neuroreha 2015; 07(01): 46-47
DOI: 10.1055/s-0035-1548532
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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Publication Date:
19 March 2015 (online)

Bericht über die DGNR und DGNKN in Singen vom 4. bis 6. Dezember 2014

Die Hauptversammlung, bei der sich Therapeuten, Vertreter der Firmen, Ärzte und Forscher treffen, fand dieses Mal ganz im Südwesten statt und wurde von den Professoren C. Dettmers und J. Lippert von den Schmieder-Kliniken und Professor M. Jöbges (Michels-Kliniken) organisiert.

Es fiel insgesamt auf, dass der Thematik Neuroplastizität großer Raum gegeben wurde, aber dennoch auch viele therapieorientierte Fortbildungen stattfanden.

Im Gegensatz zu vielen anderen medizinischen Kongressen ist dieses Treffen erschwinglich – nur für die Workshops (21 an der Zahl) muss mit 50 € extra bezahlt werden. Im Grunde unterscheiden sich die Workshops in ihrer Struktur jedoch zumeist wenig von den Symposien (16 insgesamt und 4 Industriesymposien). Insgesamt scheint von allen Besuchern der Kongress als sehr gelungen empfunden worden zu sein – sicher einer der Kongresse im Jahr, für die es sich lohnt, zwei bis drei Tage zu opfern!

Skype-Übertragung Zu Beginn wurde das Können der Organisatoren auf die Probe gestellt: Leonardo Cohen vom NIH, dem Top-Forschungszentrum in Bethesda bei Washington, war nicht angereist und man versuchte, den Hauptredner und Leiter des Workshops 1 über Skype einzublenden, was durchaus nicht mit einem realen Vortrag zu vergleichen ist. Bei dem Referenten in den USA war es zudem erst 4 Uhr morgens, was der didaktischen Wirkung nicht unbedingt förderlich war. Insbesondere für Kenner der Forschung von Leonardo Cohen blieben die Ausführungen eher an der Oberfläche.

Evidenzbasierte Trainingsverfahren Zu der Frage, welche Themen wohl die Hauptthemen der nächsten 10 Jahre sein werden, antwortete Dr. Cohen, dass die evidenzbasierten Trainingsverfahren, die in den letzten 15 Jahren entwickelt wurden (z. B. bilaterales Training, constrained-induced movement therapy [CIMT], movement observation, arm ability training), jetzt in Handlungsprotokolle eingearbeitet werden sollen, die es erlauben, eine individuell optimierte Therapieplanung je nach Paresegrad, Zusatzschädigung, Alter, Zeit nach dem Schlaganfall durchzuführen.

Man könnte das etwa für die Handfunktion so interpretieren, dass im akuten Stadium bei starker Parese bereits kombinierte Protokolle zu sensorischer Stimulation und geführten Bewegungen – evtl. auch kombiniert mit Movement-Observation- und Imagery-Strategien – angewendet werden, dann mit bilateralem Training mehr auf die gemeinsamen Bewegungen der Arme fokussiert wird oder ein Arm-Basis-Training durchgeführt wird. Dann wird entschieden, ob es schon mit CIMT weitergeht oder ob ein Armfähigkeitstraining besonders sinnvoll ist. Ich denke, in den meisten Rehabilitationskliniken wird das bereits erfahrungsabhängig mehr oder weniger so gemacht. Herrn Dr. Cohen scheinen darüber hinaus getestete Protokolle wichtig, die klare Richtlinien über die effektivsten Rehabilitationsprotokolle geben können.

Hauptrede Leonardo Cohen war auch Hauptredner zum Kongress – wieder über Skype. Wenn der Redner nicht physisch im Saal anwesend ist, scheuen sich die Zuschauer auch weniger, den Saal zu verlassen – ein interessantes Skype-Experiment!

Sehr positiv ist mir aufgefallen, dass sich die Arbeitsgruppe von Leonardo Cohen zunehmend über Verhaltensmodulationen von motorischem Training Gedanken macht. So wurde eine Studie zu dem Effekt von strafendem Feedback (Geldverlust), positivem Feedback (Geldgewinn) und keinem zusätzlichen Gewinn/Verlust auf eine einfache motorische Trainingsaufgabe in bestimmter Genauigkeit und maximaler Geschwindigkeit untersucht. Die Möglichkeit, zu gewinnen, brachte einen höheren Lernerfolg. Im Langzeitergebnis (Monate) scheinen sich die Ergebnisse dann aber wieder anzugleichen.

Symposien

Die Symposien hatten eine hervorragende Struktur, weil die Redner hier genug Zeit hatten, ihre Arbeit umfassend darzustellen.

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Abb. 1 Leonardo Cohen per Skype. (Foto: Martin Lotze)

Neuroplastizität Hochinteressant war das Symposium zur Neuroplastizität, das mit einem Vortrag von Professor Cornelius Weiller aus Freiburg begann. Viele von Ihnen kennen die Arbeiten von Frau Saur aus seiner Arbeitsgruppe zur unterschiedlichen Hemisphärenlateralisation der Sprachverarbeitung je nach Stadium nach dem zur Aphasie führenden Mediainfarkt. In einer anderen, viel beachteten Arbeit wurden mittels Diffusionsbildgebung die dorsale (motorische Komponente) und ventrale (perzeptive Komponente) Schleife und deren Interaktion aufgeführt (Saur, PNAS, 2010). Diese Zweiteilung in eine Handlungs- und eine Verständniskomponente wendet seine Arbeitsgruppe jetzt auch auf andere neurologische Symptomkomplexe an. Im Bereich der Handmotorik hat die Imagination eher einen Schwerpunkt auf dem Bewegungsengramm (Vorstellung der Bewegungsinhalte), während die passive Bewegung ganz auf der sensomotorischen dorsalen Schleife liegt.

In einer Zwischenfrage wurde erkundet, ob sich dies im Bereich des Gedächtnisses nicht auch ähnlich abbilde: das episodische Gedächtnis in der ventralen Schleife und das prozedurale in der dorsalen. Im Bereich der Apraxie wäre das die Nachahmung von bedeutungslosen Handlungen (dorsale Schliefe) gegenüber den bedeutungshaften, pantomimischen Bewegungen (ventrale Schleife; Hoeren et al., Brain 2014). Auch auf der rechten Hemisphäre könnte sich hinsichtlich des Neglekts eine ganz ähnliche dorsal-ventrale Auftrennung finden.

Neuromodulation Der danach folgende Vortrag von Professor Ulf Ziemann aus Tübingen ist sehr kritisch mit der in den letzten 8 Jahren so in Mode gekommenen Neuromodulation umgegangen. Herr Ziemann führte aus, dass fast alle Arbeitsgruppen nach dem sehr eingängigen Konzept der verlorenen interhemisphärischen Balance nach einer Gehirnläsion angefangen hatten, diese Balance durch transkranielle Methoden der Stimulation wiederherstellen zu wollen. In der letzten Zeit wurden hier vor allem die sehr rasch zu verabreichende, repetitive Theta-Burst-transkranielle-Magnetstimulation (tbTMS) und die Gehirngalvanisierung (transcranial direct current stimulation; TDCS) verwendet. Es gab einige Hinweise auf die sinnvolle Kombination von Erregungsreduktion auf der nicht geschädigten Hemisphäre und Erregungserhöhung auf der geschädigten Hemisphäre direkt vor einem motorischen Training. Zunehmend wird aber deutlich, dass

  1. der Effekt in einigen Studien zwar signifikant, aber für die Rehabilitation nicht relevant ist,

  2. durchaus einige Studien existieren, die keine Wirkung dieser zusätzlichen Stimulation zeigen konnte (z. B. Talelli et al., NNR, 2012), und wahrscheinlich viel mehr solcher Studien mit negativem Ergebnis einfach nicht publiziert wurden (Dr. Leonardo Cohen hat deshalb auch angeregt eine einem Peer-Review unterzogene Webpage für negative Studienergebnisse einrichten zu wollen, damit dieser Tendenz, nur positive Ergebnisse zu publizieren, entgegengewirkt wird),

  3. sich neurophysiologisch keine Inhibition oder Fazilitierung auf die kortikale Erregbarkeit etwa bei Gesunden nachweisen lässt (Hamada et al., Cerebral Cortex, 2013 für die tbTMS; Wiethoff et al., 2014 im Druck für die tDCS) und damit die neurophysiologische Begründung für das Vorgehen nicht mehr aufrechterhalten werden kann.

Zudem gibt es auch einige Hinweise, dass in der nicht geschädigten Hemisphäre eine verstärkte Funktion bei Komplexbewegungen gegenüber Gesunden repräsentiert ist (z. B. Lotze et al., J Neuroscience, 2006).

Als positives Beispiel ist die Arbeitsgruppe von Winston Byblow and Cathy Stinear aus Auckland/Neuseeland von Ulf Ziemann genannt worden: Mit ihrem PREP-Algorithmus (http://prepforstrokerehab.wikispaces.com) und dessen Modifikation sind sie als einzige auf einem guten Weg, bald praktische Verbesserungen der Schlaganfalltherapieplanung an die Hand zu geben. Diese Arbeitsgruppe hatte auch zu bedenken gegeben, dass die meisten Interventionen nur die Dauer der Therapie positiv beeinflussen – der Patient ist mit einem besseren Therapieprotokoll schneller am Ziel, aber das Endergebnis ist oft nicht relevant verändert. Zumeist holen die Patienten, die die ineffektivere Therapie bekommen haben, später wieder auf.

Optimierung motorischer Systeme Am zweiten Tag ist mir besonders das Symposium 4 zur „Optimierung motorischer Systeme“ aufgefallen. Das Symposium begann mit einem Vortrag von Dr. Volz aus der Arbeitsgruppe von Christian Grefkes und Gereon Fink aus Köln. Die Arbeitsgruppe hatte sich in den letzten Jahren sehr erfolgreich mit der veränderten Konnektivität bei Patienten nach Schlaganfall sowohl nach Willkürbewegung (dynamic causal modelling, DCM, bei Faustschluss) als auch in Ruhe (Resting-State-Konnektivität) hervorgetan. Ein Problem bei der DCM ist, dass die Patienten viel mehr Bewegungsartefakte aufweisen und bei der langsamen Repetitionszeit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) die Methode oft nicht mehr interpretierbare Effekte zeigt.

Herr Volz nutzte die tbTMS in der für die Rehabilitation so entscheidenden Akutphase in einer einwöchigen Therapiephase mit 3,5 Minuten tbTMS vor einer Physiotherapie im Vergleich zu einer Gruppe, die nur Physiotherapie bekommen hatte. Insgesamt wurden 26 Patienten untersucht. Die Pre-post-Veränderung (Griffkraft) der Gruppe, die zusätzlich tbTMS bekommen hatte, war signifikant besser (Verbesserung von etwa 45 % gegenüber 35 %) und auch die Konnektivitätsparameter (die Resting-State-Konnektivität der beiden primär motorischen Kortizes blieb hoch) waren bei der tbTMS-Gruppe verändert. Dies ist ein sehr aufwendiges Protokoll (3 Jahre hat die Studie in der Durchführung gedauert), aber nur die Griffkraft als Outcomeparameter zu verwenden, ist kritiwkwürdig. Der Vorteil der Gruppe, die zusätzlich tbTMS bekommen hatte, blieb auch nach 3 Monaten bestehen (85 % Verbesserung gegenüber 65 % in der Kontrollgruppe). Nicht zu lösen ist aus dieser Studie, ob der hoch placebowirksame Effekt einer aufwendigen TMS vor einer Therapie nicht entscheidend für die Kraftverbesserung ist.

Repetitive TMS Der nun folgende Vortrag von Professor Nowak von den Helios-Kliniken in Kipfenberg gab einen hervorragenden Überblick über die repetitive TMS – auch mit den stabileren Protokollen, die vor dem Durchbruch der tbTMS genutzt wurden. Er kritisierte die Versuche, bei Gesunden mittels rTMS die motorische Leistungsfähigkeit zu verbessern, und führte aus, dass bei schwer betroffenen Patienten die rTMS bisher keine überzeugenden Therapieeffekte zeigen konnte (hemmende Stimulation auf der nicht betroffenen Hemisphäre). rTMS scheint besonders bei einem leichten Schlaganfall in der dominanten Hemisphäre wirkungsvoll zu sein, aber er selbst findet die CIMT deutlich effektiver.

Ambulante Studie Schlanganfall Zu dieser Therapie stellte Frau Dr. Barzel aus Hamburg eine sehr umfassende (85 Patienten mit CIMT zu Hause und 71 mit normaler Therapie) ambulante Studie an chronischen Schlaganfallpatienten mit noch leichtgradig betroffener Arm

funktion vor. Im Gegensatz zu den kleinen neurophysiologischen Studien sind in dieser Studie die Outcomeparameter umfassender:

  1. Motor Activity Log (MAL; subscore quality of movement),

  2. Wolf Motor Function Test (WMFT).

Die MAL-Quality unterschied sich signifikant zwischen den Therapiegruppen. Die CIMT schneidet dabei besser ab. Sie schließt mit der Einschätzung, dass ca. 25 % der chronischen Patienten von der ambulanten CIMT profitieren.

Gangbild bei zerebellärer Ataxie Abgerundet wurde das Symposium von Frau Dr. Heinze aus dem Schwindelzentrum der LMU München, die eindrucksvolle Daten zur Behandlung und Charakterisierung des Gangbildes bei zerebellärer Ataxie zeigte.

Weitere Symposien Bemerkenswert fand ich zudem einige weitere Symposien: zum einen Symposium 5 zur Neuropsychologie und hier insbesondere die Ausführung von Professor Schnider aus Genf zum orbitofrontalen Kortex (z. B. Schnider, Front Behav Neurosci, 2013), Symposium 6 zum Trainieren aus sportwissenschaftlicher Sicht und Symposium 12 (Professor R. Schmidt und Frau Dr. A. Steffen aus Konstanz) zur Neurobiologie und Therapie funktioneller (pseudo-)neurologischer Störungen.

Außer den hervorragenden Rednern ist aber sicher der Austausch mit Kollegen von anderen Kliniken und Instituten ein besonderes Highlight beim Kongress. Dafür wurde genügend Raum gelassen – es gab nicht zu viele Parallelveranstaltungen, die Posterpräsentationen waren in Kurzvorträgen organisiert, es gab kostenfreie Bewirtung innerhalb des Kongressgebäudes und jeden Abend einen Gesellschaftsabend. Insgesamt war dies ein vorbildlicher Kongress mit einer sehr runden Organisation.

Martin Lotze

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Abb. 2 Professor Schnider aus Genf. (Foto: Martin Lotze)

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