Gesundheitswesen 2014; 76(08/09): 513-517
DOI: 10.1055/s-0034-1385861
Zur Diskussion
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Plädoyer für eine Stärkung der klinischen Sozialmedizin

Sozialmedizinische Weiterbildung in Einrichtungen der AkutmedizinPlea for a Strengthening of Clinical Social MedicineTraining in Social Medicine in Acute Care Facilities
E. Simoes
1   Department für Frauengesundheit des Universitätsklinikums Tübingen
2   Stabsstelle Sozialmedizin des Universitätsklinikums Tübingen
,
J. G. Gostomzyk*
5   Landeszentrale für Gesundheit in Bayern
,
F. W. Schmahl
3   Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung Universitätsklinikum Tübingen
,
M. Bamberg
4   Universitätsklinikum Tübingen
,
S. Y. Brucker
1   Department für Frauengesundheit des Universitätsklinikums Tübingen
,
D. Wallwiener
1   Department für Frauengesundheit des Universitätsklinikums Tübingen
› Author Affiliations
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Johannes G. Gostomzyk
Ltd. Med. Direktor a.D.
Schwangaustraße 2
86163 Augsburg

Publication History

Publication Date:
10 September 2014 (online)

 

Zusammenfassung

Die Sozialmedizin befasst sich in einer sich ständig verändernden Gesellschaft mit den sozialen und ökonomischen Bedingungen, die auf Gesundheit, Krankheit und die medizinische Versorgung Einfluss nehmen. Eine umfassende medizinische Versorgung benötigt daher Ärzte[1], die für ihre Patienten über die biomedizinischen Problemstellungen hinaus Krankheit im Kontext der sozialen Belange der einzelnen Person erkennen und systematisch in ihre Präventions-, Therapie- und Rehabilitationskonzepte einbringen.

Das System der sozialen Sicherung, insbesondere das Gesundheitssystem erfordert im medizinischen Handeln von Ärzten die Kompetenz, Pa­tienten zur bedarfsgerechten Inanspruchnahme von Leistungen aus dem System der sozialen Sicherung zu verhelfen. Nach der Weiterbildungsordnung für Ärzte umfasst die Zusatzweiterbildung „Sozialmedizin“ auch die „Bewertung von Art und Umfang gesundheitlicher Störungen und deren Einordnung in die Rahmenbedingungen der sozialen Sicherungssysteme“. Diese Bewertung ist eine Aufgabe der Medizinischen Dienste in den verschiedenen Zweigen der gesetzlichen Sozialversicherung. Sie wird in der Praxis auch von sozialmedizinisch tätigen Ärzten in Einrichtungen der Akutmedizin erbracht.


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Abstract

Social medicine is concerned – in the midst of a constantly changing society – with the social and economic conditions that influence health, disease and medical care. A comprehensive medical care therefore requires medical doctors who, beyond the biomedical issues, realize diseases in the context of the social needs of the individual person and systematically include these in their prevention, treatment and rehabilitation concepts.

The system of social security, particularly the health care system, depends on medical doctors’ expertise in helping patients for the appropriate use of services from the system of social security. According to the German professional education regulations for doctors the additional specialization in “social medicine” also includes the competence for “assessment of the nature and extent of health disorders and their classification in the framework of social security systems”. This judgment is one part of the tasks of the Medical Services belonging to the various branches of the social security system. It is also provided in practice by medical doctors with competence in social medicine working in acute care facilities.


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Einführung

Die Interaktionen zwischen Gesundheit/Krankheit und sozialer Lage gewinnen mit wachsender sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft an Bedeutung für die Entstehung von Krankheiten und für die medizinische Versorgung. Bevölkerungsrepräsentative Erhebungen des RKI (KIGGS-Studie u. a.), Armutsberichte des Bundes, der Länder, der Träger der Freien Wohlfahrtspflege und zahlreiche wissenschaftliche sozialepidemiologische Studien präzisieren auch quantitativ die aktuelle Entwicklung von Ungleichheit in der Bundesrepublik, auch bezüglich der Verteilung der Gesundheitschancen.

Angesichts existenzieller Notlagen von Arbeitern und Handwerkern in der Zeit des industriellen Wandels formulierten R. Virchow und S. Neumann 1848 ihre Perspektiven für die Rolle der Medizin in der Gesellschaft: „Medizin ist eine sociale Wissenschaft“. Heute leisten auf der Basis sozialstaatlicher Regelungen sozialmedizinisch tätige Ärzte in den Medizinischen Diensten der Sozialversicherungen (Kranken-, Unfall-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosen-Versicherung) als Gutachter wichtige Beiträge zur Versorgungssicherheit bei Krankheit, Invalidität und Pflegebedürftigkeit. Sie werden oft als „Sozialversicherungsmediziner“ wahrgenommen. In der gegenwärtigen Situation bei zunehmender sozialer und damit verbunden auch gesundheitlicher Ungleichheit in unserer Gesellschaft und eines Gesundheitssystems, in dem die gewinnorientierte Gesundheitswirtschaft an Einfluss gewinnt, ist es notwendig, die Rolle der klinischen Sozial­medizin zu präzisieren und gleichzeitig ihre Bedeutung zur Sicherung einer bedarfsorientierten Chancengerechtigkeit in unserem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem weiterzuentwickeln. Der Weg zum Erhalt einer nachhaltig inklusiven medizinischen Versorgung führt über die Förderung sozialmedizinischer Kompetenz bei Ärzten und Gesundheitskompetenz bei Patienten.

Empirie und wissenschaftliche Beobachtung zur ungleichen Verteilung von Morbidität und Mortalität zwischen sozialen Gruppen, abhängig von Faktoren wie Bildung, Einkommen, Inklusion, Region, Migration u. a., führten zu der Einsicht, dass diese Störungen der Gesundheit sozialer Intervention zugängig sind. Vermeidbare Morbidität und vorzeitige Sterblichkeit aus sozialen Ursachen sind deshalb eine Herausforderung für die Sozialpolitik und für die Sozialmedizin. Auch die Medizin selbst ohne Reflektion ihrer sozialen Rolle bliebe ein Torso und könnte ihre Aufgaben in unserer Gesellschaft nicht voll erfüllen [1].

Die Sozialmedizin hat auch das Gesundheitssystem und seine Leistungen im Blick. Seit den 1980er Jahren geschieht dies vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Reformgesetzgebungen zur Gesetzlichen Krankenversicherung und zur Sozialen Pflegeversicherung. Jede Reform des Systems der Hilfeleistung und seiner Regulation geht einher mit einem Wandel der sozialen Konzeptualisierung der Verantwortung für die Gesundheit.

Das deutsche Gesundheitssystem wird im Hinblick auf die Zugänglichkeit und den solidarisch finanzierten Leistungskatalog im internationalen Vergleich hoch bewertet. Es beinhaltet in der Gesetzlichen Sozialversicherung mit den zentralen Gestaltungsprinzipien Solidarität und Eigenverantwortung (Subsidiarität) einem auf gesundheitliche Chancengleichheit ausgerichteten Ansatz. Weitere Komponenten sind privaten Krankenversicherungen, Selbstbehalte, Sozialhilfe u. a., sodass sich in der Summe ein gemischtes System ergibt. Steuerungsinstrumente im System sind z. B. Steuerung durch Wissenschaft [Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien], über Produktdefinitionen, durch Qualitätsanforderungen, durch Gesundheitsökonomie, Wettbewerb und Gesundheitspolitik. Die Auswirkungen von Steuerungen zu verfolgen und zu bewerten, ist Aufgabe der Sozialmedizinischen Dienste in der Praxis, der wissenschaftlichen Sozialmedizin in der Forschung sowie der interdisziplinären Versorgungsforschung. Widersprüche zu den übergeordneten Zielsetzungen, die u. a. in § 70 SGB V „Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit“ niedergelegt sind, bedürfen der Transparenz. Dies gilt ebenso für implizite Allokationsentscheidungen, die durch Klassifikationssysteme oder Normierungen ausgelöst werden [2]. Die implizierte Ausblendung individueller psycho-sozialer Bedarfe von Patienten/Innen durch Produktdefinitionen (z. B. EBM, DRGs) zeichnet ein weiteres aktuelles Aufgabenfeld angewandter Sozialmedizin vor. Niehoff [3] umreißt die Problematik folgendermaßen:

Es „…galt bisher, dass medizinische Versorgung als besondere personale und individuelle soziale Dienstleistung sich einer Produktdefinition entzieht. … Wenngleich für viele Leistungsarten möglich, bleibt als Schlüsselproblem die Verdrängung sozialer Versorgungsaufgaben aus der Medizin. Sie kann besonders für die ältere Bevölkerung dramatisch werden, da deren Hilfebedarf häufig nicht mehr medizinisch-interventiver Natur (Diagnostik und Therapie) sondern sozialer Natur ist, die durch die Medizin zusätzlich wahrgenommen wird. Dies war und ist zwingend, weil soziale und psychische Hilfedefizite regelhaft auch als körperlicher Leidenszustand erlebt werden. Besonders solche Probleme werden durch den Übergang zu einer Produktorientierung zunehmend aus dem ­Medizinsystem verdrängt.“


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Sozialmedizin im Sozialgesetzbuch (SGB)

Das Recht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen gestalten (SGB I § 1). Auf der Grundlage der Bestimmungen des SGB, insbesondere des SGB V (Soziale Krankenversicherung) erfolgen die Bewertungen medizinischer Befunde zur Klärung von Behandlungs- und sonstigen Versicherungsansprüchen der Versicherten. Diese Klärung ist unverzichtbarer Teil der Tätigkeit Medizinischer Dienste. Bspw. ist der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) – seit seiner Gründung im Rahmen des Gesundheitsreformgesetzes (§ 275 ff. SGB V) im Jahr 1988 – zuständig für Begutachtungsaufgaben für die Gesetzliche Krankenversicherung und seit 1994 auch für die Soziale Pflegeversicherung (SGB XI). Die Ärzte der Medizinischen Dienste repräsentieren den öffentlich-rechtlichen Auftrag der angewandten Sozialmedizin. Das historisch gewachsene Selbstverständnis der Sozialmedizin reicht aber darüber hinaus, auch in den klinischen Bereich ([Tab. 1]).

Tab. 1 Sozialgesetzbuch (SGB): Bücher mit sozialmedizinischen Aufgaben.

SGB III Arbeitsförderung

SGB V Gesetzliche Krankenversicherung

SGB VI Gesetzliche Rentenversicherung

SGB VII Gesetzliche Unfallversicherung

SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe

SGB IX Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen

SGB XI Soziale Pflegeversicherung

SGB XII Sozialhilfe


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Klinische Sozialmedizin in der Akutmedizin

Für die bedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung der Versicherten und dem Gebot der Gleichmäßigkeit der Versorgung (§ 70 SGB V) ist es von Bedeutung, dass sozialmedizinische Kompetenzen behandelnder Ärzte die Patienten bereits in der Akutmedizin erreichen. Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen präzisiert dazu den Versorgungsbedarf. Danach ist Versorgungsbedarf ein Zustand, „dessen Behandlung durch spezifizierbare Leistungen gesundheitlichen Nutzen erwarten lässt“ [4]. Bedarf, der aufgrund individuell wahrgenommener oder objektiver Zugangsschwellen nicht zur Inanspruchnahme führt, ist demnach ein Versorgungsdefizit. Die Analyse von Versorgungsdefiziten und die Entwicklung von Strategien zur Reduktion von Versorgungsungleichheiten sind Anliegen sozialmedizinischer Praxis und Forschung [5]. In der derzeitigen diesbezüglich oft defizitären Versorgungssituation ergibt sich daraus der Bedarf, auch in Einrichtungen der Akut-Medizin strukturierte Weiterbildung zum Erwerb der Zusatzqualifikation Sozialmedizin zu ermöglichen und zu fördern.


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Weiterbildung zur Zusatzbezeichnung Sozialmedizin

Seit Einführung des Gesundheitsreformgesetzes 1988, spätestens mit dem „Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-Modernisierungsgesetz) im Jahr 2003 mit Verstärkung des Wettbewerbes der verschiedenen Versorgungsformen im Gesundheitswesen (Disease-Management-Programme, integrierte Versorgung, Neuordnung von Vergütungsformen u. a.) erscheint für das ärztliche Handeln zur Sicherung einer bedarfsorientierten und versicherungsrechtlich gesicherten Versorgung der Patienten, insbesondere chronisch kranker Menschen, im Rahmen der klinischen Medizin sozialmedizinische Kompetenz unverzichtbar. Sozialmedizinische Kompetenz fördert eine Medizin, die bestimmt ist vom Blick auf den Menschen [6] und dabei die Rolle des Arztes patientennah definiert.

Die derzeit geltende (Muster)-Weiterbildungsordnung (MWBO) wurde durch den 106. Deutschen Ärztetag 2003 verabschiedet und dient den jeweiligen Landesärztekammern als Vorlage für ihre eigene Verordnung.

Die WBO der Landesärztekammer Baden-Württemberg (als Beispiel) sieht derzeit folgende Anforderungen für den Erwerb der Zusatzbezeichnung Sozialmedizin vor: Basisvoraussetzung ist eine Facharztanerkennung. Abweichend davon kann in Bayern eine 4-jährige Weiterbildung in einem Gebiet der unmittelbaren Patientenversorgung die Basis bilden. Zur Weiterbildung gehören ferner 12 Monate Weiterbildungszeit bei einem weiterbildungsbefugten Arzt mit der Zusatzqualifikation Sozialmedizin gemäß §5 Abs.1 WBO. Außerdem ist die Teilnahme an 160 Stunden Grundkurs in Sozialmedizin und Rehabilitationswesen und anschließend 160 Stunden Aufbaukurs nachzuweisen (gemäß §4 Abs. 8 WBO). Die praktischen Weiterbildungsinhalte sind im Logbuch „Zusatzweiterbildung Sozialmedizin“ der (Muster-) WBO der Bundesärztekammer aufgelistet und ggfs. begleitend zum Weiterbildungsprozess auszufüllen. Mit dem erfolgreichen Abschluss einer Prüfung bei der Landesärztekammer wird schließlich die Berechtigung zur Führung der Zusatzbezeichnung Sozialmedizin erlangt.

Weiterbildungsbefugte Ärzte für Sozialmedizin haben gegenüber der Landesärztekammer ihre eingehende Erfahrung im Fachgebiet und die Eignung der Ausbildungsstätte für den Erwerb der genannten Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten nachzuweisen.

Von den im Kursbuch Sozialmedizin angeführten allgemeinen Weiterbildungsinhalten sind viele den Wechselwirkungen zwischen Gesundheit/Krankheit und Gesellschaft zuzuordnen, so bspw. die psychischen, umweltbedingten und interkulturellen Einflüsse auf die Gesundheit und die Strukturen des Gesundheitswesens. Die Pathogenese von Krankheiten wird ergänzt um das Konzept der Salutogenese. Im speziellen Teil nehmen die sozialversicherungsmedizinischen Anteile einen breiten Raum ein. Nach dem Geist der Weiterbildungsordnung soll die gesamte Breite sozialmedizinischer Anliegen Raum haben und in den konkreten Weiterbildungssituationen Vertiefung und Erweiterung erfahren.

Kurse in den Sozialmedizinischen Akademien als Teil der Weiterbildung

Ärzte in den medizinischen Diensten der Sozialversicherungsträger oder auch in Einrichtungen der Rehabilitation benötigen für ihre Begutachtung und Beratung eine spezifische Systemkompetenz. Der erforderliche Theorieteil wird in sozialmedizinischen Akademien angeboten. Der Rahmen ist im Kursbuch „Sozialmedizin“ [7] abgesteckt. Die Themen sind in [Tab. 2] zusammengefasst.

Tab. 2 Themen in den Kursen der Sozialmedizinischen Akademien.

Folgende Themen sind Gegenstand

im Grundkurs:

– Grundlagen der Sozialmedizin und der Gesundheitsversorgung

– System der sozialen Sicherung

– Grundlagen und Grundsätze der Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Prävention

– Leistungsarten, -formen und Zugang zur Rehabilitation

im Aufbaukurs:

– Arbeitsmedizinische Grundbegriffe

– Grundlagen der Begutachtung, Rechtsfragen

– Spezielle sozialmedizinische Begutachtung

– Leistungsdiagnostik und Beurteilungskriterien bei ausgewählten Krankheitsgruppen

Ärzte, die in Kliniken oder in niedergelassenen Praxen tätig sind, finden ihre Anliegen im Kursangebot der Akademien teils wieder, teils gehen ihre Bedarfe darüber hinaus. Sofern bei der Ausgestaltung der einzelnen Kapitel die Schwerpunktsetzung variiert, eingehend auf die jeweiligen Kursteilnehmenden, kann sich eine bereichernde Erweiterung des Blickwinkels ergeben. Dem zunehmenden Bedarf an sozialmedizinischer Weiterbildung aus den Reihen der akutmedizinisch tätigen Ärzte sollte die Aufnahme bzw. Betonung in diesen Versorgungsbereichen auftretender sozialmedizinischer Problemstellungen in das Curriculum der Akademien entgegenkommen. Hierzu zählen bspw.:

  • Soziale Lage und Gesundheit

  • Bewertung von Kontextfaktoren

  • Gesundheitliche Folgen aus prekärer sozialer Ungleichheit

  • Chronisch kranken Menschen und soziale Hilfen

  • Patienten ohne Versicherungsanspruch


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Weiterbildungsstätten und Begutachtungsschwerpunkte

In der geltenden WBO für den Erwerb der Zusatzbezeichnung Sozialmedizin sind Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten für die Begutachtung gefordert. Dafür können unterschiedliche Einrichtungen (Medizinische Dienste verschiedener Versicherungszweige, Rehabilitationskliniken, Öffentlicher Gesundheitsdienst) als Weiterbildungsstätten für Sozialmedizin dienen. Jede Art von Weiterbildungsstätte nach § 5 WBO hat gemäß ihrem Versorgungsauftrag inhaltliche Schwerpunkte und dementsprechend ein eigenes Weiterbildungsprofil mit den Möglichkeiten zur Vertiefung spezieller Inhalte. Sozialmedizin aus praktischer Sicht bleibt in ihren Grundzügen als angewandte Wissenschaft eine am Einzelfall orientierte Medizin [8].

Keine der zur Weiterbildung berechtigten Einrichtungen vertritt das gesamte sozialmedizinische Gutachtenspektrum der Sozialgesetzgebung. Vielmehr kennzeichnen gerade unterschiedliche Begutachtungsschwerpunkte die Ausbildungsstätten. Bspw. werden Pflegegutachten auf der Grundlage von § 18 SGB XI in hoher Zahl innerhalb der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK) erstellt. Dementsprechend sind die Medizinischen Dienste der Rentenversicherung nicht zuständig, ebenso wenig fällt diese Aufgabe in den Bereich der Rehabilitationskliniken. Dennoch kann die gesamte Weiterbildung zur Zusatzbezeichnung Sozialmedizin an einer Einrichtung absolviert werden.

Entsprechendes gilt z. B. für die Begutachtung zur Feststellung von Schwerbehinderung, die nach § 2 Abs. 2 SGB IX in die Zuständigkeit der für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden fällt, im Zusammenwirken mit ihren medizinischen Gutachtern. Die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung, aber auch Einrichtungen der akut-medizinischen Versorgung, befassen sich mit diesen Gutachten und dem dahinterstehenden Regelwerk häufig mittelbar, bspw. im Rahmen von Begutachtungen zur Arbeitsunfähigkeit, bei Stellungnahmen zur Hilfsmittelversorgung oder Mobilität und sie liefern Unterlagen, Stellungnahmen, Befunde usw.

Neben den jeweiligen einrichtungsspezifischen Begutachtungsschwerpunkten werden die anderen Bereiche sozialmedizinischer Begutachtung mittelbar, d. h. durch Kenntnis der sozialrechtlichen Grundlagen, der Verfahrensordnungen, der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ und der Anwendung grundlegender sozialmedizinischer Prinzipen erfahren und gelernt. Kliniken der Akut- und Maximalversorgung werden ständig um Begutachtungen zu sozialmedizinischen Fragestellungen gebeten, die letztlich alle Bereiche medizinischer Begutachtung in der Sozialgesetzgebung berühren, mit Betonung des SGB V (Gesetzliche Krankenversicherung). Besondere Schwerpunkte sozialmedizinischer Begutachtung in Kliniken liegen in Gerichtsverfahren zur Notwendigkeit und Erlangung von Leistungen aus dem sozialen Sicherungssystem, bei Fragestellungen zu individuell oder systemisch verursachten Medizinschäden, bei Auseinandersetzungen zwischen Sozialleistungsträgen z. B. zu Zusammenhängen zwischen Unfällen und Rechtsansprüchen aus medizinischen Folgen, zur Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit oder bei Auseinandersetzungen um die Zuerkennung von Schwerbehinderung, um nur einige Beispiele zu nennen.

Fortbildungsangebote für Sozialmedizin

bestehen in ganz unterschiedlichem Rahmen, sei es einrichtungsintern in den sozial­medizinischen Gutachterdiensten, in den sozialmedizinischen Akademien der verschiedenen Bundesländer oder im Rahmen entsprechender Kongresse wie bspw. die jährlichen Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP).


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Die Aufgaben klinischer Sozialmedizin

Der behandelnde Arzt entwickelt durch seine Weiterbildung in Sozialmedizin an einer Akutklinik die Fähigkeit zur Zusammenschau der rein klinischen und der sozialmedizinischen Aufgaben. Das bedeutet Einbezug der konkreten sozialen Lage seines Patienten mit den Rahmenbedingungen des sozialen Sicherungssystems bereits in der Akutbehandlung. Dies kommt einem steigenden Bedarf der Bürger, insbesondere als Patienten, an kompetenter Begleitung durch das Gesundheits- und das ­Sozialversicherungssystem nach.

Im Umfeld der Akutmedizin erreichen auch Gestaltungsaufgaben der Sozialmedizin, wie Präventions- und Rehabilitationskonzepte und Angebote zur Stärkung von Gesundheitsmündigkeit der Patienten viele Menschen, die von anderen Bereichen der Sozialmedizin, insbesondere den sozialmedizinischen Gutachterdiensten, nicht erreicht werden. Der Einbezug von sozialmedizinischen Themen in die klinische Weiterbildung und ­Forschung sowie deren Weitergabe in der studentischen Ausbildung[2] sind weitere Aufgaben, insbesondere an universitären Einrichtungen.

Die pflegerische Versorgung de Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe (§ 8 SGB XI, Soziale Pflegeversicherung). Zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit wurde 1994 die Soziale Pflegeversicherung in der Trägerschaft von Pflegekassen für Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen geschaffen. Wer bei einer privaten Krankenkasse versichert ist, muss eine private Pflegeversicherung abschließen. Den Pflegebedürftigen soll ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden, das der Würde des Menschen entspricht (§ 2 SGB XI).

Art und Umfang der Leistungen der Pflegeversicherung richten sich nach der Schwere der Pflegebedürftigkeit und danach, ob häusliche, teilstationäre oder vollstationäre Pflege in Anspruch genommen wird. Die Pflegekassen beauftragen den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder andere unabhängige Gutachter mit der Prüfung, ob die Voraussetzungen zur Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit vorliegt (§ 18 SGB XI). Als Pflegebedürftig gilt, wer wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer der Hilfe bedarf.

Im Bedarfsfall ist die Begutachtung des individuellen Pflegebedarfes bzw. der Pflegestufe dem von der Pflegekasse beauftragten Gutachter zugewiesen. Dieser kann hinsichtlich Pflegebedarf und Leistungsgerechtigkeit im Verfahren gut begründet Stellung beziehen, wenn bereits von sozialmedizinisch kompetenten Ärzten erbrachte Vorarbeiten zu Krankheitsursachen und Folgen sowie zur Einschätzung von rehabilitativen Interventionspotenzialen vorliegen. Der Übergang eines Patienten in eine geeignete Pflegeeinrichtung erfordert eine Weichenstellung bereits während vorausgehender Krankheitsverläufe und ist für den betroffenen Menschen in Würde zu gestalten [10]

Die sozialmedizinische Zuwendung richtet sich hierbei aber nicht nur auf den Pflegebedürftigen selbst, sondern auch auf die Pflegenden, insbesondere auf Menschen mit informeller Pflegeverpflichtung, deren Mehrfachbelastung in Therapie- und Rehabilitationskonzepten frühzeitig Würdigung erfahren sollte [9] [10]. Als Perspektive wird deutlich, Pflegebedürftige profitieren von der Stärkung sozialmedizinischer Kompetenz von Klinikärzten durch Weiterbildung, weil ärztliche Behandlung, sozialmedizinische Begutachtung, medizinische Behandlungspflege und mögliche Rehabilitationsmaßnahmen miteinander besser koordiniert werden können.


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Schlussfolgerungen

Sozialmedizin umfasst eine Kompetenz, für die zunehmend in allen Bereichen der Medizin Bedarf besteht. Dazu zählen regulierende Begutachtungen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme ebenso wie die sorgfältige Beachtung gesundheitlicher Chancengleichheit in der Versorgung und in der Therapiegestaltung, welche die Arbeits- und Lebenswelt der Patienten einbezieht. Im Bedarf an sozialmedizinischen Qualifizierungsangeboten spiegelt sich die Vielfalt der Aufgabengebiete angewandter Sozialmedizin [11].

Die Weiterbildung für Sozialmedizin an Institutionen der akutmedizinischen Versorgung stärkt bei den behandelnden Ärzten die Sensibilität für die reale Lebenswelt und das soziale Umfeld des einzelnen Patienten und in der Medizin wird die Weiterentwicklung der klinischen Sozialmedizin ausgerichtet an gesellschaftlichen und individuellen Bedarfen.

Damit kann der Weg zur Sicherung gesundheitlicher Chancengleichheit im System der sozialen Sicherung und die Leistungsgerechtigkeit für den einzelnen Patienten frühzeitig auch bei komplexen Problemstellungen nachhaltig gebahnt werden.


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Interessenkonflikt:

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

* Die beiden erstgenannten Autoren haben zu gleichen Teilen zur Publikation beigetragen.


1 Für eine bessere Lesbarkeit wird bei der Angabe von Personenbezeichnungen nur die männliche Sprachform verwendet.


2 Z. B. Schmahl FW, Vorlesung Klinische Sozialmedizin 1979–1985, Universitätsklinikum Gießen



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Prof. Dr. med. Johannes G. Gostomzyk
Ltd. Med. Direktor a.D.
Schwangaustraße 2
86163 Augsburg