Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Der französische Schriftsteller Andre Gide fragte einmal einen Chinesen, was ihn auf
seinen Reisen am meisten beeindruckt hätte. Dieser erwiderte darauf, „dass er in Europa hauptsächlich den Ausdruck von Müdigkeit, Trauer und Sorge auf allen
Gesichtern empfunden habe, wir kennten alle Künste, mit Ausnahme der so einfachen,
glücklich zu sein. Dass die Religion, die den Menschen sagt […], sich gegenseitig
zu helfen, einander zu lieben und dem die rechte Wange zu bieten, der einen auf die
linke schlägt – gerade die unruhigsten, reichsten, listigsten, bewegtesten Völker
gebildet hat, […] die Völker schließlich, deren Ehre am kitzligsten ist und sich am
meisten der Verzeihung und dem Ausgleich widersetzt: das konnte er nicht begreifen“ [1]. In wieweit Religionen in modernen Gesellschaften heute noch das Leitmotiv setzen,
ist eine eigene Frage. Eine religiös mit bedingte Prägung besteht zweifelsohne in
den verschiedenen Kulturkreisen. Unverkennbar ist darüber hinaus eine weltweit einheitliche
zivilisatorische Überformung westlicher Prägung. Am deutlichsten wird dies in den
homogenen städtischen Lebensformen der globalisierten „Megacities“ von Bombay bis
Bangkok, London, Sao Paulo oder Tokio. Kennzeichen dafür sind auch die oben angesprochene
listenreiche Konsumorientierung, das Streben nach Reichtum sowie die hohe Mobilität.
Hier sei die Frage nach dem Zweck für dieses unruhige Tätigsein gestellt – vielleicht
auch die oft ausgeklammerte Frage, welchem übergeordneten (Lebens-)Sinn es dient [2]. Naheliegend ist – im Sinne der Maslowschen Bedürfnispyramide – die Befriedigung
der lebensnotwendigen Grundbedürfnisse Ernährung, Kleidung, geschützter Wohnraum [3]. Darauf aufsetzend finden sich Bestrebungen um soziale Anerkennung und Teilhabe
am öffentlichen Leben, an Bildungschancen und an den kulturell-zivilisatorischen Angeboten.
Dies schließt die Chancen von Selbstfindung und –entwicklung und damit verbundene
höhere Aspirationen mit ein. Spätestens hier berühren sich die Fragen von Lebenszweck
und Lebenssinn. Urbanes Leben mit seinen vielfältigen Arbeits-und Teilhabemöglichkeiten
bietet augenscheinlich für viele Menschen die besseren Zugänge zu diesen Chancen.
Ein Großteil dieses Lebens findet in organisierten Arbeitswelten statt: bei der Produktion
von Gütern wie auch in Form von Dienstleistungen, in Werkstätten und in Büros, immer
eingebunden in vielfältige und intensive Kommunikationsprozesse.
Diese modernen Arbeitsformen haben ihren Ausgang in den westlichen Industriegesellschaften
und Marktwirtschaften genommen und sich über die globalisierten Handelswege und Märkte
ausgebreitet. Was uns Märkte auch lehren, ist, dass die Dinge ihren Preis haben. Welchen
Preis bezahlen wir für die geschilderten gesellschaftlichen Entwicklungen? Sind wir
uns der Kosten, insbesondere auch der externalisierten gesellschaftlichen und unweltbezogenen
Kosten, überhaupt ausreichend bewusst? Beispiele für solche nach außen verlagerten
Kosten sind die Belastung von natürlichen Ressourcen wie Wasser, Boden und Luft –
aber auch der Verschleiß der Gesundheit der Beschäftigten. Diese Kosten werden häufig
der Allgemeinheit aufgebürdet und bilden sich nur unzureichend in den Marktpreisen
ab – wenn überhaupt. Ein Beispiel dafür sind die Umweltemissionen in China, eine zunehmend
bedrohliche Kehrseite der erstaunlichen jährlich 2-stelligen wirtschaftlichen Wachstumsraten.
So werden die gesundheitlichen Grenzwerte in der Außenluft in ganz Mittelchina – nicht
nur in einzelnen Städten – dauerhaft um ein Vielfaches überschritten (www.aqicn.org). Die Bodenbelastung führt dort über die Schadstoffaufnahme durch Pflanzen und Tiere
inzwischen zur Belastung der daraus erstellten Handelsprodukte wie Lederwaren und
Textilien mit resultierenden Absatzproblemen auf den gesundheits- und umweltbewussteren
westlichen Handelsmärkten. Die Wasserbelastung betrifft nicht nur die Ökosysteme von
Seen, Flüssen und Meeren, sondern zunehmend auch den Verbrauch begrenzter Grundwasservorräte.
Sind derartige Produkte und Produktionsmethoden noch „gute Arbeit“? Auf die geschichtliche
Möglichkeit des Zusammenbruchs ganzer Gesellschaften in enger Verflechtung mit dem
Niedergang der natürlichen Lebensgrundlagen hat der amerikanische Ökologe Jared Diamond
nachdrücklich hingewiesen, wie vor ihm bereits Thomas Robert Malthus oder der Club
of Rome [4]
[5]
[6]. Wir können hier getrost – oder auch weniger getrost – von einer globalen Herausforderung
sprechen: Die Sachstandsberichte des Weltklimarates sprechen eine deutliche Sprache
(www.de-ipcc.de). Worauf Diamond auch hinweist, sind die auch gesellschaftlich fatalen Folgen ökologisch
vermittelter wirtschaftlicher Krisen. Diese haben in der Vergangenheit zu einer Zunahme
kriegerischer Auseinandersetzungen um noch verbliebene essentielle Ressourcen bis
hin zu Völkermord, Kannibalismus und dem dennoch einsetzenden Aussterben der betroffenen
„siegreichen“ Gesellschaften geführt. Nur ein Relikt aus ferner Vergangenheit? Sicherlich
nicht, wie der Völkermord in Ruanda noch Ende des 20. Jahrhunderts gezeigt hat. Weitere
Beispiele lassen sich mühelos anfügen und sich mit Bezug zu Anbauflächen, Erdölvorkommen
und zukünftig wohl auch Wasservorräten ohne allzu großen Aufwand für die Zukunft projektierten.
Um hier einem verkürzten Problemaufriss vorzubeugen: der Mensch „lebt nicht vom Brot
allein“ (Matthäus 4,4). Auf vielfältige, subtile Weisen finden gesellschaftlich vermittelte
Wirkungsketten ihren Weg in unsere heutigen Lebenswelten. So lässt sich fragen, ob
eine Arbeitswelt noch gute Arbeit bietet, wenn sie von harschen Kommunikationsstilen,
ständig engerer Terminsetzung, Arbeitsverdichtung und all gegenwärtigem Controlling,
von Erreichbarkeit auch außerhalb der regulären Arbeitszeit und hoher Mobilität des
Arbeitnehmers gemäß dem Idealbild des „flexiblen Menschen“ der Globalisierung (Richard
Sennett) geprägt wird. Humaner scheinen differenziertere Ansätze wie die einer „Double
Helix of Learning and Work“, welche eine kontinuierliche Abfolge von modularisierten
Zeiten des Lernens und des Arbeitens bis in ein so ermöglichtes höheres Renteneintrittsalter
vorsehen [7].
Schon früh wurde u. a. vom Deutschen Gewerkschaftsbund in den 1970er und 1980er Jahren
die Humanisierung der Arbeitswelt thematisiert. Das auch darauf aufbauende gewerkschaftlich
erarbeitete und vertretene Konzept einer Guten Arbeit knüpft an diese Bemühungen an sowie an das Leitbild von Decent Work der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Es stellt das gewerkschaftliche Zukunftskonzept
in Deutschland dar [8]. Eine ähnliche Zielstellung verfolgt seit 2002 die Initiative Neue Qualität in der Arbeit (INQA) des Bundesarbeitsministeriums unter Beteiligung von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen,
Sozialversicherungsträgern, Bund und Ländern. Diese will unter anderem die unternehmerischen
Ziele mit den persönlichen sozialen Interessen und den gesellschaftlichen sozialen
Zielen harmonisieren. Von der Europäischen Union wurde Gute Arbeit in die „Gemeinschaftsstrategie zu Gesundheit und Sicherheit bei der Arbeit für den
Zeitraum 2007–2012“ aufgenommen.
Ein mehrfacher Gesundheitsbezug ist für Humanität und Qualität in der Arbeit gegeben.
Er betrifft gesundheitsgefährdende physikalisch-chemische Arbeitsbedingungen genauso
wie die Auslaugung der mentalen menschlichen Ressourcen. Depressionen einschließlich
des „Burn out“ sind zur führenden Ursache von Frühberentungen in Deutschland geworden
und führen zu einem stetig steigenden Bedarf an entsprechenden Behandlungs- und Rehabilitationskapazitäten.
Nicht zu übersehen ist auch, dass das bisher geschützte Privatleben und die dort lebenden
engen Bezugspersonen durch die geschilderten Entgrenzungen der Berufswelt zunehmend
in diese Entwicklungen mit einbezogen werden: durch Heimarbeitsplätze, eine ständige
Erreichbarkeit, Mehrarbeit und beruflich geforderte Reisetätigkeiten [9].
Diese Entwicklungen haben auch das Gesundheitswesen erreicht, mit allen beschriebenen
Facetten der Intensivierung der Prozesse und Entgrenzung der Arbeitswelt. Hinzu kommen
neue Aktivitäten, welche dem Erhalt bzw. der Steigerung der Arbeitsfähigkeit dienen
sollen: von einem ethisch wenig problematischen zweiten Gesundheitsmarkt mit Schwerpunkt
Wellness über Angebote der medikamentösen Leistungssteigerung bis zum Einfrieren von
Eizellen im Dienst der Verfügbarhaltung weiblicher Arbeitskraft. Die Frage nach „Guter
Arbeit“ im Gesundheitsbereich betrifft damit zum einen die Arbeits- und Ausbildungsqualität
für die im Gesundheitswesen Beschäftigten, zum anderen die Inhalte und die Ergebnisqualität
der vielfältigen gesundheitlichen Dienstleistungen.
Diesen und weiteren Fragen gehen die Beiträge in diesem Heft nach, mit speziellen
Themen wie Rationierungen im deutschen Gesundheitswesen insbesondere in der Onkologie,
hausärztlichen Arzneimittelpriorisierungen bei stationär entlassenen multimorbiden
Patienten, die flächendeckende Erreichbarkeit von Organkrebszentren, Einflussfaktoren
auf Erlöse und Kosten der Krankenhäuser, der Dienstleistungsproduktivität in der Krankenhauspflege,
der altersbezogenen mentalen Leistungsfähigkeit bei Lehrerinnen, dem FIMA-Fragebogen
zu Gesundheitsleistungen im Alter sowie der Entwicklung von standardisierten Bewertungssätzen
für gesundheitsökonomische Evaluationen.
Wenn unser zitierter chinesischer Reisender den Ausdruck von Müdigkeit, Trauer und
Sorge auf den Gesichtern in den europäischen Ländern beklagt hat, so mag dies seine
Ursachen auch im Fehlen „guter Arbeit“ gehabt haben. Vielleicht würde er, darauf angesprochen,
auf wichtige Werte aus seinem Kulturkreis hinweisen: Auf das Streben nach Ausgleich
und gesellschaftlicher Harmonie sowie die Verbindung von universaler Weltverantwortung
mit den konkreten Alltagspflichten, wie sie für den Konfuzianismus typisch sind, vielleicht
auch auf die Konzilianz und Toleranz des Buddhismus, seine allgemeine Wesenliebe und
mitfühlende Hilfsbereitschaft als Kennzeichen einer inneren Entwicklung zur Freiheit
hin [1]. Hinweise, die auch einer allgemeinen Gesellschaftsethik zuzurechnen sind und sehr
konkret auch guter Arbeit. Dabei ist, wie so oft, der Einzelne genauso anzusprechen
wie das gemeinsam gestaltete Umfeld. Vielleicht gelänge so auch uns westlichen Menschen
ein Lächeln, über das ein zukünftiger chinesischer Reisender sagen könnte: „Sie lächeln,
weil sie [aus gutem Grund] lächeln können!“ [10]. In diesem Sinne uns allen ein gutes Neues Jahr!