Zentralbl Chir 2012; 137(6): 592-595
DOI: 10.1055/s-0031-1283882
Historisches
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Chirurg Eduard Borchers (1885–1977) – Ein ungewöhnlicher Fall später Reue? Über die Verstrickung deutscher Chirurgen in den Nationalsozialismus und die ausgebliebene Aufarbeitung

The Surgeon Eduard Borchers (1885–1977) – A Remarkable Case of Remorse? On German Surgery in the Period of National Socialism and the Lack of Accomplishment
R. Kühl
1   Universitätsklinikum Tübingen, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Tübingen, Deutschland
2   Universitätsklinikum Aachen, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Aachen, Deutschland
,
D. Groß
2   Universitätsklinikum Aachen, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Aachen, Deutschland
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Publication Date:
07 May 2012 (online)

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Einleitung

Die deutsche Ärzteschaft hat sich in den ersten Jahrzehnten nach 1945 einer kritischen Auseinandersetzung über ihre Rolle im Dritten Reich weitestgehend verweigert. Dies änderte sich erst in den achtziger Jahren. An der in diesem Jahrzehnt nun intensiv einsetzenden medizinhistorischen Forschung zur NS-Geschichte waren die Bundesärztekammer und die Landesärztekammern nach anfänglichem Zögern aktiv und unterstützend beteiligt. Auch viele Medizinische Fakultäten entschlossen sich seitdem für eine Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit [1]. Erst in jüngster Zeit aber lässt sich beobachten, dass sich auch einzelne medizinische Fachrichtungen der Geschichte der eigenen Verstrickung zuwenden. Hatten die Gynäkologen bereits in den 1990er-Jahren damit begonnen [2], haben in den vergangenen Jahren die Deutsche Gesellschaft für Urologie [3] und die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie entsprechende Forschungsprojekte initiiert [4]. Aktuell verfolgt auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde ein Projekt zu ihrer Geschichte im Nationalsozialismus.

Der vorliegende Beitrag thematisiert diese erst spät einsetzende Aufarbeitung am Beispiel der Zwangssterilisierungen im Nationalsozialismus. In keinen anderen NS-Verbrechenskomplex war die deutsche Chirurgie so unmittelbar und zahlreich involviert. Es waren vor allem Chirurgen, die in den Krankenhäusern die Eingriffe vornahmen. Gleichwohl hat diese Tatsache nach 1945 keine nennenswerten Spuren im Bewusstsein oder im Selbstverständnis des Faches hinterlassen. Auch in der Geschichte der „Anerkennungskämpfe“ (Henning Tümmers) der Zwangssterilisierten als Opfer des Nationalsozialismus sind Vertreter der Chirurgie kaum in Erscheinung getreten [5].

Auf der Suche nach den Hintergründen wird hier an einen in diesen Zusammenhängen ungewöhnlichen und in dieser Form wohl einmaligen Vorstoß eines angesehen Chirurgen in der frühen Nachkriegszeit erinnert: Im April 1947 wandte sich der Perthes-Schüler und spätere Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Eduard Borchers, damals Chefarzt des Aachener Luisenhospitals, an die Fachöffentlichkeit und warb für Refertilisierungsoperationen bei Zwangssterilisierten. Der Beitrag fragt nach den biografischen Hintergründen Eduard Borchers’ im Dritten Reich und untersucht die genauen Intentionen seiner Initiative aus dem Jahr 1947 sowie die Reaktionen innerhalb der Ärzteschaft.