Gesundheitswesen 2015; 77(10): 791-792
DOI: 10.1055/s-0035-1564145
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nonverbale Intelligenzdiagnostik: sprachfreie Erhebung kognitiver Fähigkeiten und Prävention von Entwicklungsrisiken

M. Daseking
,
F. Petermann
Further Information

Korrespondenzadresse

PD Dr. Monika Daseking
Prof. Dr. Franz Petermann
Zentrum für Klinische
Psychologie und Rehabilitation
Universität Bremen
Grazer Straße 2 und 6
28359 Bremen

Publication History

Publication Date:
29 October 2015 (online)

 

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Monika Daseking
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Franz Petermann

Seit vielen Jahrzehnten werden standardisierte Tests eingesetzt, um die kognitiven Fähigkeiten zu erfassen. Vor besondere Probleme werden Testleiter dabei gestellt, wenn Testpersonen die Instruktionssprache des Tests nicht verstehen oder sprechen können wie bspw. taube oder schwerhörige Menschen oder Personen, die die Landessprache nicht ausreichend beherrschen.


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Tests mit hohen Sprachanforderungen führen für diesen Personenkreis zu Ergebnissen mit einer eingeschränkten Aussagekraft. In ähnlicher Weise gilt dies für Testpersonen, die einen niedrigen sozioökonomischen oder Bildungshintergrund aufweisen oder aus einer anderen Kultur stammen. Aus diesen Gründen wurden Intelligenztests entwickelt, die nur sehr geringe Anforderungen an sprachliche Fähigkeiten oder kulturelles Wissen wie bspw. den Umgang mit Zahlen oder Lesen und Schreiben stellen. Dazu gehören neben den Grundintelligenztests der CFT-Reihe (Culture Fair Intelligence Tests in der Tradition von Cattell [1]) oder den Raven-Matrizen (u. a. [2]) auch der Snijders-Oomen Non-verbaler Intelligenztest 2½ – 7 (SON-R 2½ – 7) [3] oder der Non-verbale Intelligenztests von 6 bis 40 Jahren (SON-R 6–40) [4]. Allen genannten Tests ist gemeinsam, dass sie mehr oder weniger sprachfrei durchgeführt werden können [5].

Neben diesen Verfahren wurde auch in der Tradition der Wechsler-Skalen ein Test entwickelt, der vollkommen sprachfrei durchführbar ist, die Wechsler Nonverbal Scale of Ability, die 2014 auch mit einer deutschen Normierung für den Altersbereich von 4;0 bis 21;11 Jahren veröffentlicht wurde [6]. Testanweisungen werden über Bildsequenzen dargestellt, aus denen hervorgeht, was genau Testleiter und Testperson bei der Aufgabenbearbeitung zu tun haben. Darüber hinaus ist es möglich, die sprachlichen Instruktionen, die aus sehr einfachen Sätzen bestehen, auch in verschiedenen Fremdsprachen anzubieten; unter anderem finden sich im Manual Instruktionen in Türkisch und Russisch. Die WNV wurde für den Einsatz bei Testpersonen unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Herkunft entwickelt. Gleichzeitig kann der Test aber auch für alle anderen Fragestellungen verwendet werden, wenn es um die allgemeine Einschätzung kognitiver Fähigkeiten geht. So ist die WNV auch für Testpersonen mit fast allen Arten der Farbblindheit oder mit motorischen Handicaps geeignet und kann auch bei Fragestellungen wie Hoch- oder Minderbegabung eingesetzt werden.

Innerhalb der WNV werden Aufgaben durchgeführt, die verschiedene kognitive Anforderungen stellen. Dazu gehören logisches Schlussfolgern, visuelle Gedächtnisleistungen, Verarbeitungsgeschwindigkeit oder visuell-analytische und räumlich-konstruktive Leistungen (vgl. dazu auch [Tab. 1]). Die Aufgaben wurden altersangemessen entwickelt; es liegen 2 Versionen vor, mit denen zwar die gleichen kognitiven Bereiche abgedeckt werden, die aber in 2 Untertests an den Entwicklungsstand der Testpersonen angepasste Aufgaben beinhalten.

Tab. 1 WNV-Untertests (UT): Erfasste kognitive Fähigkeiten und Zuordnung zu den Gesamtwerten nach Altersgruppe.

4;0–7;11 Jahre

8;0–21;11 Jahre

Untertest (Abk.)

Beschreibung

IQ (4)

IQ (2)

IQ (4)

IQ (2)

Matrizen-Test (MZ)

schlussfolgerndes Denken

Zahlen-Symbol-Test (ZST)

grafomotorische Geschwindigkeit

Figuren legen (FL)

Wahrnehmungsorganisation
Teil-Ganzes-Beziehung

Formen wieder-erkennen (FW)

unmittelbarer Abruf für visuell-räumliche Muster

Visuell-räumliche Merkspanne (VRM)

Arbeitsgedächtnis für visuell-räumliche Reize

Bilder ordnen (BO)

Wahrnehmungsorganisation

Anmerkungen: IQ (4)=Gesamtwert aus 4 Untertests, IQ (2)=Gesamtwert aus 2 Untertests

Die Testaufgaben der WNV sind frei von sprachlichem oder numerischem Inhalt. Allerdings bedeutet das nicht, dass die Testperson zur Lösung der Aufgaben keine Sprache verwendet. Oft werden Lösungswege über aufgabenbegleitendes Sprechen geplant und strukturiert. Außerdem zeigt sich, dass mit nonverbalen Tests zwar der Anteil an gesprochener Sprache reduziert werden kann, aber dennoch irgendeine Form der Kommunikation erforderlich ist, um Testinhalt, Aufgabenanforderung oder Rückmeldungen vermitteln zu können [7].

Was genau kann die WNV nun im Kontext der Sozialmedizin leisten? Im Rahmen einer sozialmedizinischen Begutachtung steht man vor der Frage, welcher Intelligenztest einzusetzen ist, wenn die Testperson einen anderen muttersprachlichen und kulturellen Hintergrund als Deutsch aufweist. Dabei ist in erster Linie die Fragestellung zu berücksichtigen, die dem Einsatz eines Intelligenztests zugrunde liegt (vgl. hierzu [8]). Gerade im Bereich von schulbezogenen Fragestellungen erweist sich die WNV für Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache als hilfreiches Instrument. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass für eine umfassende Beurteilung der Voraussetzungen eines Kindes oder Jugendlichen Informationen über den Stand der sprachlichen Fähigkeiten in der Landessprache einbezogen werden sollten. So können sich in der Folge einer mangelnden Sprachbeherrschung schulische Defizite und vor allem auch Verhaltensprobleme entwickeln. Dies zeigen Rißling und Kollegen, die sich mit Verhaltensauffälligkeiten sprachentwicklungsbeeinträchtigter Kinder beschäftigt haben [9]. Dabei ist gleichzeitig zu berücksichtigen, dass auch zwischen der nonverbal erhobenen Intelligenzleistung und sprachlichen Kompetenzen – wenn auch nur geringe – Zusammenhänge bestehen (vgl. dazu [10]). Melzer und Kollegen [10] kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass der muttersprachliche Hintergrund der Kinder und die Kontaktzeit zur deutschen Sprache eine deutlich größere Rolle bei der Entwicklung lexikalisch-grammatikalischer Kompetenzen im Kindergartenalter spielen als die kognitiven Fähigkeiten.

Bereits für das Vorschulalter zeigt sich zudem, dass einige grundlegende Funktionen wie das Arbeitsgedächtnis dazu beitragen können, kognitive Fähigkeiten vorherzusagen [11]. Geringe Kompetenzen im Bereich der exekutiven Funktionen, zu denen die Fähigkeiten gehören, sich flexibel an neue Situationen und Aufgaben anzupassen und Handlungen selbstständig zu regulieren, werden häufig mit Verhaltensproblemen wie der ADHS in Verbindung gebracht [12]. Damit lässt sich dann auch erklären, warum Kinder mit der Diagnose einer ADHS häufig schwächere Ergebnisse in einem Intelligenztest erzielen. Da sich die Zusammenhänge zwischen exekutiven Funktionen und kognitiven Fähigkeiten bereits so früh darstellen lassen, sollte in der schulärztlichen Einschulungsuntersuchung neben der Feststellung von Verhaltensproblemen allgemein auch die Erfassung von Defiziten in exekutiven Funktionen einen festen Platz erhalten [13], um gegebenenfalls vorschulisch Fördermaßnahmen einleiten oder Eltern beraten zu können.

Entscheidet man sich nun auf der Basis vorliegender Informationen für den Einsatz eines nonverbalen Intelligenztests wie die WNV, sollte auf jeden Fall berücksichtigt werden, dass die Aufgaben hohe Anforderungen an die visuelle Wahrnehmung von Testpersonen stellen. Bilder müssen visuell analysiert, Puzzleteile zu einem Ganzen zusammengesetzt oder Linien in geometrische Formen eingezeichnet werden. Diese Leistungen setzen voraus, dass die Testperson über eine normale Sehfähigkeit und Verarbeitung von visuellen Reizen verfügt. In aktuellen Intelligenztheorien stellt die visuelle Wahrnehmung zudem einen eigenen Intelligenzfaktor dar [14]. Dieser Faktor soll die Fähigkeiten beinhalten, strukturierte visuelle Bilder zu erzeugen, zu speichern, abzurufen und zu transformieren (z. B. mentales Rotieren von Formen im Raum). Diese Fähigkeiten werden durch Aufgaben erhoben, zu deren Lösung die Wahrnehmung und Transformation von visuellen Gestalten, Formen und Bildern notwendig ist und durch Aufgaben, bei denen die räumliche Orientierung konstant gehalten werden muss, während die Objekte sich verändern oder bewegen [14]. Demnach ist davon auszugehen, dass bildliche Intelligenztestaufgaben auch immer einen bestimmten Anteil visueller Wahrnehmungsfähigkeiten erfassen. Werpup-Stüwe und Kollegen [15] gehen daher der Frage nach, inwieweit sich die visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten einer Testperson auf ihre Leistungen in einem nonverbalen Intelligenztest auswirken können.

Abschließend zeigen Weber et al. [16] anhand einer Gruppe von Kindern, die in Jugendhilfeeinrichtungen betreut werden, dass neben den kognitiven Fähigkeiten weitere wichtige Komponenten dazu beitragen, dass schulisches Lernen erfolgreich gelingt. Die Studie bezieht das Lernverhalten in die Analysen ein und zeigt, dass Schulnoten im Fach Deutsch darüber erklärbar werden, während für die Noten in Mathematik ausschließlich die kognitiven Fähigkeiten ausschlaggebend sind.

Die hier vorgestellten Studien zeigen Möglichkeiten und Grenzen im Einsatz nonverbaler Intelligenztests auf. Sie liefern Beispiele für den Einsatz dieser Tests bei sozialmedizinischen Fragestellungen, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass es in jedem Fall notwendig ist, über die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten hinaus weitere Informationen – wie Aussagen zu den sprachlichen Fähigkeiten, zu exekutiven oder visuellen Funktionen oder zu motivationalen Aspekten – zu erheben, um ein vollständiges Bild über die Stärken und Schwächen einer Testperson zu erhalten. Erst auf dieser Basis ist eine angemessene Entscheidung für das weitere Vorgehen möglich.


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  • Literatur

  • 1 Cattell RB, Cattell AKS. Culture fair intelligence test. Champaign, IL: Institute for Personality and Ability Testing; 1963
  • 2 Raven J. Coloured Progressive Matrices (CPM). Dt. Bearbeitung von Bulheller S, Häcker HO. Frankfurt: Pearson Assessment; 2002
  • 3 Tellegen PJ, Laros JA, Petermann F. Non-verbaler Intelligenztest (SON-R 2½-7). Göttingen: Hogrefe; 2007
  • 4 Tellegen PJ, Laros JA, Petermann F. Non-verbaler Intelligenztest (SON-R 6-40). Göttingen: Hogrefe; 2012
  • 5 Janke N, Petermann F. Zur klinischen Aussagekraft des SON-R 2½-7. Kindh Entwickl 2006; 15: 83-92
  • 6 Petermann F (Hrsg.) Wechsler Nonverbal Scale of Ability (WNV). Dt. Bearbeitung Frankfurt/M.: Pearson Assessment; 2014
  • 7 Ortiz SO, Ochoa SH, Dynda AM. Testing with culturally and linguistically diverse populations: Moving beyond the verbal-performance dichotomy into evidence-based practice. In: Flanagan DP, Harrison PL. Hrsg Contemporary intellectual assessment. 3rd ed. New York: Guilford; 2012: 526-552
  • 8 Daseking M, Werpup-Stüwe L, Wienert LM et al. Sprachfreie Intelligenzdiagnostik bei Kindern mit Migrationshintergrund. Kindh Entwickl 2015; 24: 243-251
  • 9 Rißling JK, Melzer J, Menke B et al. Sprachkompetenz und Verhaltensauffälligkeiten im Vorschulalter. Gesundheitswesen 2015; 77: 805-813
  • 10 Melzer J, Rißling J-K, Petermann F et al. Sprache und nonverbale Intelligenzleistung. Gesundheitswesen 2015; 77: 793-798
  • 11 Daseking M, Melzer J, Rißling J-K et al. Zusammenhang zwischen Intelligenz und exekutiven Funktionen. Gesundheitswesen 2015; 77: 814-819
  • 12 Millenet S, Hohmann S, Poustka L et al. Risikofaktoren und frühe Vorläufersymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Kindh Entwickl 2013; 22: 201-208
  • 13 Schuchardt K, Grube D, Mähler C. „Schwierige Kinder“ von Anfang an?. Kindh Entwickl 2013; 22: 217-223
  • 14 McGrew KS. The Cattell-Horn-Carroll Theory of Cognitive Abilities: Past, present, and future. In: Flanagan DP, Harrison PL. Hrsg Contemporary intellectual assessment. 2nd (ed.). New York: Guilford; 2005: 136-182
  • 15 Werpup-Stüwe L, Petermann F, Daseking M. Der Einfluss von visuellen Wahrnehmungsleistungen auf die Ergebnisse in der Wechsler Nonverbal Scale of Ability (WNV). Gesundheitswesen 2015; 77: 799-804
  • 16 Weber HM, Rücker S, Büttner P et al. Zum Zusammenhang von allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und schulischer Leistung: Welche Rolle spielt das Lernverhalten?. Gesundheitswesen 2015; 77: 820-826

Korrespondenzadresse

PD Dr. Monika Daseking
Prof. Dr. Franz Petermann
Zentrum für Klinische
Psychologie und Rehabilitation
Universität Bremen
Grazer Straße 2 und 6
28359 Bremen

  • Literatur

  • 1 Cattell RB, Cattell AKS. Culture fair intelligence test. Champaign, IL: Institute for Personality and Ability Testing; 1963
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  • 13 Schuchardt K, Grube D, Mähler C. „Schwierige Kinder“ von Anfang an?. Kindh Entwickl 2013; 22: 217-223
  • 14 McGrew KS. The Cattell-Horn-Carroll Theory of Cognitive Abilities: Past, present, and future. In: Flanagan DP, Harrison PL. Hrsg Contemporary intellectual assessment. 2nd (ed.). New York: Guilford; 2005: 136-182
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  • 16 Weber HM, Rücker S, Büttner P et al. Zum Zusammenhang von allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und schulischer Leistung: Welche Rolle spielt das Lernverhalten?. Gesundheitswesen 2015; 77: 820-826

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