Schlüsselwörter
Antiepileptika - Zusatznutzen - AMNOG - Placebo - Nocebo - SUDEP - Zulassungsstudien
- Antiepileptikaentwicklung
Keywords
antiepileptic drugs - added value - AMNOG - placebo - nocebo - SUDEP - placebo response
- clinical development of antiepileptic drugs - market authorization studies
Einführung
Seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG)
am 1. Januar 2011 ist der Nachweis eines Zusatznutzens eines neu zugelassenen Arzneimittels
Voraussetzung für Preisverhandlungen mit den gesetzlichen Krankenkassen. Die frühe
Nutzenbewertung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
(IQWiG) fragt dabei nach dem Zusatznutzen im Vergleich zu den bislang verfügbaren
Therapieoptionen (zur Definition siehe Glossar). Im Bereich der Epileptologie stehen
Kliniker, Wissenschaftler und Pharmafirmen besonderen Herausforderungen bei der Feststellung
eines solchen Zusatznutzens gegenüber. So wird zum einen die Wirksamkeit des Präparates
durch selbstdokumentierte Anfallshäufigkeit erfasst, obwohl diese Art der Anfallsdokumentation
fehlerhaft ist. Zum anderen wird die Wirksamkeit und der Nutzen neuer Antiepileptika
für refraktäre Anfälle in Zulassungsstudien häufig immer noch mit dem von Placebo
statt mit Standardtherapien verglichen, obwohl der Einsatz von Placebo mit medizinischen
Risiken und ethischen Problemen einhergeht und Placebokontrollen nicht geeignet sind
zur direkten Bestimmung des Zusatznutzens. In dieser Übersichtsarbeit werden daher
die derzeitigen Methoden zur Anfallsdokumentation und zur Erfassung und Bewertung
des Nutzens und des Zusatznutzens von neuen Antiepileptika aus dem Blickwinkel von
klinischen Epileptologen und einem in der Epilepsieforschung tätigen Biometriker diskutiert.
Die einzelnen Abschnitte wurden von unterschiedlichen Autoren verfasst. Sie basieren
auf Vorträgen, die anlässlich eines Symposiums im Rahmen der 52. Jahrestagung der
Deutschen Gesellschaft für Epileptologie am 16.5.2014 in Bonn gehalten wurden.
Ist der konventionelle Anfallskalender für klinische Studien obsolet? Herausforderungen
in der Anfallsdokumentation und -detektion
Ist der konventionelle Anfallskalender für klinische Studien obsolet? Herausforderungen
in der Anfallsdokumentation und -detektion
Rainer Surges, Christian E. Elger
Der Schweregrad einer Epilepsie wird durch den Anfallstyp (generalisierte tonisch-klonische
Anfälle, Anfälle mit Bewusstseinsstörung) und die Anfallshäufigkeit bestimmt. Der
Anfallskalender ist ein wichtiges Instrument im klinischen Alltag und bei kontrollierten
Arzneimittelstudien. In der alltäglichen klinischen Praxis beruhen Behandlungsentscheidungen
in der Regel auf diesen beiden Informationen, aber auch im wissenschaftlichen bzw.
pharmazeutischen Bereich, beispielsweise bei einer kontrollierten klinischen Arzneimittelstudie,
stellt die Anfallshäufigkeit bzw. die Reduktion der Anfälle während der aktiven Studienphase
den wichtigsten primären Endpunkt dar. Besonders hervorzuheben ist auch die Tatsache,
dass die Zulassung neuer Antiepileptika (AED) auf der medianen prozentualen Veränderung
der Anfallshäufigkeit oder auf den Responderraten (Anteil der Patienten mit einer
Anfallsreduktion um mindestens 50 % im Vergleich zur Vorbehandlung) basiert, die wiederum
aus den Anfallskalendern abgeleitet werden. Dabei wird die Anzahl der Anfälle in der
Regel durch die Patienten selbst oder die betreuenden Personen in einem Papier-Anfallskalender
dokumentiert. Wie zuverlässig das Ausfüllen im ambulanten Bereich über einen längeren
Zeitraum ist (beispielsweise über 3 – 6 Monate, also der Gesamtdauer einer typischen
placebokontrollierten randomisierten Arzneimittelstudie entsprechend) und welches
die relevanten Einflussfaktoren für einen korrekt ausgefüllten Anfallskalender bei
Menschen mit Epilepsie sind, wurde bisher nicht systematisch untersucht. Aus der Schmerzforschung
weiß man jedoch, dass selbst das Ausfüllen von „Schmerztagebüchern“ in Papierform
nicht regelmäßig erfolgt und wenig verlässlich ist [1]. In einer prospektiven Studie wurden 40 Patienten gebeten, zu 3 vorgegebenen Uhrzeiten
über 21 Tage u. a. die Schmerzintensität und den Zeitpunkt des Tagebucheintrags anzugeben.
Während die durch die Patienten angegebene subjektive Compliance (vom Patienten berichtete
Uhrzeit in der Dokumentation, ein Zeitraum von 30 min um die besagte Uhrzeit wurde
toleriert) beim Ausfüllen des Tagebuchs bei über 90 % lag, betrug die objektive Compliance
(erfasst durch einen versteckten elektronischen Zeitgeber innerhalb des Tagebuchs)
nur ca. 10 %.
Die selbstberichtete Anfallshäufigkeit bei Epilepsie ist sehr fehlerhaft
Dieser überraschende Befund aus dem Bereich der Schmerzforschung legt nahe, dass das
Ausfüllen papierner Tagebücher zur Dokumentation von Symptomen oder Anfällen unzuverlässig
erfolgt. Bei Epilepsiepatienten liegen darüber hinaus weitere Bedingungen vor, durch
die eine zuverlässige und korrekte Dokumentation epileptischer Anfälle erschwert werden
kann. Eine fehlerhafte Anfallsdokumentation kann u. a. auf kognitive Einschränkungen
der Patienten (durch die Ursache der Epilepsie selbst oder aufgrund kognitiver Nebenwirkungen
der antikonvulsiven Medikation), neuropsychiatrische Komorbiditäten (z. B. Depression
u. a. mit Antriebslosigkeit), Eigenschaften oder Effekte der epileptischen Anfälle
selbst (Anfälle werden verkannt, z. B. Auren als Befindlichkeitsstörung; Anfälle in
gedächtnisrelevanten Strukturen; postiktuale Amnesie) oder möglicherweise auch auf
das Eigeninteresse der Patienten (z.B. bewusst falsche Angaben zum Erhalt der Fahreignung
[2]) zurückgeführt werden. Aufschluss darüber, wie akkurat die Anfallsdokumentation
durch Patienten ist, geben beispielsweise klinische Studien, bei denen während der
stationären Video-EEG Langzeitableitung die tatsächliche Anzahl der stattgehabten
Anfälle erfasst wurde und mit den Angaben bzw. der Dokumentation der Patienten im
Anfallskalender [3]
[4]
[5] verglichen wurden. Dabei zeigte sich, dass zusammengefasst ca. 50 % der Anfälle
nicht durch die Patienten dokumentiert wurde und die Mehrzahl (ca. zwei Drittel) der
Patienten inkorrekte Angaben lieferten [3]
[4]
[5]
[6]. Als wesentliche Einflussfaktoren für eine inkorrekte Dokumentation wurden der Anfallstyp,
der Schlaf-wach-Zustand vor Auftreten der Anfälle und die Seite des Anfallsursprungs
identifiziert [3]
[4]
[6]. So blieben 73 % der komplex-partiellen Anfälle undokumentiert, aber auch 42 % der
sekundär generalisierten tonisch-klonischen Anfälle wurden überraschenderweise nicht
im Anfallskalender vermerkt [4]. Ein wesentlicher Risikofaktor für die fehlende Dokumentation war das Auftreten
aus dem Schlaf heraus, so wurden 86 % der aus dem Schlaf auftretenden epileptischen
Anfälle nicht dokumentiert [4]. Schließlich scheinen linkshemisphärische Anfälle besonders häufig nicht berichtet
zu werden [3]
[4]. Zusammengefasst ist es daher nicht verwunderlich, dass Patienten mit einer geringen
selbstberichteten Anfallshäufigkeit wahrscheinlich einen höheren Anteil an nicht bemerkten
Anfällen haben [6]. Im ambulanten Bereich wurden in einer Studie mithilfe eines mobilen Langzeit-EEGs
47 Anfälle aufgezeichnet, von denen 38 % nicht berichtet wurden [7]. Ein dramatischeres Bild zeichnet eine aktuelle Studie, bei der Anfälle mittels
chronischer intrakranieller EEG-Ableitungen und akustischer Signale in 15 Patienten
identifiziert wurden [8]. Die so erhaltene objektive Anfallsdokumentation zeigte eine große Diskrepanz zu
den Angaben der Patienten [8]
[9]. So stimmten die Angaben und die EEG-Registrierungen nur bei 2 Patienten annähernd
überein, bei allen anderen zeigte sich kein systematischer Zusammenhang zwischen subjektiver
und objektiver Anfallsdokumentation. Von besonderer praktischer Bedeutung ist, dass
die akkurate Dokumentation der Anfälle durch tägliches Erinnern an das Ausfüllen des
Anfallskalenders nicht verbessert werden konnte [4]. Dies könnte darauf hinweisen, dass die unzuverlässige Anfallsdokumentation nicht
primär auf Non-compliance oder mangelnde Sorgfalt zurückzuführen ist, sondern auf
neuropsychiatrische Effekte der Anfälle selbst. Möglicherweise ist die Anfallszählung
durch Dritte, beispielsweise Angehörige oder Betreuer, aufgrund der fehlenden Störeinflüsse
epileptischer Anfälle besser als durch Patienten selbst. Allerdings zeigte sich beispielsweise
im pädiatrischen Bereich, dass die berichtete Anfallshäufigkeit durch Eltern von an
Epilepsie erkrankten Kindern ebenfalls sehr fehlerhaft ist. So wurden in einer Video-EEG-kontrollierten
Studie lediglich 38 % der Anfälle durch die Eltern korrekt angegeben, wohingegen 50 %
der Anfälle überhaupt nicht berichtet wurden [10].
Nicht-EEG-basierte Methoden ermöglichen eine verbesserte objektive Anfallsdokumentation
Zusammengefasst ist die bisher alleinig eingesetzte Anfallsdokumentation durch Patienten
selbst oder Angehörige bzw. Betreuer also in hohem Maße unzuverlässig und fehlerhaft.
Daher sollte die Entwicklung neuer Methoden zur akkuraten Anfallszählung sowohl aus
klinischer als auch pharmazeutisch-wissenschaftlicher Sicht künftig besonders vorangetrieben
werden [11]. Erfolgreich eingesetzte Methoden stehen besonderen Herausforderungen gegenüber.
So sollte die Methode u. a. verschiedene Anfallstypen korrekt identifizieren können
und das entsprechende Instrument im alltäglichen Leben praktikabel und wenig behindernd
anwendbar sein. Mobile EEG-Messungen sind zwar prinzipiell möglich, aber u. a. aufgrund
des geringen Tragekomforts und ästhetischer Aspekte weniger Erfolg versprechend. Für
den Alltag besonders geeignet scheinen aus unserer Sicht hingegen kleine und leichte
Geräte mit entsprechenden Sensoren, die beispielsweise mit Armbändern am Handgelenk
angebracht werden. Die Überlegenheit solcher Armbänder im Vergleich zu anderen Sensoren
(wie beispielsweise auf dem Brustkorb oder am Oberarm angebrachte EMG-Elektroden,
ins Ohr eingebrachte Pulsoxymeter oder intrakranielle oder subkutane EEG-Elektroden)
ist bisher jedoch nicht nachgewiesen.
Epileptische Anfälle können mit einer Vielzahl verschiedener Symptome einhergehen,
die von motorischen Phänomenen bis zu Veränderungen autonomer Funktionen reichen.
So führen epileptische Anfälle häufig zu einer Zunahme der sympathischen Aktivität,
die sich in einem Anstieg der Herzfrequenz und einer Zunahme der elektrischen Hautleitfähigkeit
äußert [12]. Zur Detektion motorischer Phänomene werden Akzelerometer (am Handgelenk oder am
Körperstamm angebrachte Instrumente, die Änderungen der Geschwindigkeit bzw. Beschleunigungen
messen) und Elektromyografie-Elektroden (beispielsweise auf dem Brustkorb angebracht,
messen die elektrische Muskelaktivität) eingesetzt [13]
[14]. Durch Einsatz der Akzelerometrie oder der Elektromyografie lassen sich generalisierte
tonisch-klonische Anfälle anhand ihrer motorischen Elemente meist gut als epileptische
Anfälle identifizieren und von Alltagsbewegungen unterscheiden [13]
[14]. Die Sensitivität (entspricht dem Anteil der detektierten epileptischen Anfälle
in Relation zu allen im Beobachtungszeitraum aufgetretenen epileptischen Anfällen)
für die Detektion klonischer, tonischer, hypermotorischer bzw. generalisierter tonisch-klonischer
Anfälle lag in den verschiedenen Studien zwischen 80 – 90 % [15]
[16]
[17]
[18]. Um abzuschätzen, wie akkurat eine Methode epileptische Anfälle erfasst, werden
auch Informationen zu den nicht epileptischen Ereignissen benötigt, die fälschlicherweise
als epileptische Anfälle klassifiziert werden. So wurde der positive prädiktive Wert,
also der Anteil der korrekterweise detektierten epileptischen Anfälle in Relation
zu allen als epileptische Anfälle klassifizierten Ereignisse, in besagten Studien
lediglich mit 35 – 58 % beziffert, in einer Studie wurde auch die Rate von 0,2 falsch
positiven Ereignissen pro Tag angegeben [16]
[17]
[18]. Bei symptomärmeren Anfällen (z. B. Auren oder diskreten automotorischen Anfällen)
kann die Messung autonomer Phänomene zur korrekten Erfassung epileptischer Anfälle
beitragen. So steigt die Herzfrequenz bei 80 – 90 % fokaler Anfälle temporalen und
extratemporalen Ursprungs signifikant um 50 – 60 % an [19]. In einer kleineren Studie bei Patienten mit tonischen oder myoklonischen Anfällen
ergab sich eine Sensitivität von über 90 % und ein positiver prädiktiver Wert von
50 % mit der Messung des Herzfrequenzanstiegs zur Anfallsdetektion [20]. Die elektrische Hautleitfähigkeit steigt ebenfalls signifikant mit fokalen und
generalisierten tonisch-klonischen Anfällen an [21]. Autonome Veränderungen sind naturgemäß nicht anfallsspezifisch, so gehen nächtliche
„Arousal“ oder andere Alltagsaktivitäten ebenfalls mit kurzen Änderungen der sympathischen
Aktivität einher [22].
Die bisherigen Studien zeigen zusammengefasst trotz recht guter Sensitivität noch
keine ausreichende Spezifität zum korrekten Erkennen nicht epileptischer Ereignisse,
um diese Methoden sinnvoll zur automatisierten Anfallszählung einzusetzen. Zudem wurden
vorwiegend Anfälle mit dominierenden motorischen Phänomenen untersucht. Angesichts
der Vielfältigkeit der Anfallssymptome scheint die multimodale synchrone Messung und
Analyse verschiedener Körpersignale (z. B. gleichzeitige Messung von Herzfrequenz,
Hautwiderstand und Beschleunigung von Extremitätenbewegungen) am vielversprechendsten
zu sein, um eine hohe Sensitivität und Spezifität bei der Anfallsdetektion zu erzielen.
Schlussfolgerungen
Insgesamt zeigen alle bisher durchgeführten Untersuchungen, dass die Aufzeichnung
epileptischer Anfälle durch den Patienten selbst unsystematisch unzuverlässig ist
und für die Bewertung von Interventionen neue methodische Ansätze gewählt werden müssen.
Aus klinischen-praktischen Gründen wird oft vereinfachend davon ausgegangen, dass
die (wenngleich auch ungenaue) Anfallsdokumentation mit der tatsächlichen Anfallshäufigkeit
eines individuellen Patienten korreliert. Diese Annahme wird durch die bisher spärliche
Literatur und angesichts der heterogenen, oben diskutierten Ursachen der inkorrekten
Anfallsdokumentation jedoch nicht mit ausreichend hoher Sicherheit gestützt. Angesichts
der methodischen Unsicherheit ist notgedrungen die subjektive Einschätzung der Patienten
im konventionellen Anfallskalender für weitere therapeutische Entscheidungen wie bisher
ausschlaggebend.
Eine alltagstaugliche und Erfolg versprechende Methode zur akkuraten Anfallszählung
könnte die multimodale Analyse verschiedener Biosignale mittels eines am Handgelenk
angebrachten Armbands sein. Die Entwicklung solcher Geräte und Algorithmen ist Gegenstand
derzeitiger Forschung und wird künftig möglicherweise die Anfallsdokumentation verbessern
und somit die Behandlung von Menschen mit Epilepsie und die Arzneimittelentwicklung
maßgeblich beeinflussen.
Ist die Gabe von Placebo bei der klinischen Entwicklung neuer Antiepileptika sinnvoll
und unbedenklich?
Ist die Gabe von Placebo bei der klinischen Entwicklung neuer Antiepileptika sinnvoll
und unbedenklich?
Dieter Schmidt
Als Reaktion auf die Thalidomid-Katastrophe, bei der Ende der 1950er-Jahre Tausende
von Neugeborenen mit Missbildungen der Gliedmaßen auf die Welt kamen, nachdem ihre
Mütter während der Schwangerschaft das angeblich harmlose Schlafmittel Thalidomid
eingenommen hatten, wurden in den USA und in Europa in den 1960er-Jahren die gesetzlichen
Bestimmungen zur Arzneimittelprüfung präzisiert [23]. Seither wird randomisiert Placebo zur internen Validierung der Studie und als Kontrollsubstanz
zur Erfassung der Wirksamkeit und der Unbedenklichkeit des Testpräparats eingesetzt.
Die ersten placebokontrollierten Studien mit den damals neuen Antiepileptika Valproinsäure
und Carbamazepin wurden in den 1970er-Jahren in Europa und den USA durchgeführt [23]
[24]
[25]
[26]. Seither ist bekannt, dass die zusätzliche Gabe von Placebo bei Patienten mit Epilepsie
sowohl positive als auch negative Wirkungen im Vergleich zur Vorbehandlung hat, die
als Placebo- bzw. als Nocebowirkung bezeichnet werden [27]. Obwohl Placebos seit 50 Jahren bei der klinischen Entwicklung neuer Medikamente
gegen Epilepsie aufgrund behördlicher Empfehlungen eingesetzt werden, sind erst in
letzter Zeit zunehmend schwerwiegende Zweifel am Einsatz von Placebo geäußert worden
[28]
[29]
[30]. In dieser kritischen Übersicht über den Einsatz von Placebo bei der klinischen
Entwicklung neuer Antiepileptika zur Behandlung von Epilepsien werden daher folgende
Fragen kurz erörtert.
-
Beeinflussen äußere Faktoren die Wirksamkeit von Placebo in Antiepileptikastudien?
-
Ist der Einsatz von Placebo zur Bestimmung der Wirksamkeit von Antiepileptika nützlich
oder schädlich?
-
Sprechen Noceboeffekte bei Epilepsie gegen den unbedenklichen Einsatz von Placebo?
-
Sollte Placebo in Antiepileptikastudien vermieden oder abgeschafft werden?
Beeinflussen äußere Faktoren die Wirksamkeit von Placebo in Antiepileptikastudien?
In der klinischen Entwicklung neuer Antiepileptika wird standardgemäß in doppeltblinden,
randomisierten Phase-2- und -3-Studien die anfallshemmende Wirksamkeit des neuen Medikaments
mit der von Placebo verglichen (Glossar).
Wirkung: Die European Medicines Agency (EMA) und die Food and Drug Admistration der USA (FDA)
akzeptieren beide als Wirksamkeitsnachweis eine Überlegenheit in der Anfallsfrequenz
in randomisierten kontrollierten Studiendesigns zugunsten des getesteten Antiepileptikums
gegenüber einer Kontrolltherapie von Placebo (bei Zusatztherapie) oder einem Standardantiepileptikum
bei Monotherapie vorher unbehandelter Patienten. Zudem akzeptiert die EMA einen Wirksamkeitsnachweis
bei Nichtunterlegenheit des neuen Antiepileptikums bei initialer Monotherapie, während
die FDA auch hier auf einem Überlegenheitsnachweis besteht. Die FDA akzeptiert bei
der Konversion zur Monotherapie refraktärer Anfälle prinzipiell auch einen Überlegenheitsnachweis
gegenüber einer niedrig dosierten Monotherapie (wird auch als Pseudoplacebo bezeichnet,
weil ähnliche ethische Probleme wie bei Placebo auftreten) oder neuerdings gegenüber
einer sogenannten historischen Kontrollgruppe (Literatur siehe [23]).
Nutzen: Gemäß Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung (AM-NutzenV) ist der Nutzen im Rahmen
des AMNOG wie folgt definiert: „Der Nutzen eines Arzneimittels … ist der patientenrelevante
therapeutische Effekt insbesondere hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustands,
der Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überlebens, der Verringerung
von Nebenwirkungen oder einer Verbesserung der Lebensqualität.“ Diese Definition ist
kongruent zu anderen Nutzendefinitionen im Kontext des SGB V, bei denen die übergeordneten
Bereiche „Mortalität, Morbidität (einschließlich Nebenwirkungen) und gesundheitsbezogene
Lebensqualität“ als Nutzendimensionen beschrieben werden.
Zusatznutzen: Ein Zusatznutzen liegt dann vor, wenn der Nutzen (nach obiger Definition) eines Arzneimittels
(oder einer nicht medikamentösen medizinischen Intervention) größer ist als der eines
anderen Arzneimittels (bzw. einer anderen medizinischen Intervention). Im Kontext
der frühen Nutzenbewertung ist dabei der Vergleichsmaßstab die „zweckmäßige Vergleichstherapie“.
Diese muss nach bestimmten Kriterien festgelegt werden. Die zweckmäßige Vergleichstherapie
kann auch eine „individuell optimierte“ Therapie sein.
Die bloße Tatsache, dass ein neues Arzneimittel zur Verfügung steht, ist unabhängig
davon, ob es sich um einen neuen Wirkmechanismus handelt oder nicht, kein Zusatznutzen
im Sinne des SGB V.
Das Zusatzmedikament wird traditionell als wirksam erachtet, wenn die anfallshemmende
Wirkung größer ist als unter Placebo [23]. In einer Metaanalyse an 11 106 Patienten mit refraktärer Epilepsie führte beispielsweise
die Zusatztherapie mit neuen Antiepileptika bei 6 % zu Anfallsfreiheit und bei 21 %
zu einer mindestens 50 %igen Anfallsreduktion, wenn man die Wirkung von Placebo abzieht
[31]. Betrachtet man isoliert nur die Placebowirkung, kam es beispielsweise in einer
Metaanalyse von 3 placebokontrollierten Studien eines neuen Antiepileptikums bei 23 %
zu einer mindestens 50 %igen Anfallsreduktion im Vergleich zur Vorbehandlung und bei
den übrigen 77 % war Placebo weniger wirksam [31]. Bislang galt Placebo als eine von Patienteneigenschaften und Studienort unabhängige
und von Zulassungsbehörden akzeptierte Kontrollinstanz zur Bestimmung der Wirksamkeit
von zusätzlich gegebenen Antiepileptika in doppeltblinden randomisierten Studien [23]. Diese Annahme ist nach mehreren Studien nicht mehr als zutreffend anzusehen. Wenn
äußere Faktoren den Unterschied zwischen der anfallshemmenden Wirkung von Placebo
und dem Testmedikament beeinflussen, kann eine Bestimmung der Wirksamkeit des Testmedikaments
durch selektive Zu- oder Abnahme der Placebowirkung im Vergleich zum Testmedikament
verfälscht werden. Die Wahrscheinlichkeit einer 50 %igen Anfallsreduktion unter Placebo
(nicht aber unter neuen Antiepileptika) [32] nimmt in den letzten Jahren stetig zu [33], wenngleich das nicht endgültig geklärt ist [34]
[35]. Da in den letzten Jahren vermehrt Zentren aus Südamerika und Osteuropa an Studien
teilnehmen, die aus ungeklärten Gründen höhere Placebowirkungen aufweisen als westeuropäische
Zentren trotz regional ähnlicher Wirksamkeit der neuen Medikamente [35], könnte dies eine mögliche Erklärung für den Anstieg darstellen. Der Anstieg der
Placebowirkung hatte zudem einen wesentlichen Nachteil für die Durchführung placebokontrollierter
Zulassungsstudien von Antiepileptika. Die Zahl der Studienpatienten (und der Studienzentren)
musste erhöht werden, um bei verringertem Therapieeffekt statistisch signifikante
Unterschiede zum Testmedikament zu erreichen. Ob, wie in anderen Therapiebereichen,
spezielle sequenzielle Studiendesigns diesem Mangel auch in Antiepileptikastudien
abhelfen können, ist bisher nicht untersucht (siehe nachfolgender Beitrag).
Die Wirkung von Placebo ist bekanntermaßen zudem im Kindesalter unter 6 Jahren höher
als bei älteren Kindern und Jugendlichen [30]
[33]. Hingegen sinkt die Wahrscheinlichkeit der Wirksamkeit von Placebo, wenn der Patient
im Laufe seines Lebens mit mindestens 7 Antiepileptika oder epilepsiechirurgisch vorbehandelt
ist [35]. Die Placebowirkung nimmt ebenfalls ab, falls mehr als 10 Anfälle pro 28 Tage vor
Eintritt in die Studie aufgetreten sind [29]. Obgleich diese vorläufigen Daten durch weitere Studien noch bestätigt werden müssen,
stellen sie die Unabhängigkeit der Placebokontrolle von Patienteneigenschaften infrage.
Wenn diese, bisher unberücksichtigt gebliebenen, Einflussfaktoren im Studiendesign
nicht erfasst und kontrolliert werden, ist der Wert der Placebokontrolle zur Ermittlung
der Wirksamkeit eines neuen Medikaments stark beeinträchtigt. Dies ist nicht nur eine
theoretische Befürchtung, denn es sind bereits mehrere neue Antiepileptika u. a. aufgrund
unerklärt hoher Placebowirkung als unwirksam oder nicht ausreichend wirksam angesehen
worden, sodass deren Entwicklung gestoppt worden ist [30].
Ist Placebo zur Bestimmung der Wirksamkeit von Antiepileptika nützlich oder schädlich?
Abgesehen von der Beeinflussung der Wirksamkeit von Placebo durch äußere Bedingungen
hat der Einsatz von Placebo weitere entscheidende Nachteile. Placebo ist kein zugelassenes
und wirksames Medikament zur Behandlung von Epilepsien. Placebo hat sich noch nie
wirksamer als ein Standardmedikament erwiesen und wurde noch nie mit dem natürlichen
Krankheitsverlauf der Epilepsie ohne medikamentöse Behandlung verglichen. Daher ist
die Gabe von Placebo bei unbehandelten Patienten ethisch unvertretbar. Die Gabe von
Placebo blockiert bei behandelten Patienten mit schwerer chronischer Epilepsie während
der mehrmonatigen Studie, die Umstellung auf andere zugelassene und nachgewiesen wirksame
Medikamente. Es gibt unzweifelhafte Belege, dass eine Umstellung auf andere Antiepileptika
bei vormals schlecht behandelbaren oder gar pharmakoresistenten Epilepsien zu einer
deutlichen Anfallsabnahme und sogar langjähriger Anfallsfreiheit führen kann [36]. Wegen der erhöhten anfallsbedingten Mortalität von schwer behandelbaren Epilepsien
ist der Einsatz von Placebo mit Vorenthalten einer möglicherweise wirksameren Therapie
für die Dauer der mehrmonatigen Placebogabe nach dem Standard des Helsinki-Abkommens
bei erfolglos behandelten Patienten ethisch zumindest zweifelhaft [37].
Ein weiterer Nachteil von Placebo aus industrieller Sicht ist, dass eine höhere Wirksamkeit
gegenüber Placebo zwar eine Wirkung als Therapieoption belegt, die zur Zulassung reicht,
aber nicht zur Beurteilung des Zusatznutzens gegenüber dem, was bereits zur Behandlung
zur Verfügung steht. Da sich die Preisbildung nach dem Zusatznutzen richtet, ist der
Nachweis einer besseren Wirksamkeit als unter Placebo kommerziell nicht mehr interessant,
zumindest in Ländern, die einen Zusatznutzen fordern als Grundlage für einen höheren
Preis als für die standardgemäße Vergleichsbehandlung. Ärzte und Patienten sowie Kostenträger
wollen in allen Ländern verständlicherweise wissen, ob das neue Medikament im direkten
Vergleich mehr oder weniger oder ähnlich nützlich ist wie vorhandene Standardmedikamente.
Daher ist der Vergleich mit Placebo allenfalls zu Beginn der klinischen Entwicklung
in früher Phase 2 zur groben Orientierung vertretbar, danach ist der direkte Vergleich
mit einer standardgemäßen Behandlung ungleich aussagekräftiger, wenn auch nicht so
einfach wie mit Placebo [23]
[38]. Schädlich wird der Vergleich mit Placebo dann, wenn wirksame Medikamente nicht
weiterentwickelt werden, weil der Wirksamkeitsnachweis wegen unerklärt hoher Placebowirkung
scheitert. Genauso schädlich wäre es, wenn ein wenig oder nicht wirksames neues Medikament
fälschlicherweise als wirksam angesehen wird, weil es bei Patienten mit ungewöhnlich
niedriger Placebowirksamkeit geprüft wurde.
Sprechen Noceboeffekte bei Epilepsie gegen den unbedenklichen Einsatz von Placebo?
Bis vor Kurzem wurden jegliche unerwünschte Wirkungen unter Placebo, die üblicherweise
als Noceboeffekte bezeichnet werden und die seit Langem bekannt sind, als vertretbar
oder als unbedenklich angesehen, weil sie in der Regel weniger häufig auftraten als
die unerwünschten Wirkungen des neuen Medikaments und weil sie meist nicht schwerwiegend
oder nicht sehr störend waren [39]. Meist handelt es sich um Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schwindel und Schläfrigkeit,
die bei 6 – 14 % der Patienten unter Placebo auftreten und allenfalls bei bis zu 5 %
zum Therapieabbruch führen [39]. Diese Einschätzung änderte sich, als im Jahre 2011 berichtet wurde, dass die Mortalität
in doppeltblinden randomisierten Zusatzstudien infolge plötzlichen unerwarteten Todesfällen
(SUDEP = Sudden unexpected death in epilepsy) unter neuen Antiepileptika 7-mal niedriger
waren als unter Placebo [40]. Daher gehen Patienten unter Placebo ein deutlich erhöhtes Mortalitätsrisiko ein.
Dieser Befund wurde in einer ergänzenden Studie durch die FDA bestätigt, die im Dezember
2014 auf dem jährlichen Kongress der American Epilepsy Society vorgestellt wurde (Symposium
„FDA Town Hall Update: SUDEP and Clinical Trials“, persönliche Mitteilung von R. Surges).
Daher bestehen erhebliche Zweifel, ob die Gabe von Placebo als unbedenklich einzustufen
und uneingeschränkt vertretbar ist, zumal es keine über die Anfallskontrolle hinausgehende
Prävention des SUDEP gibt (eine früh einsetzende kardiopulmonale Reanimation kann
wahrscheinlich ebenfalls das SUDEP-Risiko bei anfallsassoziiertem Herz-Kreislauf-Stillstand
senken) [41]
[42]. Eine standardgemäße Aufklärung des Patienten über diesen Sachverhalt muss erfolgen.
Schlussfolgerungen: Sollte Placebo in Antiepileptikastudien vermieden oder abgeschafft
werden?
Obwohl die Gabe von Placebo verteidigt werden kann zur Etablierung einer internen
Validität von Antiepileptikastudien [35], sind in letzter Zeit zunehmend berechtigte Zweifel aufgekommen, ob die Gabe von
Placebo unverändert weiter vertretbar ist. Daher hat das Interesse an placebofreien
komparativen Studiendesigns mit zugelassener Standardtherapie oder zumindest an möglichst
eingeschränktem Einsatz von Placebo zugenommen [23]. Neue Studiendesigns, die als primäre Zielparameter die Zeit bis zum n-ten Anfall
oder bis zum Therapieversagen verwenden, können möglicherweise eine längere Placeboexposition
vermeiden und eine raschere Erfassung der Wirksamkeit erlauben [23]
[35]. Die Zeit von Placebo als ein wirksames und unbedenkliches Kontrollmedikament in
der klinischen Entwicklung von neuen Antiepileptika neigt sich ihrem Ende zu.
Nachweis des therapeutischen Nutzens von Antiepileptika in Zulassungsstudien und vergleichenden
Studien
Nachweis des therapeutischen Nutzens von Antiepileptika in Zulassungsstudien und vergleichenden
Studien
Theodor W. May
Die Durchführung klinischer Studien zur Zulassung neuer AED ist in den letzten Jahrzehnten
schwieriger geworden. Es gibt Hinweise darauf, dass die Bereitschaft von Patienten
zur Teilnahme an placebokontrollierten Studien – zumindest in vielen industrialisierten
Länder (EU, Nordamerika etc.) – sinkt. Gleichzeitig werden mehr und bessere praxisrelevante,
vergleichende Studien gefordert, die etwas über die Wirksamkeit eines neuen AEDs im
Vergleich zu zugelassenen (Standard-)AED aussagen [35]
[44]. Als „Standard-AED“ oder AED der 1. Wahl sollen als von nationalen oder internationalen
Fachgesellschaften empfohlene AED bezeichnet werden (vgl. z. B. Empfehlungen der Deutschen
Gesellschaft für Epileptologie [DGfE] zur medikamentösen Behandlung fokaler Epilepsien
im Erwachsenenalter vom 25.05.2013 und Leitlinien „Erster epileptischer Anfall und
Epilepsien im Erwachsenenalter“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [DGN] von
2012) [45]
[46]). In Deutschland hat insbesondere das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts
(AMNOG) [47] die kontrovers diskutierte Frage aufgeworfen, wie der „Zusatznutzen“ von neuen AED
in geeigneter Weise nachzuweisen sei, vgl. hierzu zum Beispiel die Stellungnahmen
der DGfE und DGN [48] und der Epilepsie-Patientenvereinigung [49].
Nachweis der Wirksamkeit von Antiepileptika in Zulassungsstudien
Gesetzliche Grundlage für die Zulassung von Medikamenten in Deutschland ist das Arzneimittelgesetz
(AMG) [50], wobei bei der Durchführung klinischer Studien weitere Verordnungen, insbesondere
zur Guten Klinischen Praxis [51], und europäische und internationale Richtlinien zu beachten sind. Neben einer nationalen
ist auch eine Zulassung für mehrere EU-Länder gleichzeitig bzw. eine zentrale Zulassung
für den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum möglich. In diesem Fall übernimmt die
Europäische Arzneimittelagentur (EMA) die organisatorische Durchführung des Zulassungsverfahrens.
Für den Nachweis der Wirksamkeit (zur Definition siehe Glossar) von AED in der EU ist insbesondere die EMA „Guideline on clinical investigation
of medicinal products in the treatment of epileptic disorders“ (CHMP/EWP/566/98 Rev.2/Corr;
22 July 2010) [52] zu beachten, wobei einerseits zwischen Add-on- und Monotherapiestudien und andererseits
zwischen Studien bei Erwachsenen und Kindern differenziert wird ([Tab. 1]). Die Zulassung von neuen AED bei Kindern wurde durch die EU-Verordnung (EG) Nr. 1901/2006
neu geregelt bzw. vereinfacht [53].
Tab. 1
Studientypen, -designs und primäre Zielparameter zum Nachweis der Wirksamkeit und
Verträglichkeit von AED nach EMA „Guideline on clinical investigation of medicinal
products in the treatment of epileptic disorders“ (2010) [52].
Studientyp
|
Patientengruppe
|
Studiendesign und Fragestellung
|
primärer Zielparameter
|
Anmerkung
|
Add-on-Studie
|
Erwachsene (und Kinder) mit Anfällen trotz geeigneter AED-Therapie
|
-
Parallel-Gruppen-Studiendesign
-
randomisiert, doppelblind, placebokontrolliert
-
Nachweis der Überlegenheit (superiority) des neuen AED gegenüber Placebo
|
-
Responderrate: > 50 % Anfallsreduktion[1]
-
bei Kindern auch andere Zielparameter, z. B. anfallsfreie Tage (sofern begründet)
|
FDA: Fordert mediane prozentuale Veränderung der Anfallshäufigkeit als primären Zielparameter.
|
Monotherapiestudien bei Ersteinstellung
|
neudiagnostizierte Patienten (bisher ohne AED)
|
-
Parallel-Gruppen-Studiendesign
-
randomisiert, doppel-blind, kontrolliert
Nachweis der Nichtunterlegenheit (non-inferiority) gegenüber „Standard-AED“ (Kontrolle)
bei optimaler Dosis
|
|
FDA: Akzeptiert keine Nichtunterlegenheit bei Monotherapiestudien, fordert eine Überlegenheit
gegenüber Kontrolle („Pseudo-Placebo“[2] oder AED); akzeptiert aber auch Vergleich mit historischer (Pseudo-)Placebo-Gruppe
[6]
[7]
|
Monotherapiestudien bei Konversion[3]
|
Patienten mit AED, die auf eine Monotherapie umgestellt werden sollen
|
Definition der Kontrolle nicht weiter spezifiziert. Nachweis der Nichtunterlegenheit
(non-inferiority) gegenüber „Kontrolle“
|
|
1 Alternative Zielparameter: „In cases of very frequent seizures, (e. g. absences)
or seizures difficult to quantify clinically it is recommended to develop more precise
tools of quantification of the seizure frequency such as quantitative EEG recordings
or telemetry by video/EEG.“
2 Mit „Pseudo-Placebo“ ist ein niedrig (suboptimal) dosiertes Vergleichs-AED gemeint.
3 „Such data cannot support a monotherapy indication as patients in conversion to monotherapy
studies are not representative for patients receiving monotherapy i. e. newly or diagnosed
patients who mostly have more responsive forms of epilepsy.“
Üblicherweise werden zunächst Zulassungsstudien in einem placebokontrollierten, doppelblinden
Studiendesign bei erwachsenen Patienten durchgeführt, die trotz einer adäquaten Dosierung
geeigneter AED noch Anfälle bekommen und die zusätzlich (add-on) das neue AED erhalten.
Falls der Nachweis der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erbracht wird, erfolgt die
Zulassung des neuen AEDs zunächst als Add-on-Therapie. Für die Zulassung als Monotherapie
sind weitere Studien notwendig, primär bei neudiagnostizierten bzw. bisher unbehandelten
Patienten. Inwieweit solche Monotherapiestudien tatsächlich notwendig sind, ist nicht
unumstritten [35]. Weitere Kritikpunkte an AED-Zulassungsstudien betreffen folgende Aspekte:
-
Relevanz und Zuverlässigkeit des primären Zielparameters: „Anfallsreduktion > 50 %
gegenüber Baseline“ ist ein (mehr oder minder) willkürliches Maß für Response; Dichotomisierung
führt zu Verlust an Information [54]
[55]
[56]. Patientenangaben zu Anfallshäufigkeiten sind nur bedingt zuverlässig bzw. auswertbar
(s. oben)
-
ethische Bedenken gegen Placebo-Kontrolle (s. vorangehender Beitrag),
-
Monotherapiestudien bei neu diagnostizierter Epilepsie: Unklare klinische Relevanz
von Nichtunterlegenheitsstudien und z. T. arbiträre Definition des Kriteriums für
Nichtunterlegenheit bzw. Äquivalenz (z. B. nach ILAE-Guidelines: bis zu 20 % relative
Differenz gegenüber adäquatem Komparator) [35]
[44]
-
eingeschränkte Übertragbarkeit der Ergebnisse aus Zulassungsstudien auf die klinische
Praxis [44].
Nachweis des therapeutischen Nutzens von Antiepileptika in vergleichenden Studien
Head-to-Head-Studien
Für die klinische Praxis sind die Ergebnisse direkt vergleichender Studien („Head-to-Head-Studien“),
in denen AED miteinander bzw. gegen ein Standard-AED getestet werden, aussagekräftiger
als ein Vergleich mit Placebo. Inzwischen gibt es einige randomisierte Head-to-Head-Studien.
Zum Beispiel wurden in den SANAD-Studien bei Patienten mit fokalen Epilepsien das
Carbamazepin (als Mittel der ersten Wahl) mit Gabapentin, Lamotrigin, Oxcarbazepin
und Topiramat und bei Patienten mit generalisierten Epilepsien die Valproinsäure (als
Mittel der ersten Wahl) mit Lamotrigin und Topiramat verglichen [58]
[59]. Primäre Zielparameter waren hier die Zeit bis zum Versagen der Therapie („treatment
failure“) und die Zeit bis zum Erreichen einer 1-Jahres-Remission. In manchen Head-to-Head-Studien
(z. B. [38]) wird zusätzlich ein Vergleich mit Placebo durchgeführt, um sicherzustellen, dass
auch eine Überlegenheit gegenüber Placebo besteht.
Solche Head-to-Head-Studien geben Hinweise darauf, welches AED für eine (initiale)
Monotherapie bei fokalen oder generalisierten Epilepsien zu präferieren ist. Mit der
initialen Monotherapie werden jedoch nur ca. 50 % der Epilepsiepatienten anfallsfrei
[60]. Inwieweit z. B. Nonresponder eines (nach Leitlinien empfohlenen) Standard-AED von
einem anderen oder neuen AED als zweite Monotherapie profitieren (und umgekehrt),
kann mit solchen Head-to-Head-Studiendesigns nicht beantwortet werden.
Beim Head-to-Head-Vergleich des therapeutischen Nutzens von AED als Add-on-Therapie
ist zusätzlich zu beachten, dass einerseits pharmakokinetische oder -dynamische Interaktionen
die Ergebnisse verzerren können und andererseits Patienten auszuschließen sind, die
bereits eines der Vergleichs-AED (einschließlich des Standard-AED) als aktuelle Begleitmedikation
erhalten oder zu einem früheren Zeitpunkt erhalten haben. Unklar ist dabei, inwieweit
diese Patientenselektion die Ergebnisse ebenfalls verfälschen kann. Und auch hier
bleibt die Frage offen, inwieweit Nonresponder eines Standard-AED von einem anderen
oder neuen AED in einer Add-on-Therapie profitieren würden.
Head-to-Head-Studien mit sequenziellem Studiendesign („partial cross-over“)
Ursprünglich wurden sequenzielle Studiendesigns (Sequential Parallel Comparison Design)
für placebokontrollierte Studien mit Antidepressiva bzw. Psychopharmaka entwickelt
[61]
[62]
[63]. Diesen Designs ist ein 2-stufiges Verfahren gemeinsam: Auf der ersten Stufe wird
das Verum mit dem Placebo in einem randomisierten, doppelblinden Design verglichen.
Auf der zweiten Stufe werden die Placebo-Responder ausgeschlossen und die verbliebenen
Placebo-Non-Responder erneut dem Verum- oder Placebo-Arm (randomisiert) zugeordnet.
Solche Studiendesigns können die Anzahl der benötigten Patienten reduzieren und sind
bereits in Psychopharmakastudien eingesetzt worden, aber noch nicht in AED-Studien.
Solche sequenziellen Designs sind auch auf Studien mit einem aktiven Komparator übertragbar
[57]
[62] ([Abb. 1]).
Abb. 1 a) Sequenzielles Design: placebokontrollierte Studien. Beispiel: SPCD-Format No. 1;
b) sequenzielles Design: placebokontrollierte Studien. Beispiel: SPCD-Format No. 2;
c) sequenzielles Design mit Vergleichs-AED. Beispiel: Zusatznutzen eines neuen AED;
d) sequenzielles Design mit Vergleichs-AED. Beispiel: Studie mit „partiellem Cross-over“
(zur näheren Erläuterung s. Text).
Wünschenswert wären vergleichende Studien, bei denen nach der Head-to-Head-Phase in
einem zweiten Schritt die Nonresponder eines AED mit dem Vergleichs-AED behandelt
werden. Dieses Design ist nicht mit einem Cross-over-Design zu verwechseln, in dem
alle Patienten (unabhängig von der Response) die jeweils andere Therapieoption erhalten.
Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang die Studie von Glauser et al. [57], in der mit einem sequenziellen Design (dort als „partial crossover“ bezeichnet)
bei Kindern mit Absence-Epilepsie die Wirksamkeit von Ethosuximid (ESM), Valproinsäure
(VPA) und Lamotrigin (LTG) als initiale Monotherapie verglichen wurde ([Abb. 1]). Auf der ersten Stufe (doppelblind, randomisiert) erhielten die Kinder eines der
3 AED. Falls mit dem entsprechenden AED, z. B. LTG, kein Behandlungserfolg erzielt
werden konnte, wurden auf der zweiten Stufe (open label, randomisiert) die Kinder
mit einem der beiden anderen AED, z. B. ESM oder VPA, behandelt. Der potenzielle Vorteil
dieses Designs ist, dass nicht nur die Wirksamkeit eines AED als initiale Monotherapie,
sondern bei dessen Versagen, wenngleich auf einer niedrigeren Evidenzstufe nach den
Kriterien der Internationalen Liga gegen Epilepsie (da unverblindet), auch die Wirksamkeit
eines alternativen AED als zweite Monotherapie untersucht wird. Veröffentlicht wurden
bisher die Ergebnisse aus der ersten Phase/Stufe.
Vergleichende Studien mit „Best Medical Therapy“ (BMT) als Komparator
Insbesondere in Studien zu epilepsiechirurgischen Interventionen, z. B. Temporallappenresektionen
[64]
[65]
[66] und auch in einer aktuellen VNS-Studie [40], wird nicht ein bestimmtes AED, sondern die nach klinischen Aspekten beste AED-Therapie,
die auch eine Kombination oder sequenzielle Verwendung verschiedener AED beinhaltet,
als Komparator verwendet. Während bei epilepsiechirurgischen Interventionen eine Verblindung
jedoch nicht realisierbar ist, wäre dies bei vergleichenden Studien zu neuen AED möglich
und im Hinblick auf die interne Validität sinnvoll. In einem solchen modifizierten
placebokontrollierten, verblindeten Studiendesign würde der Therapieerfolg in der
Interventionsgruppe mit neuem AED und BMT und in der Kontrollgruppe mit Placebo und
BMT verglichen, wobei die Gabe von Placebo vs. neues AED verblindet wäre. Da auch
in der Placebogruppe eine Anpassung der antiepileptischen Therapie entsprechend BMT
erfolgen kann, könnte das SUDEP-Risiko vermindert sein.
Die Verwendung einer BMT als Kontrollintervention in AED-Studien, stellt nicht nur
im Hinblick auf die Auswahl der individuell, geeigneten BMT, sondern auch im Hinblick
auf die (Fallzahl-)Planung, Verblindung, Durchführung und statistische Auswertung
eine Herausforderung dar. Wahrscheinlich werden höhere Fallzahlen benötigt, da eine
größere Heterogenität beim Einsatz individuell unterschiedlicher BMT und geringere
Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen den Gruppen „neues AED + BMT“ und „Placebo + BMT“
zu erwarten sind. Denn in jeder Gruppe wäre eine Optimierung der (Begleit-)Therapie
im Rahmen der BMT zulässig, im Gegensatz zu „typischen“ placebokontrollierten Studien
(neues AED vs. Placebo), in denen die Begleitmedikation konstant gehalten werden soll.
Bei der praktischen Durchführung ist zu berücksichtigen, dass in jedem Studienarm
2 Interventionen (BMT und neues AED/Placebo) durchgeführt werden, die gleichzeitig
oder zeitlich versetzt begonnen werden könnten bzw. sollten. Werden die beiden Interventionen
gleichzeitig begonnen, d. h. die Aufdosierungsphase des neuen AED bzw. des Placebos
und die Umstellung auf die BMT, die auch mit dem Absetzen eines vorhandenen AED verbunden
sein kann, ist dies nicht unproblematisch. Zum Beispiel lässt sich dann das Auftreten
von Nebenwirkungen oder auch eine Zunahme der Anfallshäufigkeit nicht einer der beiden
Interventionen oder deren Interaktion eindeutig zuordnen. Fraglich ist dann auch,
welche Intervention in diesem Fall angepasst oder ggf. beendet werden sollte. Werden
die beiden Interventionen zeitversetzt begonnen, dann kann dadurch die Studiendauer
erheblich verlängert werden. Auch bei der statistischen Auswertung besteht Klärungsbedarf,
z. B. wie Studienabbrüche angemessen berücksichtigt werden, die sich während der Umstellungsphase
auf die BMT ereignen. Der Verzicht auf eine Verblindung, in Analogie zur VNS-Studie
von Ryvlin et al. [40], würde die Durchführung einer solchen Studie (neues AED + BMT vs. BMT) wesentlich
vereinfachen, hätte aber eine geringere Evidenzstufe (entsprechend ILAE Guidelines)
zur Folge.
Indirekte Vergleiche
Indirekte Vergleiche von Therapieoptionen bezeichnen, vereinfacht gesagt, die statistische
Analyse der Effekte zweier oder mehrerer Therapieoptionen anhand von klinischen Studien,
in der die jeweiligen Therapieoptionen gegenüber demselben Komparator (Placebo oder
Standardtherapie) verglichen wurden.
Solche indirekten Vergleiche sind für neue AED (Oxcarbazepin, Lamotrigin, Topiramat,
Gabapentin, Pregabalin, Levetiracetam, Tiagabin, Zonisamid, Eslicarbazepin, Lacosamid)
durchgeführt worden [67]. Allerdings waren die Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen den neuen AED relativ
klein und keine eindeutigen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Überlegenheit eines
neuen AED möglich. Die Autoren folgerten, dass diese Unsicherheit wahrscheinlich die
Grenzen von indirekten Vergleichen widerspiegeln würde.
Diese Unsicherheit spiegelt sich auch in der gemeinsamen Stellungnahme des IQWiG,
IBS und der GMDS [68] zum Stellenwert indirekter Vergleiche bei der frühen Nutzenbewertung wider: „In
der frühen Nutzenbewertung können sich die vom G-BA festgelegten zweckmäßigen Vergleichstherapien
von den Kontrollarmen der Zulassungsstudien unterscheiden, sodass insbesondere bei
neu zugelassenen Interventionen keine direkten Vergleichsstudien vorliegen. Um dennoch
Nutzenbewertungen zu ermöglichen, sind in einem solchen Fall adjustierte indirekte
Vergleiche unumgänglich. Solange aber eine methodische Aufarbeitung der Frage fehlt,
wann und unter welchen Bedingungen indirekte Vergleiche verlässliche Schlussfolgerungen
zulassen, werden in der Regel nur Aussagen mit einer geringeren Ergebnissicherheit
möglich sein.“
Schlussfolgerungen
Die üblichen Studiendesigns und empfohlenen Zielparameter in (Zulassungs-)Studien
zum Nachweis des therapeutischen Nutzens von neuen Antiepileptika sind kritisch zu
hinterfragen.
Nicht nur im Zusammenhang mit dem Nachweis des Zusatznutzens (entsprechend AMNOG)
sind – bei der Vielzahl bereits zugelassener AED – praxisrelevante Head-to-Head-Studien
anzustreben. Allerdings können Head-to-Head-Studien (im Parallelgruppendesign) bezüglich
des therapeutischen Zusatznutzens eines neuen AED die für die klinische Praxis wichtige
Frage, wie viele der Nonresponder des Referenz-AEDs von dem neuen AED profitieren,
nicht beantworten. In diesem Zusammenhang wären Studien mit einem sequenziellen Design
wünschenswert, mit denen auch Therapiealgorithmen untersucht werden könnten. Auch
bei placebokontrollierten AED-Zulassungsstudien – zumindest bei Phase-II-Studien –
wären sequenzielle Studiendesigns zu erwägen.
Um die Akzeptanz zur Teilnahme von Patienten und Ärzten an Studien zu erhöhen, sind
„patientenfreundlichere“ Studiendesigns und Zielparameter anzustreben. Time-to-treatment-failure-
oder andere Time-to-event/exit-Zielparameter (wie in einigen Head-to-Head-Studien
bereits verwendet) sind geeignet, die Studiendauer von Non-Respondern im Placebo-
oder Verum-Arm zu verkürzen und somit potenzielle Risiken aus einer unwirksamen Behandlung
zu verringern. Mögliche Nachteile solcher Designs sind eine geringere Aussagekraft
bei der Beurteilung unerwünschter Ereignisse.
Wege aus dem Dilemma?
Christian E. Elger, Dieter Schmidt
Die Verabschiedung des AMNOG (Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes) im Jahr
2011 hat eine völlig andere Situation für den Einsatz neuer Medikamente in Deutschland
geschaffen. Für etwa die Hälfte der neuen Medikamente zeigen die vorliegenden Studien
keinen Zusatznutzen gegenüber der bisherigen Standardtherapie.
Die Prüfung des „Zusatznutzens“ erfolgt durch den GBA (Gemeinsamer Bundesausschuss)
auf Grundlage von Gutachten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
(IQWiG). Wird kein Zusatznutzen festgestellt, kann dies für die Preisverhandlungen
derart negative Folgen haben, dass der pharmazeutische Unternehmer zugelassene Medikamente
aus marktwirtschaftlichen Interessen nur über spezielle Verfahren oder über das europäische
Ausland zugänglich macht. Für die Epileptologie trifft dies bisher für 2 Medikamente
– Retigabin und Perampanel – zu. Beide repräsentieren neue Wirkmechanismen und müssen
daher als echte pharmakologische Innovationen betrachtet werden, wobei dies allein
nicht mit einem klinischen Fortschritt gleichzusetzen ist.
Das IQWiG hat die Aufgabe, einen Zusatznutzen für die jeweilige Indikation auf der
Basis von Vergleichsdaten zu bewerten, die vom jeweiligen pharmazeutischen Unternehmen
geliefert werden. Die Kriterien zur Festlegung der zweckmäßigen Vergleichstherapie
sind vom Gesetzgeber festgelegt worden, insbesondere ist die Studienlage entscheidend.
Hierzu werden aus den Zulassungsstudien im Vergleich zum vorgeschlagen Komparator
die Daten extrahiert und bewertet. In beiden Fällen entschied der GBA, dass kein Zusatznutzen
vorliegt. Die Entscheidung des GBA wurde im Fall von Perampanel in Stellungnahmen
der DGfE und der Epilepsie-Patientenvereinigung bedauert [48]
[49]. Der Fairness halber ist anzuführen, dass in anderen Publikationen der klinische
Zusatznutzen von Perampanel als derzeit nicht belegt angesehen wurde [69].
Im Folgenden wird kurz die z. T. kontroverse Diskussion über die Bestimmung des Zusatznutzens
skizziert. Eine Sichtweise lässt sich wie folgt zusammenfassen: Mit Schaffung des
AMNOG wurden neue Studien notwendig, und es wurde erst im Laufe der beiden geschilderten
Bewertungsverfahren von AED klar, dass die konventionellen Zulassungsstudien für die
Bewertung eines Zusatznutzens nicht verwendet werden können (aus verständlichen und
hier dargelegten Gründen). Die Akzeptanz der Zulassungsstudien durch die entsprechenden
Behörden hat vergessen lassen, wie problematisch Therapiestudien bei Epilepsie sind.
Ätiologiedifferenzen, Anfallszählung, Pharmakokinetik, Pharmakodynamik, Erfolg einer
Vorbehandlung, Lebensalter, die Auswahl der Kontrollgruppe sowie deren Behandlung
u. v. m. bestimmen Wirksamkeit und Verträglichkeit einer in der Zusatztherapie eingesetzten
Medikation. Da die traditionellen Zulassungsstudien nicht konzipiert waren zur Bestimmung
des Zusatznutzens, ist es nicht verwunderlich, dass die Daten aus diesen Studien keinen
Zusatznutzen zeigten und infolgedessen nicht mehr in Deutschland verfügbar waren.
Dies ist bedauerlich, da einige der neuen AEDs aufgrund ihrer Wirkmechanismen als
pharmakologische Innovationen anzusehen sind und sich im klinischen Alltag möglicherweise
als nützlich erweisen könnten [70]. Was wir dringend in Deutschland benötigen, ist eine pragmatische politische Lösung,
bis Studien zur adäquaten Bewertung eines Zusatznutzens etabliert sind und auch einen
sinnvollen Studienabschluss gezeigt haben. Dabei sollte der nachgewiesene individuelle
Zusatznutzen für Patienten, die insbesondere auf neue AED ansprechen, stärker Berücksichtigung
finden. Dazu müssen gemeinsam von Fachvertretern und Politik Kriterien erarbeitet
werden.
Gegen diese Sichtweise kann man allerdings anführen: 1. Deutschland ist eines der
letzten Länder, das eine frühe Nutzenbewertung eingeführt hat. Auch in anderen Ländern
sind für den Nachweis eines Zusatznutzens vorrangig direkt vergleichende Studien gefragt.
Die Forderung kommt also nicht völlig überraschend. Dass teilweise placebokontrollierte
Studien in anderen Ländern akzeptiert werden, hat auch damit zu tun, dass es dann
um die Frage der Erstattung geht (ja oder nein). Die Erstattung wird in Deutschland
aber nicht infrage gestellt.
2. Wir befinden uns heute im Jahr 2015. Neue Konzepte hätten inzwischen erarbeitet
werden müssen. Die Schuldfrage für dieses Versäumnis ist allerdings nicht ausschließlich
aufseiten der pharmazeutischen Industrie zu suchen. Sowohl die wissenschaftliche klinische
Forschung als auch die Geldgeber zur Finanzierung geeigneter Zusatznutzenstudien haben
nicht „geliefert“.
3. Ob der Hersteller, wie oft gefordert, in der Verantwortung ist, ist strittig. Die
traditionelle Aufgabe des Herstellers ist es, ein Medikament zur Zulassung zu bringen.
Dies ist sehr kostenintensiv. Er erwartet einen entsprechenden Preis, der sich nur
bei einem Zusatznutzen realisieren lässt. Diesen wiederum soll er nachweisen. Dies
lässt einen interessensbedingten Bias entstehen (der aber nicht erkennbar höher ist
als bei der traditionellen Zulassung). Zudem wird in der Zukunft die Abgrenzung eines
neuen Antiepileptikums von der vorhandenen Therapie (also des Zusatznutzens) immer
wichtiger im Eigeninteresse des Herstellers [30]. Fordert man, dass der Nachweis des Zusatznutzens eine Aufgabe der forschenden klinischen
Medizin sein müsse, entsteht ein neues Problem. Dieser fehlt das Geld für vernünftige
Studien. Damit wird deutlich, dass das Problem nach wie vor offen ist.
Die Frage nach befriedigenden Lösungen für „neue“ Medikamente ist schwer zu beantworten.
Industrie, Patienten, Ärzte sowie Kostenträger sind an neuen Medikamenten mit einem
gesicherten Zusatznutzen sehr interessiert, da etwa jeder 5. neu erkrankte Patient
mit derzeitigen Medikamenten nicht anfallsfrei wird [32]. Die „neue“ Substanz solle dann im Vergleich dazu einen Mehrwert nachweisen. Der
einfache Nachweis eines neuen Wirkmechanismus, der Hinweis auf mögliche pharmakokinetische
Vorteile oder gar allein die Tatsache, eine neue Substanz zu haben, genügt als Nachweis
nicht.
Bevor nun auf Studienmöglichkeiten eingegangen wird, wie der Zusatznutzen nachzuweisen
ist, muss die Situation eines neuen Medikaments prinzipiell dargestellt werden. Aufgabe
der Industrie ist es, neue und bessere Medikamente zu entwickeln und durch eine Zulassung
auch dem Patienten zugängig zu machen. Bei den hohen Investitionssummen ist das Interesse
legitim, die Substanz auch anschließend zu vermarkten. Ein „Mehrwertnachweis“, wie
er in Deutschland jetzt neben der Zulassung zusätzlich gefordert wird, durch den Hersteller
selbst unterliegt einem Bias durch seine eindeutige finanzielle Interessenslage. Neue
Studien mit beträchtlichem Zeit- und Kostenaufwand sind im Interesse des Patienten,
der unter Umständen auf neue, bessere Medikamente angewiesen ist. Im Interesse des
Solidarsystems der Gesellschaft sind die Gesundheitskosten auf das „Notwendige und
Sinnvolle“ zu beschränken (SGB V Abs. 1, § 12: Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen
das Maß des Notwendigen nicht überschreiten, AMNOG). Die Aufgabe, einen Zusatznutzen anhand der Unterlagen des Herstellers nachzuweisen,
hat das IQWIG, das für den GBA den „Mehrwert“ auf der Basis einer vorgelegten Datenlage
zu prüfen hat. Vorschläge von Studiendesigns zur Erfassung des Zusatznutzens mit direktem
Vergleich eines neuen AED mit einem Standard-AED sind oben gemacht worden. Es kommt
beispielsweise folgendes Studiendesign in Betracht: Nach dem Versagen des zweiten
Antiepileptikums erfolgt eine Randomisierung auf eine vorher festgelegte weitere Therapie,
auf der Basis der Leitlinien entschieden („best medical practice“ BMT) und auf die
zu bewertende Substanz, deren Zusatznutzen geprüft werden soll. Mögliche primäre Endpunkte
sind Lebensqualität, Anfallsreduktion, unerwünschte Nebenwirkungen sowie der Prozentsatz
der Patienten, die in der Studie verbleiben.
Der Komparator „best medical treatment“ stellt allerdings im Hinblick auf die Größe
der zu erwartender Unterschiede und die sich daraus ergebende Problematik der großen
Fallzahlen sowie auf Studiendauer und auch auf die Schwierigkeit, ein individuelles
Ansprechen in epileptologischen Gruppenvergleichen herauszuarbeiten eine Herausforderung
dar, zumal derzeit eine Ex-ante-Stratifizierung hinsichtlich der verschiedenen Phänotypen
nicht möglich bzw. nicht praktikabel zu sein scheint. Allerdings könnte man einwenden,
dass für die Zielpopulation in den Zulassungsstudien der neuen Antiepileptika Wirksamkeit
nachgewiesen wurde. Wenn das so ist, dann muss sich das auch in einem BMT-Design niederschlagen.
Anderenfalls müsste man davon ausgehen, dass ein Großteil der Patienten (die Nonresponder)
einen erheblichen Schaden aufgrund erheblich geringeren Ansprechens gegenüber BMT
durch den Einsatz des neuen Arzneimittels hätten. So etwas müsste selbstverständlich
bei der Gesamtbewertung des neuen Arzneimittels berücksichtigt werden. Ein weiterer
Aspekt ist die Schwierigkeit bei der Durchführung von Studien, dass wichtige Medikamente
bereits frustran vom Patienten eingenommen wurden, sodass Studien in dieser Population
nicht so einfach umzusetzen sind.
Eine Studie zur Lebensqualität als primärem Parameter wurde beispielsweise für den
Vagus-Nerv-Stimulator (VNS) durchgeführt [40]. Die Studie dauerte lange und hatte große Rekrutierungsprobleme. Die Ergebnisse
zeigen einen messbaren Unterschied der Lebensqualität zugunsten der Vagus-Nerv-Stimulation.
Die Schwierigkeiten der Studie lagen im Wesentlichen auch an den Einschlusskriterien
und der grundsätzlichen Alternative (Medikament – Stimulator), die bei obigem Vorschlag
nicht vorhanden sind. Weiterhin ist kritisch im Hinblick auf die statistische Auswertung
anzumerken, dass in der Studie von Rvylin et al. [40] nicht BMT mit VNS verglichen wurde, sondern BMT mit VNS + BMT und die BMT während
der Studie (nach klinischen Gesichtspunkten) in jedem Arm beliebig zum Zweck der individuell
optimalen Therapie angepasst werden konnte.
Ein Antiepileptikum ohne nachgewiesenen Zusatznutzen ist für alle Beteiligten unbefriedigend.
Für die pharmazeutische Industrie ist es finanziell uninteressant, da Medikamente
ohne Zusatznutzen wirtschaftlich weniger ertragreich sind. Für Patienten und Behandler
sind neue AED ohne Zusatznutzen weniger interessant. Für den Zugang zu besseren neuen
Medikamenten benötigen wir Studienzentren für hochwertige klinische Studien, die beispielsweise
in den Universitäten oder anderen Forschungseinrichtungen aufgebaut werden. Die damit
verbundene erhebliche Kostenproblematik zu lösen ist Aufgabe eines Bundesgesundheitsministers
und der Landesregierungen.