Suchttherapie 2014; 15(03): 104
DOI: 10.1055/s-0034-1385849
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sucht und Alter

Addiction and Aging
F. M. Wurst
,
S. Kuhn
Further Information

Publication History

Publication Date:
12 August 2014 (online)

Zoom Image
Univ.-Prof. Dr. med. Friedrich Wurst

Zoom Image
Dr. Silke Kuhn

Liebe Leserinnen und Leser,

es ist sicher kein Geheimnis mehr, dass unsere Gesellschaft altert. In 2040 werden schätzungsweise 36% der Gesamtbevölkerung über 60 Jahre alt sein. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies 28,6 Millionen Menschen; 1997 waren es lediglich 19,3 Millionen Menschen. Schon heute gibt es in Deutschland 2,5 Millionen Pflegebedürftige. Während die damit verbundenen Probleme – Bezahlbarkeit der Pflege, Pflegenotstand – eine große mediale Aufmerksamkeit erhalten und die Werbung die zahlungskräftige Gruppe der sogenannten „Best Ager“, „Silver Ager“ oder „Golden Ager“ als Konsumenten entdeckt hat, werden alte Menschen mit einem problematischen oder abhängigen Substanzgebrauch nach wie vor wenig wahrgenommen. Nicht ohne Grund spricht man hier auch von einer „Stillen Sucht“ und davon, dass diese Menschen „unsichtbar“ sind. Die in diesem Jahr abgeschlossenen 8 vom BMG geförderten Modellprojekte „Sucht im Alter – Sensibilisierung und Qualifizierung von Fachkräften in der Alten- und Suchthilfe“, die von der Baden-Württemberg Stiftung geförderten Projekte sowie das Projekt SANOPSA der Katholischen Hochschule in Köln zur netzwerkbasierter Optimierung der Pflege, um nur ein paar Beispiele zu nennen, konnten zeigen, dass ein großer Bedarf an der Entwicklung von Unterstützungsmaßnahmen für alte Menschen mit Suchterkrankungen besteht. Auch der Kooperationstag 2013 der DHS trug die Überschrift „Sucht und Altenhilfe“. Nach wie vor ist jedoch unklar, wie alte, suchtkranke Menschen außerhalb der professionellen Pflege erreicht werden können. Ein Haupthindernis, suchttherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, und das gilt im besonderen Maße für die Späteinsteiger, ist die Scham, aber auch die Unwissenheit über die Gefährlichkeit des eigenen Konsums. Die altersbedingte Veränderung des Stoffwechsels führt zu einer Abnahme der Alkoholtoleranz und u. U. bei gleichbleibendem Konsum zu gesundheitlichen Problemen. Ältere Menschen nehmen häufig sehr viele unterschiedliche Medikamente ein. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Psychopharmaka, hier speziell auf den häufig verordneten Benzodiazepinen.

Trotz leicht steigender Behandlungszahlen älterer Menschen in den Einrichtungen der Suchthilfe sind spezifische Behandlungskonzepte selten. Die Hemmnisse sind vielfältig und sowohl in der Struktur der Einrichtungen, wie ungünstige Öffnungszeiten oder schlechte Erreichbarkeit, als auch in der konzeptionellen Ausrichtung zu finden. Die Ziele der Behandlung, jenseits einer Wiedereingliederung in das Berufsleben, müssen neu definiert werden. Geriatrische Kenntnisse und ein vertieftes Wissen über Wirkungen und Nebenwirkungen, speziell von Psychopharmaka, können bei den Mitarbeitenden der Suchthilfe nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Das Abstinenzparadigma muss überdacht und ggf. zu Gunsten einer Risikoeinschätzung des Konsums aufgegeben werden.

Die Ergebnisse des länderübergreifenden INTERREG-Projektes zu Alkohol- und Benzodiazepinkonsum älterer und hochbetagter Menschen verdeutlichen den Bedarf von Ärztinnen und Ärzten an Behandlungskonzepten. Isabella Kunz und ihre Mitautoren zeigen auch die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und dem von den Pflegekräften wahrgenommenen Konsum. Durch die gestiegene Lebenserwartung drogenabhängiger Menschen nehmen auch bei dieser Gruppe altersbedingte Begleiterkrankungen zu. Kenneth M. Dürsteler-MacFarland und Co-Autoren verdeutlichen in ihrem Beitrag die vielfältigen Probleme älterer Patienten in Substitutionsbehandlungen und die damit gestiegenen Anforderungen an die Behandler. Clemens Sedmak betrachtet die ethischen Aspekte von „Sucht und Alter“ und lädt die Leser dazu ein, sich Gedanken über ihre eigene Haltung dieser Personengruppe gegenüber zu machen. Er macht erfahrbar, wie wichtig und schwierig es in der Behandlung ist, die Balance von Selbstbestimmung und Verantwortung zu halten. Die Pflege suchtkranker alter Menschen ist für die stationäre Altenhilfe eine Herausforderung. Der Pflegewissenschaftler ­Andreas Kutschke zeigt praxisnah Möglichkeiten der Intervention im eng getakteten Pflegealltag auf.

Unabhängig vom Schwerpunkt analysieren Jan Chodkiewicz und Kollegen die Rückfallsitua­tionen bei alkoholabhängigen Männern anhand des Persönlichkeitsmodells von Cloninger und geben Hinweise darauf, welche Bedeutung dies bei der Behandlung von Suchterkrankungen haben kann. Tobias Heyer und Co-Autoren stellen empirische Befunde zur habituellen Stressverarbeitung von pathologischen Glücksspielern vor. Typabhängige Copingstrategien sollten sowohl bei der Behandlung als auch bei der Konzeption von Suchtpräventionsprogrammen stärker beachtet werden.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und hoffen, mit unserem Schwerpunktthema alte suchtkranke Menschen etwas „sichtbarer“ gemacht zu haben.

Friedrich Wurst
Silke Kuhn