Gesundheitswesen 2014; 76(08/09): 468-469
DOI: 10.1055/s-0034-1387760
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Vielfalt des Alterns

Prof.Dr.med. Manfred Wildner
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Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für
Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

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Publication Date:
10 September 2014 (online)

 
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Prof. Dr. med. Manfred Wildner

Die Ansichten über das Alter sind durchaus geteilt. Während der römische Philosoph Cicero in seiner Schrift „Cato der Ältere über das Alter“ das höhere Lebensalter geradezu lobt und Klugheit und Wissen, das persönliche Ansehen und das damit verbundene gesellschaftliche Gewicht herausstellt, ist der britische Bio- und Anthropologe Aubrey de Grey durchaus anderer Ansicht. Von ihm wird das Altern wie eine Krankheit gesehen, welche vor allem durch schädliche biochemische Prozesse gekennzeichnet ist. Seiner Ansicht nach verursacht das Altern hohe gesellschaftliche Kosten durch einen unnötigen Verlust an Menschenleben, vergleichbar mit anderen Volkskrankheiten wie Herzkreislaufkrankheiten oder Krebs. „Altern ist […] ungesund“, so seine griffige These – verbunden mit dem Ausblick, durch wissenschaftlichen Fortschritt innerhalb der nächsten 25 Jahre ein 1 000-jähriges Leben zu ermöglichen [1] [2].

Menschen altern und die Gesundheit in den verschiedenen biologischen Funktionsbereichen ist nicht leicht zu erhalten bzw. wieder herzustellen. Dass beim Menschen spezifische Veränderungen mit dem Altern verbunden sind, ist unstrittig. Diese lassen sich auf biochemischer Ebene als Akkumulation von Abfallprodukten des Stoffwechsels beschreiben, u. a. als kumulativer Effekt freier Radikale. Auf Organebene sind Verluste der Fähigkeit zur Adaption in verschiedenen Bereichen zu beobachten: In Form der unausweichlichen Altersweitsichtigkeit, von Einschränkungen der Kapazitäten von Herz und Lunge, von Veränderungen an den Gefäßen mit steigenden Risiken von Infarkten, von Veränderungen der Elastizität der Bandscheiben und der Knochenstruktur, letztere bei Frauen infolge der Menopause. Auch die organischen Hirnfunktionen sind betroffen: Krankheiten wie Morbus Parkinson, Gedächtnis- und Kognitionsverluste sowie verschiedene Formen der Demenz steigen mit dem Alter stark an. An sich verfügt das Gehirn über hervorragende Kompensationsmechanismen. Eine Besonderheit der Beeinträchtigungen der organischen Hirnfunktionen liegt, z. B. bei fortgeschrittenen Demenzerkrankungen, in der dann eingeschränkten Möglichkeit zur Kompensation. Während Funktionsstörungen wie eine eingeschränkte Beweglichkeit oder eine altersbedingte Inkontinenz bei intakter Hirnfunktion funktionell und sozial kompensiert werden können, entfällt diese Möglichkeit bei direktem Betroffen-Sein des Gehirns. Hier stellen sich besondere Herausforderungen an das soziale Umfeld.

Die Auswirkungen und die Beziehungen zum Gesundheitswesen sind dabei mindestens so vielfältig wie die Altersauswirkungen im individuellen Bereich. Allgemeines Ziel von altersorientierten Programmen zur Versorgung, Prävention und Gesundheitsförderung ist die Aufrechterhaltung eines selbstständigen, eigenverantwortlichen Lebens und der Teilhabe an der Gesellschaft. Dieses Ziel ist bei vernünftiger Betrachtung wohl auch unstrittig. Anderseits gibt es bei einer solchen vernünftigen Betrachtung durchaus verschiedene Aspekte zu beachten. Der Medizinethiker ­Giovanni Maio weist bspw. darauf hin, dass als Auswirkung unserer Leistungsgesellschaft die Tendenz besteht, den Menschen als „Unternehmer seiner selbst“ und den Körper als „Biokapital“ in autonomer Zuständigkeit zu deuten [3]. Er warnt davor, dass Alter mit seiner Hilfsbedürftigkeit als Schwundstufe des Menschen zu betrachten und regt an, den alt Werdenden und alten Menschen „für das zu achten, was er ist und nicht für das, was er kann“ [3]. Das mittlere Lebensalter sollte nach seiner Auffassung als Durchtrittsalter verstanden werden, nicht als Modell für das ganze Leben. Die Fähigkeit, im Alter Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und die durch die Knappheit der verbliebenen Lebenszeit geförderte Unbestechlichkeit älterer Menschen sei eine wertvolle gesellschaftliche Ressource. Bei dieser sehr positiven Sicht sind bei kritischer Betrachtung sicherlich Ideal und Realität auch noch einmal zu differenzieren.

Damit ist auch schon eine gesellschaftliche bzw. bevölkerungsorientierte Betrachtungsweise des Alters angesprochen. Häufig zitiert ist die doppelte demografische Alterung, d. h. die Zunahme sowohl des Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung wie auch des Anstiegs der Zahl der Hochbetagten innerhalb des Segmentes älterer Menschen. Dass eine Gesellschaft des langen Lebens auf diese Errungenschaft für fast alle Menschen stolz sein kann und sollte, sei hier ausdrücklich formuliert. Inwieweit dies mit einer Kompression der altersbedingten Krankheiten verbunden ist, also mit einem Überwiegen der Lebenszeit ohne Krankheit und Behinderung innerhalb der gewonnen Lebensjahre, ist noch nicht entschieden. Hinweise darauf gibt es. Dass auch Lebensjahre mit Einschränkungen und Krankheiten ein Gewinn an Lebenszeit in Qualität sein können, sollte nicht vergessen werden. Wie könnte in Nachfolge der Großfamilie ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen den Generationen aussehen? Neue Strukturen mit sozialen Unterstützungsfunktionen wie Seniorenbüros mit Einbindung der Ressource älterer Menschen sind eine mögliche Antwort. Auch eine weitere individuelle Selbstentfaltung darf Raum bekommen. Die Posterwerbsphase ist heute ­zumeist eine vorletzte Lebensphase, mit erfreulichen Potenzialen und einer ferneren Lebenserwartung von 2 Jahrzehnten. Ein verantwortungsvoller Umgang mit der letzten Lebensphase vor dem Tod wird zu Recht von der Hospizbewegung und der Palliativmedizin angemahnt.

Welche Auswirkungen sind aus dieser doppelten demografischen Alterung auf unsere sozialen Sicherungssysteme zu erwarten? Sind diese gar bedroht? Hier werden von ökonomischer Seite durchaus differenzierte Antworten gegeben. Das Verhältnis von jungen zu älteren Menschen ist, vielleicht überraschend, nicht die primäre Stellschraube bzgl. der Nachhaltigkeit der sozialen Sicherungssysteme. Hier sollte bewusst differenzierter von dem Verhältnis zur Anzahl von Leistungsbeziehern zu der Anzahl an Beitragszahlern gesprochen werden sowie auf die durchschnittliche Höhe der Leistungen bezogen auf die Beitragshöhe abgestellt werden [4]. Die Auswirkungen der Zunahme von (solo-) Selbstständigen, teilzeit- bzw. geringfügig Beschäftigten sind ebenfalls zu beachten.

Vielleicht wichtiger als die bisher angesprochenen Faktoren sind die Entwicklung des Humankapitals durch verbesserte Aus- und Fortbildungen, das eingesetzte Realkapital und der technische Fortschritt. Diese determinieren den Leistungs- und Lebensstandard einer Gesellschaft mehr als andere Faktoren. Zudem ist eine langfristig wirksame Produktivitätssteigerung unverändert eine realistische Annahme. Hierfür ist auch die Gesundheit der Beschäftigten ein wichtiger Faktor: Produktivitätsgewinne ­sollten nicht durch eine die Gesundheit schädigende Leistungsverdichtung im Arbeitsleben mit einerseits immer kürzeren Ausbildungszeiten und andererseits einer verlängerten Erwerbstätigkeit wieder verspielt werden. Die verbreitete Zunahme von psychischen Erkrankungen mit Bezug zum Erwerbsleben in vielen entwickelnden Marktwirtschaften muss auch unter diesem Aspekt gesehen werden. Dem sollte aktiv in einer breiten Koalition aller gesellschaftlichen Partner entgegengewirkt werden.

Unter dem gesamtgesellschaftlichen Ziel eines selbstständigen, eigenverantwortlichen Lebens mit Erhalt der gesellschaftlichen Teilhabe auch im höheren Alter ergeben sich verschiedene Herausforderungen: Soziale Ziele wie die Stärkung sozialer Netzwerke im Wohnumfeld älterer Menschen sowie der Schaffung einer altersgerechten Infrastruktur in den Kommunen, eine Förderung des bürgerschaftlichen Engagements von älteren und für ältere Menschen, eine Weiterentwicklung von Angeboten der Prävention und Gesundheitsförderung und Forschungsaktivitäten zum Thema gesundes Alter. Hierzu kommt die Aus- und Weiterbildung einer ausreichenden Zahl an Fachkräften in der gesundheitlichen Versorgung, eine verbesserte medizinische Versorgung älterer Menschen wie sie durch geriatrische Assessments als Präventionsangebote schon erarbeitet worden sind, die Thematisierung ethischer Aspekte des Alterns wie die Förderung eines realistischen Altersbildes und eines positiven Bildes der Leistungsfähigkeit im Alter sowie die Förderung eines Dialogs der Generationen und des gesellschaftlichen Bewusstseins für ein Altern in Würde [5].

Das vorliegende Heft beschäftigt sich mit verschiedenen individuums- und systembezogenen Fragen des Alterns und auch anderer Phasen der menschlichen Biografie: Themen sind Menschen mit Demenz zwischen Häuslichkeit und Kurzzeitpflege und das Leistungsgeschehen bei stationär behandelten Menschen mit dementieller Erkrankung, Fehlermeldungen aus Sicht stationär Pflegender und verbale Aggressionen gegen Mitarbeitende im Gesundheitswesen, soziodemografische Aspekte im Zusammenhang mit dem Brustkrebsscreeningverhalten und die Auswirkungen von Hitzewellen auf die Mortalität in Deutschland. Als Beginn einer Artikelserie zur Sozialmedizin wird ein Plädoyer für eine Stärkung der Klinischen Sozialmedizin zur Diskussion gestellt. Der CME-zertifizierte Fortbildungsbeitrag beschäftigt sich mit multiresistenten gramnegativen Stäbchen in deutschen Krankenhäusern und der Umsetzung der KRINKO-Empfehlungen – ebenfalls Themen mit besonderer Relevanz im höheren Lebensalter.

Möglicherweise ist eine Fokussierung auf die menschliche Spezies und die von ihr geschaffenen sozialen Sicherungssysteme für das Themenfeld Alter noch immer zu kurz gegriffen. Ein Blick in die Vielfalt des Alterns über die verschiedenen irdisch-planetaren Lebensformen hinweg gibt durchaus auch weitergreifende Anstöße. Die für uns Menschen so selbstverständliche Annahme, dass bspw. die Sterbewahrscheinlichkeit mit dem Alter kontinuierlich ansteigt, ist durchaus kein allgemeingültiges Naturgesetz. Im Gegenteil ist die hohe Zunahme des jährlichen Sterberisikos im Alter bei Menschen – sie beträgt bei Hundertjährigen das über 20-fache des Lebensdurchschnitts – untypisch im speziesübergreifenden Vergleich. Säugetiere weisen dem gegenüber im Allgemeinen höchstens das 5-fache jährliche Sterberisiko des Lebensdurchschnitts auf. Was Cicero noch nicht wissen konnte: Es gibt sogar Arten, bei denen mit zunehmendem Alter die jährliche Wahrscheinlichkeit zu Sterben immer kleiner wird. Beispiele dafür sind eine Eichenart namens Quercus rugosa, die Korallenart der farbwechselnden Gorgonie und die kalifornische Gopherschildkröte [6]. Vielleicht geben diese planetaren „Lebensgefährten“ damit indirekt einen Hinweis darauf, dass es im Verlauf des Lebens durchaus noch einiges zu lernen gibt: Z.B. wie – in Anlehnung an Adlai Stevenson – dem Leben Jahre und den Jahren Leben hinzugefügt werden können [7]. Im Sinne der evolutionären Erkenntnistheorie gilt es ja gerade auch von dem Phänomen der Langlebigen zu lernen „in einem System von Wirkungen, deren selber es eine ist“ [8] [9].


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