Sprache · Stimme · Gehör 2015; 39(01): 15-18
DOI: 10.1055/s-0035-1545271
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Problembereiche und Therapieansätze bei entwicklungsbedingten Schriftsprachstörungen

Problematic Domains and Intervention in Developmental Dyslexia/Dysgraphia
S. Costard
1   Studienbereich Logopädie, Department für Angewandte Gesundheitswissenschaften, Hochschule für Gesundheit Bochum
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Sylvia Costard
Studienbereich Logopädie
Department für Angewandte Gesundheitswissenschaften
Hochschule für Gesundheit
Universitätsstraße 105
44789 Bochum

Publication History

Publication Date:
24 March 2015 (online)

 

Zusammenfassung

Entwicklungsbedingte Schriftsprachstörungen gehören zu den häufigsten Lernstörungen bei Kindern. Der folgende Beitrag zeigt die verschiedenen Bereiche auf, in denen Defizite bei Entwicklungsdyslexie/-dysgrafie auftreten können. In der deutschen Orthografie, die durch eine hohe Konsistenz in der Symbol-Laut-Zuordnung gekennzeichnet ist, lösen sich Kinder mit Entwicklungsdysgrafie häufig nicht vom lautorientierten Schreiben, und es gelingt ihnen nicht, komplexeres orthografisches Wissen in ihre Schreibprodukte zu integrieren. Entwicklungsbedingte Lesestörungen zeichnen sich in phonologisch-konsistenten Orthografien durch ein Defizit in der Lesegeschwindigkeit, nicht aber in der Lesegenauigkeit aus. Des Weiteren werden zentrale Aspekte der Therapie dargestellt. Es zeigt sich, dass sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen immer ein enger Bezug zwischen Lauten und Buchstaben hergestellt werden sollte. Deutlich wird aber auch, dass weitere Therapiestudien dringend erforderlich sind.


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Abstract

Developmental dyslexia and dysgraphia are 2 of the most common childhood learning disabilities. The paper presents areas in which children with developmental dyslexia/dysgraphia show deficits. In German, which is characterized by a high symbol-sound consistency, many poor spellers rely on a simple strategy of phoneme-grapheme translation, resulting in strong difficulties to integrate more complex orthographic knowledge into their spellings. In consistent orthographies, developmental reading disorders are strongly associated with a deficit in word reading speed but not in reading accuracy. Then, aspects relevant for the intervention are presented. The results indicate that interventions should focus on the systematic instruction of letter-sound correspondences. It is concluded that research on intervention should be intensified.


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Lernziel

Dieser Beitrag soll einen Überblick über die Therapie bei entwicklungsbedingten Schriftsprachstörungen vermitteln und ein tiefergehendes Verständnis für das Erscheinungsbild und die Therapie entwicklungsbedingter Schriftsprachstörungen vor dem Hintergrund der Besonderheiten von Schriftsystemen wecken. Er soll zudem verdeutlichen, wie wichtig in der Rechtschreib- und Lesetherapie ein schriftnahes Vorgehen ist, in dem systematisch Bezüge zwischen Phonemen und Grafemen hergestellt werden.

Entwicklungsbedingte Schriftsprachstörungen

Definition und Auftretenshäufigkeit

Der Erwerb von Lesen und Rechtschreibung erfolgt bei den meisten Kindern problemlos. Einige Kinder zeigen jedoch trotz regelmäßiger Teilnahme am Schulunterricht und normaler Intelligenzleistungen massive Probleme beim Schriftspracherwerb. Bei ihnen liegt eine „Entwicklungsdyslexie“ und/oder eine „Entwicklungsdysgrafie“ vor. Im deutschsprachigen Raum sind etwa 6,9% der Erwachsenen betroffen [1], eine schwere Form zeigt sich bei etwa 4% der Bevölkerung [1, 2]. Die Entwicklungsdyslexie/-dysgrafie ist eine der am weitesten verbreiteten umschriebenen Entwicklungsstörungen.


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Erscheinungsbild entwicklungsbedingter Rechtschreibstörungen

Im Anfangsunterricht gelingt Kindern mit Entwicklungsdysgrafie lautorientiertes Schreiben deutlich schlechter als unbeeinträchtigten Kindern der gleichen Klassenstufe: Phonem-Grafem-Zuordnungen sind nicht zuverlässig abrufbar, oder trotz Schreiberfahrung ist kein sicherer Zugang zur Phonemstruktur möglich. Zugrunde liegt häufig eine Beeinträchtigung in der phonologischen Bewusstheit, in der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung oder ein eingeschränktes phonologisches Arbeitsgedächtnis.

Probleme beim lautorientierten Schreiben sind durch Grafemauslassungen, -ersetzungen, -hinzufügungen und -vertauschungen gekennzeichnet:
Zielwort→Reaktion
Ampel→Ape“
Ofen→Ufem
Salamander→Mal

Nach der 2. Klassenstufe herrschen nur bei wenigen Kindern massive Verstöße gegen die Lautstruktur vor. Bei ihnen besteht meist eine gravierende Beeinträchtigung in der phonologischen Verarbeitung [3].

Bei den meisten Kindern stehen spätestens mit dem 3. Schuljahr Probleme bezüglich der silbischen und morphologischen Regularitäten, Groß- und Kleinschreibung, besonderer Wortschreibungen, Zeichensetzung und Textproduktion im Vordergrund [4]. Die Vermittlung orthografischen Wissens im regulären Unterricht und die dort übliche Anzahl an wiederholten Wortschreibungen reicht ihnen offenbar nicht aus, um stabile orthografische Repräsentationen aufzubauen [5], sodass sie trotz regulären Unterrichts die Rechtschreibregeln häufig nur unzureichend kennen bzw. es ihnen nicht gelingt, sie während des Schreibprozesses anzuwenden [6]. Bei erhöhter Anforderung, z. B. bei mehreren orthografischen Problemstellen in einem Wort, können auch Unsicherheiten beim Anwenden der konsistenten Phonem-Grafem-Korrespondenzregeln (PGKs) auftreten.

Bei einem fehlenden Zugang auf tiefergehendes orthografisches Wissen spiegeln die Schreibprodukte die Lautstruktur korrekt wider, sie entsprechen jedoch nicht der Schreibnorm:
Zielwort→Reaktion
Sonne→Sone
Stein→Schtein
Pferd→Fert
Gänse→Gense
Garage→Garasche


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Erscheinungsbild entwicklungsbedingter Lesestörungen

In transparenten, phonologisch-konsistenten Schriftsystemen wie dem Deutschen lesen selbst lesebeeinträchtigte Kinder meist recht genau. Bei den Kindern, denen dies nicht gelingt, liegen meist gravierende Probleme in der phonologischen Verarbeitung vor. Bei den meisten Kindern steht jedoch eine zu geringe Lesegeschwindigkeit bzw. -flüssigkeit im Vordergrund [7]. Die Kinder verharren in einem langsamen, seriellen Grafem-Phonem-Abruf und sind nicht in der Lage, größere Einheiten in den Dekodierprozess einzubeziehen [8]. Unflüssiges Lesen erschwert zudem die Sinnentnahme aus geschriebenen Wörtern und Texten.

Leseflüssigkeit umfasst Lesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit, den angemessenen Gebrauch prosodischer Merkmale und die korrekte Phrasierung von Texten [9].


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Prognose

Entwicklungsbedingte Schriftsprachstörungen bleiben häufig ein Leben lang bestehen, insbesondere wenn keine gezielte Intervention vorgenommen wird [10, 11]. Häufig zeigen sich selbst im Erwachsenenalter noch Einschränkungen in der phonologischen Bewusstheit, Probleme bei der Zuordnung von Grafemen und Phonemen und eine Erhöhung der Reaktionszeit beim Lesen bzw. Schreiben [12]. Da sich die Schriftsprachfähigkeit nach Abschluss der Schulzeit aber noch beständig weiter entwickelt, können schwächere Schüler im weiteren Verlauf einen besseren Zugang zum Lesen und Schreiben finden.

Besonderheiten von Schriftsystemen

In Schriftsystemen wie dem Deutschen ist der Bezug von Laut- und Schriftsprache relativ leicht zu durchschauen, und damit transparent. Das Deutsche ist auf der phonologischen Ebene konsistent und enthält nur wenige Irregularitäten. Eine Symbol-Laut-Zuordnung ist konsistent, wenn ein Symbol durch genau einen Laut repräsentiert wird, z. B. <t>→/t/. Sie ist inkonsistent, wenn einem Symbol mindestens 2 unterschiedliche Laute zugeordnet werden können, z. B. <a>→/α:/, /a/. Eine Schreibweise ist irregulär, wenn sie mindestens eine außergewöhnliche Symbol-Laut-Zuordnung enthält, z. B. <g>→/Ʒ/ in Garage. Das deutsche Schriftsystem ist aus der Sicht des Schreibers weniger konsistent als aus der des Lesers, u. a. durch die Verschriftung der Langvokale (einfacher Vokal, Dehnungs-h, Doppelvokal). Die Konsistenz auf der phonologischen Ebene wird im Deutschen allerdings u. a. zugunsten einer Konsistenz auf der morphologischen Ebene eingeschränkt. Transparent und konsistent sind u. a. auch das niederländische, finnische, schwedische, italienische, spanische und griechische Schriftsystem. Orthografien wie die englische, französische und dänische werden aufgrund ihrer geringen Transparenz, bedingt durch geringe Konsistenz und zahlreiche Irregularitäten auf der phonologischen Ebene, als „opak“ bezeichnet. Die Anzahl ihrer Rechtschreibregeln ist sehr hoch, und deshalb für Kinder schwer lernbar. Im Englischen zeigt sich eine hohe Konsistenz auf der morphologischen, nicht aber auf der phonologischen Ebene. Da die morphologische Ebene aus linguistischer Sicht tiefer als die phonologische ist, werden Orthografien wie die Englische als „tief“ (E: „deep“), Orthografien wie die Deutsche als „flach“ (E: „shallow) bezeichnet.


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Die Therapie bei entwicklungsbedingten Schriftsprachstörungen

Überblick

Ein zentrales Element der Therapie ist die Stärkung des Selbstbewusstseins des betroffenen Kindes und seiner Motivation zum Lesen und Schreiben. Maßnahmen des Nachteilsausgleichs und Notenschutz helfen, die Chancen für den weiteren Bildungsweg zu erhalten (siehe Interview mit Prof. Schulte-Körne in diesem Heft auf S. 36). Das Niveau und das Tempo der Intervention müssen dem Leistungsstand des Kindes angepasst sein. Bei einem Gruppentraining ist es wichtig, dass die Lerngruppe klein und homogen ist [13]. Man unterscheidet direkte Ansätze, in denen das lautorientierte Lesen und Schreiben gezielt gefördert wird, und kompensatorische Ansätze, die bei schweren phonologischen Verarbeitungsproblemen im Vordergrund stehen [14].

Gemäß der evidenzbasierten Praxis sollten nur solche therapeutischen Maßnahmen empfohlen und durchgeführt werden, deren Qualität ausreichend belegt ist. Wirksamkeitsnachweise liegen bisher für schriftnahe und symptomorientierte Therapien vor [15-17], also für Trainings, in denen systematisch die Bezüge zwischen Grafemen und Phonemen hergestellt werden, z. B. über die Herstellung von Grafem-Phonem-Korrespondenzregeln (GPKs), Phonem-Grafem-Korrespondenzregeln (PGKs), das Synthetisieren und Segmentieren von Phonemsequenzen, das Segmentieren gesprochener und geschriebener Wörter in Silben, Onset und Reim, verbunden mit wiederholtem Wort- und Textlesen [15], im Englischen als „phonics instruction“ bezeichnet. Therapien mit einer Dauer von mehr als 20 Wochen sind wirksamer als kürzere, und die Wirksamkeit steigt mit steigender Anzahl und Dauer der Trainingseinheiten [16]. Für Funktions- und Wahrnehmungstrainings liegen bisher keine Wirksamkeitsnachweise vor [16,18].

Wirksamkeitsnachweise für Therapien

Wirksamkeitsnachweise liegen bisher nur für schriftnahe, symptomorientierte Therapien vor. Allerdings bleibt häufig unklar, warum einzelne Kinder von einer für die Gesamtgruppe wirksamen Therapie nicht profitieren, und wie eine Therapie aussehen könnte, von der sie profitieren würden. Auch fehlen Studien zur optimalen Intensität und Therapiedauer. Für Funktions- und Wahrnehmungstrainings, wie z. B. Trainings der visuellen oder auditiven Wahrnehmung, konnten bisher keine überzeugenden Wirksamkeitsnachweise gefunden werden.


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Die Therapie bei entwicklungsbedingter Rechtschreibstörung

Aufbau und Festigung des Wissens zu kontextinsensitiven Phonem-Grafem-Korrespondenz-Regeln

Bei Problemen im frühen Rechtschreiberwerb steht die Verbesserung des lautorientierten Schreibens im Vordergrund (Ausnahme: kompensatorische Ansätze), die bei Erstklässlern durch ein Training der phonologischen Bewusstheit erzielt werden kann, insbesondere wenn es mit Übungen zur Durchgliederung in Phoneme unter Einbezug von Übungen zur Buchstabenkenntnis und mit der Herstellung von Phonem-Grafem-Korrespondenzen verbunden ist, (vgl. z. B. [3, 19]). Auch das Üben mit Pseudowörtern ist sinnvoll, und bei einigen Kindern sogar zu bevorzugen, um eine Ablenkung durch lexikalische Einflüsse zu verhindern.

Bestehen noch nach der 1. Klassenstufe große Probleme beim lautorientierten Schreiben, sind die phonologischen Beeinträchtigungen meist so gravierend, dass ein übliches Training der Phonembewusstheit nicht zum Erfolg führt. So profitierten Kinder mit schweren Defiziten in der Phonembewusstheit und beim Schreiben von Pseudowörtern nicht von einem Training der Phonembewusstheit, obwohl sie bereits die 3. Klassenstufe besuchten, da der Zugriff auf Phoneme für sie eine zu hohe Anforderung darstellte. Erst als ein Training der Segmentierung von Wörtern und Pseudowörtern in Onset und Reim und der Erarbeitung phonologisch-orthografischer Korrespondenzen dieser Silbenkonstituenten (z. B. Tor als T-OR) vorgeschaltet wurde, kam es zu einer Verbesserung bei der Identifizierung von Konsonantenverbindungen und beim Schreiben von Wörtern und Pseudowörtern [3]. Bei den meisten Zweit- bis Viertklässlern zeigt ein Training der phonologischen Bewusstheit allerdings keine Wirkung mehr [20, 21].


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Orthografisches Regeltraining

Die Wirksamkeit orthografischer Regeltrainings für Kinder im Grundschulalter ist gut belegt, (z. B. [20]). Auch Fünft- und Sechstklässler profitierten von einem orthografischen Training, in dem Rechtschreibregeln in einem hochstrukturierten Setting explizit verdeutlicht werden [5]. Fünft- bis Neuntklässler, die computerbasiert die morphematische Zusammensetzung von Wörtern geübt hatten, konnten dieses Wissen auf den Lese- und Schreibprozess übertragen, Dritt- und Viertklässler allerdings nicht [22]. Der Erwerb einer schriftnahen Repräsentation führte bei Zweit- und Drittklässlern nicht zu Verbesserungen. Stimuli waren Wörter mit inkonsistenten Phonem-Grafem-Zuordnungen. Die Kinder lernten die Wörter so auszusprechen, wie sie geschrieben wurden, z. B. Tonne als „Ton-ne“, Mann als „Man-n“ und Mehl als „Me-hel“ [23]. Ein vergleichbares Training bei Fünftklässlern, allerdings mit irregulären Wörtern, führte dagegen zu Verbesserungen in der Rechtschreibung [24]. Ob schriftnahe Repräsentationen nur bei älteren Kindern wirken oder nur bei Wörtern, bei denen Laut- und Schriftform sich deutlich voneinander unterscheiden wie bei irregulären Wörtern, ist unklar.

Orthografische Regularitäten im deutschen Schriftsystem

Kontextinsensitive PGKs beschreiben das Verhältnis von Phonemen und Graphemen ohne Bezug auf den phonologischen Kontext (z. B. /k/→<k>). Da für ihre Anwendung kein lexikalisches Wissen erforderlich ist, werden sie im 2-Wege-Modell der segmentalen Route zugeordnet.Silbische Regularitäten wie die Schärfungsregel („Doppelkonsonanz nach Kurzvokal bei Wörtern wie Sonne“) werden als „kontextsensitive PGKs“ bezeichnet, da sie auf subsilbische Konstituenten wie Onset und Reim Bezug nehmen. Für ihre Anwendung ist phonologisches, nicht aber lexikalisches Wissen erforderlich. Sie werden im 2-Wege-Modell ebenfalls der segmentalen Route zugeordnet.Das morphologische Prinzip besagt, dass die verschiedenen phonologischen Realisationsformen eines Morphems, wie z. B. bei Pferd vs. Pferde: Pfer[t], Pfer[d], nicht in die Schriftsprache übernommen werden. Um das morphologische Prinzip anwenden zu können, ist lexikalisches Wissen erforderlich. Dieses Wissen wird daher der lexikalischen Route zugeordnet. Durch die resultierende Morphemkonstanz ist die Wortfamilie für den Leser unmittelbar erkennbar, und dadurch die schnelle Sinnentnahme beim Lesen möglich.


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Therapie bei entwicklungsbedingter Lesestörung

Lesegenauigkeit

Die Lesegenauigkeit kann verbessert werden, indem die Herstellung von GPKs unter Einbezug der Phonemsynthese geübt wird [25]. Die Herstellung von GPKs ist für Kinder aufgrund der hohen phonologischen Konsistenz des deutschen Schriftsystems in der Therapie meist schnell zugänglich, außer wenn gravierende phonologische Probleme vorliegen, und es zeigt sich schnell eine Verbesserung der Lesegenauigkeit [23, 26]. Auch das Üben mit Pseudowörtern ist sinnvoll, und bei einigen Kindern sogar zu bevorzugen, z. B. um lexikalische Ratestrategien zu verhindern.


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Lesegeschwindigkeit

Die Fähigkeit, flüssig und schnell zu lesen, hängt unmittelbar von der Leseerfahrung ab. Allerdings vermeiden Kinder mit entwicklungsbedingten Lesestörungen das Lesen häufig, da es für sie sehr mühevoll ist [13]. Da bei einem rein visuellen Worterkennungstraining keine Übertragung des Erlernten auf ungeübte Wörter zu erwarten ist [27], sollten Trainings zur Lesegeschwindigkeit immer die Herstellung der GPKs der Übungswörter einbeziehen. Dennoch beschränkt sich eine Erhöhung der Lesegeschwindigkeit in den bisherigen Therapiestudien meist auf das geübte Material. So zeigen sich in Studien, in denen die Lesegeschwindigkeit über häufig wiederholtes Lesen der gleichen Wörter oder Texte erhöht werden sollte, keine Generalisierungseffekte auf ungeübte Wörter. Ansätze, in denen die Darbietungsdauer der Stimuli begrenzt wurde, um den Wechsel in eine effizientere Lesestrategie auszulösen, brachten keine klaren Ergebnisse [28]. Das Üben wortinterner Strukturen, insbesondere von Konsonantenclustern, führte ebenfalls nicht zu den entscheidenden Generalisierungseffekten auf ungeübte Wörter [9,28]. Damit stehen klare Belege für die Wirksamkeit eines Trainings der Lesegeschwindigkeit noch aus [15]. Eine schnelle Lesegeschwindigkeit erleichtert vermutlich das Lesesinnverständnis (siehe auch den Artikel von Pape-Neumann et al. in diesem Heft ab S. 30), die Sinnentnahme aus geschriebenen Texten ist aber auch eng mit den semantisch-lexikalischen und morpho-syntaktischen Fähigkeiten von Lesern verbunden. So zeigte sich im Französischen ein positiver Einfluss eines vorschulischen Trainings des mündlichen Textverständnisses auf das Lesesinnverständnis bei Sätzen und Texten im frühen Grundschulalter [29].


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Fazit

Die Wahl der Therapiemethode und der Übungsitems hängt vom Schweregrad und vom Schwerpunktbereich der Störung ab. Bei Entwicklungsdysgrafie können Probleme im lautorientierten Schreiben oder beim Einbezug komplexerer orthografischer Besonderheiten im Vordergrund stehen, bei Entwicklungsdyslexie fehlende Lesegenauigkeit, -unzureichende Lesegeschwindigkeit oder mangelndes Lesesinnverständnis, wobei neben der Schreib- und Lesegenauigkeit auch das orthografische Schreiben mit der phonologischen Bewusstheit verbunden zu sein scheint [30]. Es zeigen sich allerdings, abhängig vom Schriftsystem, unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten der jeweiligen Störungsmuster. In einem transparenten, phonologisch konsistenten Schriftsystem wie dem deutschen sind die Beziehungen zwischen den Graphemen und Phonemen sehr klar geregelt, insbesondere aus Lesersicht, und daher für Kinder leicht zu durchschauen. In opaken Schriftsystemen sind diese Einsichten viel schwerer zu gewinnen, und es werden beim phonologisch-orientierten Schreiben und Lesen deutlich höhere Anforderungen an die Lerner gestellt. Die Konsequenz ist, dass Kinder mit und ohne entwicklungsbedingte Schriftsprachstörungen in transparenten Orthografien sehr schnell phonologisch akzeptabel schreiben können, und ihr Lesen bereits sehr früh sehr genau ist, anders als in opaken Orthografien. Die Probleme der meisten Kinder liegen in transparenten Schriftsystemen beim Rechtschreiberwerb daher stärker in der Anwendung orthografischer Regularitäten, die über das phonologische Prinzip hinausgehen und beim Leseerwerb in einer unzureichenden Lesegeschwindigkeit. In aktuellen Studien zu transparenten Schriftsystemen stehen folgerichtig nur für den frühen Anfangsunterricht und für schwere Schriftsprachstörungen Untersuchungen zur Schreib- und Lesegenauigkeit als effizientes Gerüst für den weiteren Schriftspracherwerb im Vordergrund, danach vor allem die Integration komplexeren orthografischen Wissens und die Lesegeschwindigkeit. Dagegen ist in opaken, tiefen Orthografien wie der englischen auch im späteren Rechtschreib- und Leseerwerb noch die Frage nach der Verbesserung der Schreib- und Lesegenauigkeit sehr zentral. Zunehmend finden sich hier auch Studien zum Einbezug morphologischer Repräsentationen in den frühen Schriftspracherwerb [31,32]. Insgesamt liegen für die Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen für den deutschsprachigen Raum bisher noch zu wenige qualitativ hochwertige Studien vor. Zudem befassen sich nur wenige Studien mit den Auswirkungen gestörten Lesens und Schreibens auf die Aktivität, Partizipation, Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren. Weitere Therapiestudien sind daher dringend erforderlich.


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Zur Person

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Prof. Dr. phil. Sylvia Costard studierte an der Universität zu Köln deutsche und allgemeine Sprachwissenschaft, Phonetik und Sprachheilpädagogik und arbeitete bis zu ihrer Promotion 2002 in der Abteilung Neurolinguistik des Universitätsklinikums Aachen, danach als Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Gießen im Bereich Sprachheilpädagogik. Seit 2011 ist sie Professorin für kindliche Sprach- und Schriftsprachstörungen im Studienbereich Logopädie an der Hochschule für Gesundheit in Bochum.

Interessenkonflikt:

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Ergänzendes Material


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Sylvia Costard
Studienbereich Logopädie
Department für Angewandte Gesundheitswissenschaften
Hochschule für Gesundheit
Universitätsstraße 105
44789 Bochum


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