterer kognitiver Modelle vor, die eine Erklärung unterschiedlicher Störungsmechanismen insbesondere bei erworbenen Sprachstörungen (Aphasie) bieten. Während die beiden ersten Beiträge theoretisch gehalten sind, zeigen die beiden letzten Beiträge Möglichkeiten der praktischen Anwendung psycholinguistischer Modelle bei Personen mit Aphasie auf.

Im ersten Beitrag geben Gerhard Blanken, Tobias Bormann und Judith Schweppe einen Einblick in die Besonderheiten dreier führender psycholinguistischer Modelle der Sprachproduktion: in das Modell von John Morton sowie in die Modelle von Willem Levelt und Gary Dell. Dabei suchen sie die Schreibprozesse jenseits der Wortebene – beispielsweise beim Schreiben von Sätzen – im Modell zu erklären.

Anschließend zeigen Ulrich Schade und Hans-Jürgen Eikmeyer in ihrem Beitrag ein wichtiges Problem interaktiver Netzwerkmodelle wie dem von Gary Dell auf: Wie wird die Abfolge der zu äußernden Einheiten gesteuert, wenn sie doch alle gleichzeitig aktiviert sind? Ihr Lösungsansatz ebnet auch den Weg für die Modellierung der Satzverarbeitung.

Im Beitrag von Katharina Dressel, Cornelius Weiller, Walter Huber und Stefanie Abel wird eine Studie mit drei Patienten zur modellgeleiteten Therapie des Wortabrufs im Dell-Modell, das eine computerbasierte Feststellung der Störungsursache bietet, vorgestellt. Durch Einbeziehung von moderner Bildgebung werden zudem neuronale Entsprechungen von Verarbeitungskomponenten und ihrer Verbesserung offenbar.

Juliane Klann und Walter Huber schließlich stellen eine Verhaltensstudie mit 4-mal 20 Probanden sowie eine Bildgebungsstudie mit 14 Probanden vor. Dabei geht es um ein Modell zum narrativen Verstehen. In den Studien wird ein Parameter für die Diagnostik und Behandlung hirngeschädigter Patienten mit und ohne Aphasie herausgearbeitet und empirisch evaluiert.

Unsere Kommunikation ist jedoch nicht auf laut- und schriftsprachliche Mittel begrenzt, sie umfasst auch gestische Mittel. Im Interview gibt Irene Mittelberg uns einen interessanten Einblick in den Zusammenhang zwischen Gestik und Sprache sowie in die Modellierung von Gesten.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre und würde mich freuen, wenn wir mit dem vorliegenden Heft Ihr Interesse an der Anwendung aktueller Modelle bei der Beschreibung von Sprachstörungen wecken oder erweitern konnten.

Ihre Stefanie Abel

Korrespondenzadresse

Dr. phil. S. Abel

Sektion Neuropsychologie

Neurologische Klinik

Universitätsklinikum RWTH

Pauwelsstraße 30

52074 Aachen

Email: sabel@ukaachen.de

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