Zeitschrift für Komplementärmedizin 2015; 06(05): 26-31
DOI: 10.1055/s-0035-1566746
zkm | Praxis
Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Ein Fall von Hypersensitivität und kein Fall von Hypersensitivität

Chronische Schmerzerkrankungen werfen in der Praxis oft mehr Fragen auf als Lösungen gefunden werden Zwei Fälle zeigen, wie unterschiedlich die Krankheitsverläufe und Therapieergebnisse aussehen können
Dominik Irnich
Further Information
PD Dr. med. Dominik Irnich
Interdis ziplinäre Schmerzambulanz
Klinikum der Universität München Innenstadt
Pettenkoferstraße 8A
80366 München

Publication History

Publication Date:
13 November 2015 (online)

 

Zusammenfassung

Chronische Schmerzerkrankungen sind eine große Herausforderung in der Praxis. Hypersensitivität kann, muss aber kein Begleiter chronischer Schmerzen sein. Bewährt hat sich ein multimodales, interdisziplinäres Vorgehen in der Therapie. Trotzdem bleiben die Behandlungsergebnisse oft unbefriedigend. Zwei typische Kasuistiken aus der Praxis zeigen die Vielschichtigkeit möglicher Ursachen und Diagnosen, aber auch, wie einerseits einfache Mittel nahezu zur Schmerzfreiheit führen können und andererseits verschiedenste Therapien zu nur mäßigen Erfolgen.


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In diesem Beitrag werden 2 Patienten vorgestellt. Eine Frau im mittleren Alter mit multilokulären Schmerzen, die nahezu therapieresistent erscheinen und ein älterer multimorbider Mann mit Z. n. 5 Rückenoperationen, der unter stärksten Schmerzen litt und mit einfachen Mitteln schmerzfrei geworden ist.

Was unterscheidet diese beiden?

Frau A.Z., 54 Jahre

Diagnosen

Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41).

Somatische Faktoren:

  • Myofasziales Schmerzsyndrom Schultergürtel/Nacken und Beckengürtel/gluteal (M79.19)

  • – bei Fehlhaltung und Fehlbelastung

  • Ansatztendinopathie Tuber ischiadicum bds.

  • Epicondylitis humeri lateralis rechts – bei Überlastung

Psychische und psychosoziale Faktoren:

  • Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion (F43.2)

  • Berufliches Durchhalten und Selbstüberfordern

Weitere Diagnosen:

  • Z. n. Ösophagitis

  • Z. n. Hallux-valgus-OP 10/2010

  • Endometriose (aus Vorbefund)

Chronifizierungsgrad II nach Gerbershagen

(Stadium I entspricht einer geringen, III einer ausgeprägten Chronifizierung)

Schmerzempfindungsskala: sensorisch 20 Punkte vs. affektiv 31 Punkte (14–56)

Allgemeine Depressionsskala: 26 Punkte (0–60, kritischer Wert > 23)


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Anamnese

Frau A.Z. berichtet bei Erstvorstellung von Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich sowie im Ellenbogengelenk rechts und im Gesäß beidseits. Die Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich bestehen seit 2000. 2007 kam es zu einer deutlichen Schmerzverschlechterung. Frau A.Z. beschreibt die Beschwerden als dumpf-bohrenden Dauerschmerz mit einer Intensität von 4–8/10 (VAS). Gelegentlich kommt es zu einer Ausstrahlung in die linke Hand.

Morgens sind die Schmerzen leichter, gegen Abend nehmen die Beschwerden deutlich zu. Unter anstrengender Belastung (Tragen, Radfahren, Geräteübungen) kommt es zu einer deutlichen Schmerzverstärkung. Ablenkung, leichte Bewegung und Liegen bringen eine Schmerzlinderung. Die Beschwerden im rechten Ellenbogen bestehen seit 2010. Vor allem Drehbewegungen des Unterarms verstärken den Schmerz. Außerdem wird Greifen mit der Hand als schmerzhaft empfunden. Frau A.Z. beschreibt diesen Schmerz ebenfalls als dumpf-bohrend mit einer Intensität von 4–7/10 (VAS).

Es wurde die Diagnose eines Tennisellenbogens gestellt, der operativ versorgt werden soll. Die Schmerzen im Gesäß werden von der Patientin als dumpf-bohrende Dauerschmerzen mit einer Intensität von 5/10 (VAS) beschrieben. Links kommt es zu einer Ausstrahlung in den dorsalen Anteil des Oberschenkels. Die Schmerzen verstärken sich bei Geräteübungen, schnellem Gehen und Sitzen auf harten Unterlagen. Ablenkung und warmes Vollbad schaffen Linderung.

Es bestehen vegetative Begleitsymptome wie schmerzbedingte Ein- und Durchschlafstörungen, Globusgefühl, Magendrücken, Schwellungsgefühl im Bereich der Hände und Füße.

Die bisherige Therapie umfasste u. a. mehrfache Injektionsbehandlungen, physikalisch medizinische Behandlungen sowie zwei Klinikaufenthalte mit Schmerztherapie/Psychosomatik. Es kam jeweils nur zu kurzfristigen Besserungen.

Frau A.Z. erhofft sich von einer Behandlung eine Linderung der Schmerzen sowie eine Steigerung der Lebensqualität.


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Körperliche Untersuchung

54-jährige Patientin in gutem AZ und EZ, Größe 165 cm, Gewicht 58 kg, BMI 21,5 kg/m2.

Ausgeprägte Fehlhaltung, Kopfprotraktion mit Steilstellung der HWS, betonter zervikothorakaler Übergang, interskapulärer Flachrücken, Steilstellung der LWS, muskulärer Hartspann lumbal paravertebral, große Gelenke frei beweglich.

HWS: Rotation nach rechts frei, nach links minimal eingeschränkt im Seitenvergleich, Kinn-Sternum-Abstand: Flexion 0 cm, Extension 21 cm. Muskulärer Hartspann und Druckschmerz M. trapezius bds. und periscapulär. DS okzipital, paravertebral cervical, M. trapezius bds, periscapulär.

LWS: Rotation und Lateralflexion bds. frei, FBA vorn 0 cm, seitlich rechts 46 cm, links 49 cm. Bei Ventralfexion endgradiges Ziehen bds. über Tuber ischiadicum, Druckschmerz über Tuber ischiadicum bds. und gluteal bds.

Reflexe der oberen und unteren Extremitäten seitengleich auslösbar, unauffällige epikritische Sensibilität der Extremitäten, unauffälliges Vibrationsempfinden der Extremitäten, grobe Kraft seitengleich 5/5, unauffälliger Zehen-, Fersengang. Lasègue bds. neg.

Ergänzende physiotherapeutische Untersuchung: Die isometrische Muskelkraft war in allen untersuchten Regionen vermindert, mit Ausnahme der Ellenbogenextension rechts. Die Gehstrecke beim 6-Minuten-Gehtest lag oberhalb des Minimalwertes.


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Psychologisches Erstgespräch

Die 54-jährige Patientin berichtet, dass sie unter Schmerzen in den Bereichen Hals, Nacken, Arm, Schultergürtel und oberer Rücken leide.

Sie fühle sich traurig, zeige dies aber nicht. Sie habe sich sozial ein wenig zurückgezogen und müsse sich zu Aktivitäten zwingen. Ihr Schlaf sei mit Medikation zufriedenstellend. Sie distanziert sich glaubhaft von Suizidalität. Es wurde die Diagnose „Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion“ gestellt. Sie habe 1998 eine Psychotherapie gemacht. 2006 sei sie wegen des Todes ihrer Schwester von einem Psychiater betreut worden.


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Biographie

Sie sei als Tochter deutscher Eltern in Argentinien geboren und aufgewachsen. Ihr Vater, der als Kind mit seinen Eltern aus Schlesien nach Argentinien ausgewandert ist, sei in Argentinien unter anderem als Großbauer tätig gewesen. Er habe unter Existenzängsten gelitten, sei perfektionistisch und jähzornig gewesen. Darunter habe die Familie gelitten. Er sei 1990 an Lungenkrebs verstorben. Die Mutter sei als junge Erwachsene nach Argentinien ausgewandert. Sie sei sehr unglücklich gewesen. Die Patientin habe versucht, die Mutter zu unterstützen, indem sie den Haushalt, den Bruder und die beiden Schwestern versorgt habe. Sie sei eine brave Tochter gewesen.

2006 sei eine ihrer Schwestern von ihrem Mann in einem erweiterten Suizid erschossen worden. Sie vermisse ihre Schwester, könne ihren Tod aber als Teil der sehr emotionalen Lebensgeschichte der Schwester annehmen. Die zwei erwachsenen Kinder dieser Schwester würden in Deutschland leben, Familienfeste bei der Patientin feiern und sie unterstützen. Sie sei nun der Familienmittelpunkt für alle geworden. Sie habe ein Haus in Argentinien gebaut und wolle später dort die Winter verbringen.

Sie habe in Argentinien als Sekretärin bei einer großen deutschen Firma angefangen und sei mit 21 Jahren als Angestellte der Firma nach Deutschland gegangen. Interne Umstrukturierungen seien später nicht gut für sie gewesen, sodass sie sich ein Sabbatical genommen und 2002 eine Abfindung angenommen habe. Sie habe sich selbständig machen wollen, dieses Projekt aber nach dem Ende ihrer Partnerschaft aufgegeben. Seit 2005 sei sie mit voller Stelle bei einer anderen Firma als Chefsekretärin tätig. Sie habe einige nette Kollegen und gehe gerne zur Arbeit. Allerdings habe sie ein großes Arbeitspensum, sei Perfektionistin und mache regelmäßig Überstunden. Es fehlen ihr Respekt und Anerkennung von ihrem Vorgesetzten.

Sie habe sich sozial ein wenig zurückgezogen, habe aber einige gute Freunde. Wegen der Schmerzen mache sie weniger Sport und erlebe so weniger Freude.

Frau A.Z. berichtet, dass sie sich derzeit so sehr mit ihrer Gesundheit beschäftige, dass sie sich keine Partnerschaft vorstellen könne. Ihre letzte Partnerschaft mit einem deutlich jüngeren Mann sei 2005 zerbrochen, ihr Partner habe die Beziehung nach 6 Jahren beendet. Es sei eine große Liebe und ein großer Verlust gewesen. Mit ihm habe sie versucht, Kinder zu bekommen und einen Abgang nach künstlicher Befruchtung gehabt. Sie sei durch die Hormonbehandlung explosiv geworden und damit habe er nicht umgehen können. Etwa 2010 habe sie einen verheirateten Mann kennengelernt, der sie diesbezüglich belogen habe. Sie habe deswegen die Beziehung mit ihm beendet. Mit ihm habe Sex vaginal geschmerzt. Sie könne sich nun wegen der Schmerzen keine Sexualität mehr vorstellen.


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Befunde und Medikation Relevante, vorgelegte Befunde

MRT der HWS vom 03.03.2000

Röntgen der HWS in 4 Ebenen vom 26.06.2000

Arztbericht Krankenhausaufenthalt 05/2011

Arztbericht Krankenhausaufenthalt 07/2012

MRT Becken 24.05.2012


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Aktuelle Medikation

Trimipramin 18gtt 0–0-0–1


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Zusammenfassende Beurteilung nach interdisziplinärer Teambesprechung

Nach Durchsicht der erhobenen und vorgelegten Befunde und nach interdisziplinärer Teambesprechung wird bei Frau A.Z. ein chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren diagnostiziert.

An somatischen Faktoren findet sich ein myofasziales Schmerzsyndrom im Schultergürtel/Nacken sowie Beckengürtel und gluteal. Begünstigende Faktoren für die Entstehung von Triggerpunkten sind statische Belastungen mit verkrampfter Körperhaltung bei der Arbeit und eine funktionelle Steilstellung der gesamten Wirbelsäule. Die belastungsabhängigen Beschwerden gluteal bds. und am rechten Ellenbogen gehen einher mit einer Reizung der Muskelansätze im Rahmen der funktionellen Überbelastung. Beides erklärt jedoch nicht das Ausmaß und die Dauer der Beschwerden, andererseits wurde aus unserer Sicht bisher nicht spezifisch behandelt.

Zusätzlich nehmen das perfektionistisch angespannte Arbeitsverhalten und die depressive Stimmung Einfluss auf die innere Anspannung und somit Einfluss auf die Muskelspannung und die Schmerzwahrnehmung.

Die Patientin beschreibt sich als fleißige Perfektionistin. Sie arbeite unter Zeit- und Leistungsdruck, mache nur wenige Pausen, aber regelmäßig Überstunden. Dieses berufliche Durchhalten und das Selbstüberfordern wirken sich vermutlich schmerzverstärkend aus. Sie fühle sich so durch die Schmerzen belastet, dass sie sich zum Teil zurückgezogen habe und zu Aktivitäten zwingen müsse. Es erscheint plausibel, dass die traurige Stimmung und der Rückzug zu einer gesteigerten Schmerzbeeinträchtigung führen. Die Patientin macht deutlich, dass sie sich vor einer Genesung keine Partnerschaft vorstellen könne. Durch die schmerzgekoppelte Vermeidung eines als schwierig erlebten Themas kann es (durch Prozesse der negativen Verstärkung) zur Schmerzaufrechterhaltung kommen.


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Therapieempfehlung

Aufgrund der Komplexität der Beschwerden, der bisherigen Therapieresistenz und der hohen Chronifizierung wurde die Teilnahme an einem multidisziplinären Schmerzintensivprogramm mit Schwerpunktbehandlung des Rückens empfohlen (s. zkm 2/2015).

Die Indikation und das Procedere wurden mit der Patientin ausführlich besprochen.

Bis zum Programm wurden weiterhin empfohlen:

  1. Fortsetzung der Medikation mit Trimipramin Tropfen zur Nacht

  2. Einzeltherapie Manuelle Therapie und Massage in der Physikalischen Medizin mit dem Schwerpunkt, Detonisierung, Dehnung und Anleitungen zu Eigenübungen.

  3. Leichtes Ausdauertraining, z. B. Bewegungsübungen im warmen Wasser, Aquajogging an individuelle Leistungsgrenze adaptiert.

  4. Ambulante Psychotherapie wiederaufnehmen.


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Verlauf

Die bei dieser Diagnose indizierte multimodale Therapie bringt zunächst eine deutliche Besserung mit einem vollständigen Verschwinden der Ruheschmerzen und einem um mehr als 50 %igen Rückgang der Bewegungsschmerzen.

Die Patientin konnte ihre Probleme im beruflichen und privaten Bereich erkennen und formulieren.

Sie hat sich vorgenommen, ihre Belastungsgrenzen besser wahrzunehmen und sich im Berufsleben besser abzugrenzen. Ein umfassendes bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis konnte aber nicht erreicht werden. Eine ambulante Psychotherapie wurde zögerlich in Aussicht gestellt.

Aber schon 2 Monate nach Abschluss des Programms wurde die Patientin wieder vorstellig.

Es kam zu einer deutlichen Schmerzzunahme. Sie berichtete von Heulkrämpfen, Kraftlosigkeit und Erschöpfung. Sie wirkt psychomotorisch angespannt und unruhig. Sie berichtet, dass eine Therapie mit Sertalin angesetzt worden sei, ohne dass sich stabilisierende Effekte einstellten. Neu aufgetretene Hüftschmerzen wurden von einem Kollegen als „Bursitis trochanterica“ diagnostiziert und mit Cortisoninfiltration behandelt ohne wesentlichen Effekt.

Angesichts dieser deutlich verschlechterten Situation erging jetzt die Empfehlung einer Therapie in einer akut stationären psychosomatischen Klinik. Die Krankenkasse hatte eine Rehabilitationsklinik empfohlen und initiiert. Die Patientin konnte nach entsprechendem Druck in einer akuten Psychosomatik untergebracht werden.

Nach 6-wöchiger Therapie wurde sie mit Teilverbesserungen, aber noch in „instabilem“ Zustand und arbeitsunfähig entlassen.

Da keine der Einrichtungen, in denen Frau A.Z. behandelt wurde, eine ambulante Anbindung bieten kann, ist sie nun in der eigenen Abteilung angebunden. Zunächst ist das Ziel, mit motivierenden Gesprächen und bedachten medizinischen Maßnahmen eine weitere Verschlechterung zu vermeiden.


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Bewertung

Die Darstellung der Patientengeschichte ist nicht vollständig und sicherlich sind weitere, uns nicht bekannte Behandlungen erfolgt. Letztendlich muss ein Scheitern sämtlicher Therapiemaßnahmen eingestanden werden. Welche Rolle die radiologische Befundung mit „HWS-Steilstellung“, Tendinitis der ischiocruralen Sehnen, Skoliose, beginnende Einengung der Neuroforamina, beginnende Arthrose für die Chronifizierung spielt, ist fraglich. Hilfreich war sie auf keinen Fall.

Der Patientin wurden im Verlauf von 2008 bis 2014 die vorliegenden Diagnosen von verschiedenen Ärzten und Psychotherapeuten gegeben:

  • Chronische Schmerzstörung

  • Burn-out-Syndrom

  • Fibromyalgiesyndrom

  • Vulvodynie

  • V. a. Reaktivierung einer Herpes-genitalis-Infektion

  • Endometriose

  • Anpassungsstörung

  • Somatoforme Schmerzstörung

  • Anhaltende Somatisierungsstörung

  • Epicondylopathia

  • Beginnende Grundgelenksarthrose ohne Destruktion

  • Tendinitis

  • Myofasziales Schmerzsyndrom

  • Depression

Diese Patientin ist kein Einzelfall. Sie sieht nicht krank aus und fällt nicht weiter auf. Manchmal bietet sie beim Facharzt nur ein Symptom an.

Eindeutig ist, dass sie leidet und Hilfe sucht, immer wieder. Ihr Körper und Ihre Seele sind krank und bieten viele Symptome.

Sie sind hypersensitiv.


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Herr B.W., 80 Jahre

Diagnosen

Chronisches thorakolumbales Schmerzsyndrom (M54.15) bei:

  • Z. n. Spondylodese LWK2/3 mit überbrückender dorsaler Instrumentierung BWK10/11 auf LWK4/5 rechts sowie überbrückender dorsaler Instrumentierung LWK1/2 auf LWK4 links 11/2012

  • Z. n. Anfrischung Pseudarthrose LWK4/5 bis SWK1 MET LWK4/5 und LWK5/SWK1 und Implantation ALIF LWK4/5 und LWK5/SWK1 03/2012

  • Z. n. Metallentfernung Schraube LWK5 bis SWK2 bds., Neuanlage Schraube LWK5 und SWK1 sowie Neuanlage Schraube Os ilium bei Segmentinstabilität LWK4/5 und LWK5/SWK1 bei Schraubenlockerung 03/2012

  • Z. n. robotisch-navigierter Korrekturspondylodese BWK10 bis SWK2 (Mazor SpineAssist, DePuy Expedium DI, DIFAR und SI, Eigenknochen, Actifuse), rechtsseitige Dekompression und Anhebung der BS-Fächer mit Single-PLIF (AMT Wave) LWK4–5 bis SWK1, linksseitige Dekompression LWK1 bis LWK3 mit multiplen Revisionen bei mehrfachen Wundinfektionen 03/2011

  • Z. n. Operation einer lumbalen Spinalkanalstenose mit Punctum maximum in Höhe LWK3/4 (interlaminäre Fensterung in Höhe LWK3/4 und Dekompression des Spinalkanals mit Undercutting zur Gegenseite 08/2007


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Weitere Diagnosen:

  • Koronare Eingefäßerkrankung

  • Z. n. Hinterwandinfarkt

  • Herzinsuffizienz NYHA II–III

  • Unterschenkelödeme

  • Intermittierendes Vorhofflimmern

  • Schrittmacherimplantation (DDD-R)

  • Arterieller Hypertonus

  • Chronische Niereninsuffizienz III

  • Kreatinin 2,0 mg/dl, GFR 34 ml/min

  • Chronisch obstruktive Lungenerkrankung

  • CPAP- und Heimsauerstofftherapie


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Anamnese

Ein 80-jähriger Mann in gutem Allgemein- und Ernährungszustand stellt sich zur Schmerzdiagnostik und Therapie vor. Er beklagt Schmerzen in Brust- und Lendenwirbelsäule, die seit 2010 bestehen. Es handelt sich um einen vorwiegend dumpfen Dauerschmerz von hoher Intensität mit gelegentlichen Schmerzspitzen von 10/10 (VAS).

Er berichtet, dass er bereits 2007 wegen einer Spinalkanalstenose operiert worden sei, dann aber bis 2010 ohne Beschwerden geblieben sei. In den Jahren 2011 und 2012 seien dann viele Wirbelsäulenoperationen durchgeführt worden. Es sei immer wieder zu Komplikationen wie Abszessen, Wundinfektionen und Schraubenlockerungen gekommen. Er habe mehrfach deswegen auf Intensivstationen gelegen.

Nach jeder OP sei der Schmerz stärker geworden. Schließlich sei er vom Schmerztherapeuten ambulant behandelt worden. Da dies nicht half, habe er sich dann einer stationären Schmerztherapie unterzogen. Hier sei er aber nur mit starken Schmerzmitteln behandelt worden.

Er leide jetzt neben den stärksten Schmerzen auch unter ausgeprägten schmerzbedingten Durchschlafstörungen sowie einer eingeschränkten Mobilität trotz Rollator.

Er brauche auch zunehmend mehr Schmerzmedikamente.


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Psychosoziale Anamnese

Es habe in seinem Leben einzelne seelische Krisen gegeben, insbesondere der Tod der langjährigen Ehefrau 1998. Er habe seit mehreren Jahren wieder eine Partnerin, möchte aber mit dieser nicht zusammen wohnen.

Seine Kindheit sei als Kriegsgeneration nicht leicht gewesen, er habe aber immer das Positive gesucht. Er habe sein Leben lang pflichtbewusst gearbeitet.

Er zeigt sich vielseitig interessiert, sehr aktiv und lebensbejahend.

Es sind keine psychopathologischen Auffälligkeiten eruierbar.

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Abb. 1 Röntgenbild nach 5-facher Rücken-OP.

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Körperliche Untersuchung

Das Gangbild ist unsicher und breitbasig. Die Gehstrecke beträgt ohne Rollator nur wenige Meter. Bei der Untersuchung der Wirbelsäule zeigt sich eine stark nach vorn flektierte Haltung von ca. 30°. Ein vollständiges aktives Aufrichten ist nicht möglich, jedoch gelingt dies passiv bis auf fast 0°.

Die Rotation ist stark eingeschränkt.

Die neurologische Untersuchung zeigt keine Auffälligkeiten.

Es finden sich Unterschenkelödeme beidseits.


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Befunde und Medikation Relevante, vorgelegte Befunde

Röntgenbilder und MRT aus den Jahren 2011 und 2012

Internistische Arztbriefe


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Medikation bei Erstvorstellung

  • Fentanylpflaster 25 μg/h, darunter Juckreiz und lokale Rötung, Obstipation, Gangunsicherheit

  • Etoricoxib 45 mg/Tag

  • Ramipril

  • Torasemid

  • Simvastatin

  • Pantoprazol

  • ASS

  • Rivaroxaban


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Therapie

Aufgrund der Komplexität der Beschwerden und der bisherigen Therapieresistenz bei gleichzeitig hohem Analgetikaverbrauch ohne suffiziente Schmerzlinderung wurde die Teilnahme an einem multidisziplinären Schmerzintensivprogramm empfohlen.

Bei eingeschränkter Mobilität und fortgeschrittenem Alter wurde Herr B.W. in ein „berufsbegleitendes“ Gruppenprogramm mit niedriger Intensität eingeschlossen (2-mal pro Woche 4 Stunden am späten Nachmittag über 5 Wochen), bestehend aus Seminaren, Qigong, Kunsttherapie, Physiotherapie und Akupunktur.

Darüber hinaus wurde für eine adäquate Heilmittelversorgung gesorgt. Der Rollator war nicht individuell angepasst und in der zweirädrigen Version ohne Unterarmstütze nahezu ohne Nutzen. Es wurde nun eine vierrädrige Gehhilfe mit Unterarmstützen verordnet.


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Verlauf

Nach Programm und Umstellung war Herr B.W. nahezu schmerzfrei.

Im Verlaufe der Therapie wurden die Analgetika komplett ausgeschlichen. Bei Unverträglichkeit der Trägersubstanz wurde zunächst von Fentanyl 25 μg/h auf Buprenorphin 35 μg/h umgestellt. Damit ließen nicht nur die lokalen unerwünschten Wirkungen nach, sondern die Umstellung erlaubte auch eine Reduktion in kleineren Schritten. Innerhalb von 4 Monaten konnte das Opiat vollständig abgesetzt werden.

Das zweite Analgetikum Etoricoxib konnte dann ebenfalls abgesetzt werden. Parallel kam es zu einer deutlichen Verbesserung der Kreatininwerte mit gleichzeitigem Rückgang der Ödeme (Kreatinin 1,0 mg/dl, GFR > 60 ml/min).

Die einzige aktuelle Behandlung ist die regelmäßige Teilnahme an der Akupunkturgruppe, „weil das gut tut“.

Zuletzt berichtet Herr B.W. von einer 2-stündigen Wanderung (!) mit dem Rollator ohne größere Beschwerden. Die Verbesserung der Mobilität mit Steigerung der körperlichen Aktivität führte dann auch zu einer deutlichen Gewichtsreduktion.


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Bewertung

Herr B.W. hatte mit den vielen Eingriffen und Komplikationen über lange Zeit einen nozizeptiven Input. Dieser führte erstaunlicherweise nicht zu einer Sensibilisierung. Auch die durch die Spondylodesen deutlich veränderte Biomechanik hat keine schmerzhafte muskuloligamentäre Überlastung zur Folge.

Ein richtig angepasster Rollator war, neben dem Schmerzprogramm, der entscheidende Faktor, dass die stärksten Schmerzen verschwunden sind. Auf körperlicher Ebene hat die Akupunktur das Nervensystem desensibilisiert. Eine alternative oder ergänzende Erklärung könnte sein, dass die lange Fentanylapplikation zu einer opioidinduzierten Sensibilisierung geführt hat, die durch das Absetzen wieder abgenommen hat.


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Diskussion

Dargestellt sind 2 sehr gegensätzliche Krankheitsverläufe. Sie sind aus der eigenen Erfahrung charakteristisch für eine ganze Reihe von Patienten.

Der Patient mit eindeutigen somatischen Faktoren und einer Krankengeschichte, die jede Art von Sensibilisierung biomedizinisch kausal gut nachvollziehen ließe, wird wieder schmerzfrei und aktiv. Er kann sein Leben genießen und seine altersbedingten Einschränkungen akzeptieren.

Dagegen entwickelt die Patientin mit vermeintlich reversiblen funktionellen Störungen über Jahre hinweg die verschiedensten Erscheinungen der Hypersensitivität. Nahezu kein Organ wird ausgelassen. Von außen gesehen ist der seelische Anteil bei der Patientin deutlich größer, da lässt sich manches Leid gut nachvollziehen. Eine frühkindliche Bindungsstörung, traumatische Verlusterlebnisse, Enttäuschungen in Beziehungen, alles scheint eine Rolle zu spielen.

Aber nur weil Herr B.W. nichts erzählt, heißt das nicht, dass er nicht Ähnliches erlebt hat. Es ist eher wahrscheinlich, dass er als Kriegs-/Nachkriegskind traumatische Erlebnisse hatte. Möglicherweise sind psychologische innere Faktoren gar nicht im Bewusstsein und deshalb nicht aktiv.

Möglicherweise hat sogar die immerwährende Betonung der psychosozialen Belastungsfaktoren bei Frau A.Z. das Krankheitsgeschehen chronifiziert. In diesem Fall wäre dann die Psychotherapie bzw. Therapie in den Schmerzeinrichtungen und der Psychosomatik eher kontraproduktiv gewesen.

Interessant ist, dass das naturheilkundliche Schmerzintensiv-Programm mit Reiztherapien und anderen komplementären Verfahren die Patientin zumindest angesprochen hat. (Eine Darstellung der Programme findet sich in der zkm 2/2014 und zkm 2/2015).

Zwei Monate Beschwerdefreiheit sind ein deutlicher Hinweis, insbesondere wenn bedacht wird, dass die Patientin aus selbstgewählten organisatorischen Gründen nur an dem 2-wöchigen Programm teilgenommen hat. In diesem Fall wäre ein 4-Wochenprogramm sicherlich besser gewesen.

Der 6-wöchige Aufenthalt nach dem Rückfall in einer renommierten psychosomatischen Klinik führte nur zu Teilverbesserungen, die Patientin blieb aber letztendlich in ihrem deutlich verschlechterten Zustand verhaftet. Eine allgemeine Beurteilung der Effektivität einzelner Therapieansätze bei hypersensitiven Patienten lässt dieses Beispiel natürlich nicht zu. Es sei jedoch die Frage gestattet, ob in jedem Fall eine Therapieintensivierung mit psychotherapeutisch-psychosomatischen Schwerpunkten von Nutzen ist? Eventuell verstärkt die geforderte Introspektion auch die dysfunktionale Wahrnehmung der psychosozialen Belastungen und der körperlichen Wahrnehmung.

Schauen wir in die wissenschaftliche Literatur, um die unterschiedlichen Verläufe dieser beiden Patienten zu erklären, werden wir weitgehend allein gelassen. Die Theorien zur Entstehung der Hypersensitivität sind mager und haben sich in ihrer therapeutischen Umsetzung nicht als durchschlagend erwiesen. Wir können den Zustand der Hypersensitivität gut beschreiben und klassifizieren (s. Editorial), was es aber letztendlich ausmacht, bleibt unklar.

Physiologisch weist (s. Beitrag S. 42) einiges darauf hin, dass Inhibitionsmechanismen versagen.

Interessant sind Befunde bei Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen und chronischen Schmerzpatienten, die eine Minderfunktion des zerebralen „default mode networks“ beschreiben. Dieses Netzwerk zwischen verschiedenen Hirnarealen ist dafür zuständig, die immer wieder entstehenden neuronalen Erregungswellen zu unterdrücken. Ein Versagen führt zur Übererregbarkeit. Es wäre denkbar, dass naturheilkundliche periphere Reizverfahren dieses Netzwerk anregen.

Aktuell ist das bio-psycho-soziale Modell am plausibelsten und weitgehend akzeptiert für die meisten Hypersensitivitätssyndrome. Bei einigen Hypersensitivitätssyndromen, z. B. dem Fibromyalgiesyndrom, bietet die darauf basierende multimodale Therapie wissenschaftlich nachgewiesene Effektivität. Aber geheilt werden können die wenigsten Patienten, viele Patienten werden nicht erreicht. Psychotherapeutische Ansätze im multimodalen Setting können helfen, sind aber mehr von der Interaktion zwischen Therapeut und Patient abhängig als von der Technik. Isoliert sind sie nicht ausreichend wirksam.

Wir können nicht vorhersagen, ob sich jemand resilient gegen körperliche oder seelische Traumata zeigt oder nicht. Wir können ebenfalls nicht voraussagen, ob die Fokussierung auf (bio-psycho-soziale) Defizite tatsächlich die Vorbedingung ist für ein Überwinden.

Solange wir das nicht können, scheint es vornehmste Aufgabe zu sein, die Bedürfnisse des Patienten wahrzunehmen und therapeutisch zu nutzen und dem Patienten nicht durch gut gemeinte Aktivität, körperlich, seelisch oder geistig, zu schaden.

Vielleicht ist manchmal weniger mehr.

Danksagung: Besonders möchte ich den beiden Patienten danken, die ihre Einwilligung zur anonymen Veröffentlichung ihrer Krankengeschichte gegeben haben. Danken möchte ich ebenfalls den Kolleginnen und Kollegen der Schmerzambulanz, deren Befunde einen wesentlichen Teil des Artikels ausmachen. –


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PD Dr. med. Dominik Irnich

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Dominik Irnich ist Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Leiter der Interdisziplinären Schmerzambulanz am Klinikum der LMU München, Innenstadt. 2. Vorsitzender und Leiter des Fortbildungszentrums der DÄGfA, Lehrauftrag für Akupunktur Universität Regensburg. Promotion und Habilitation zum Thema Akupunktur an der LMU München 1996 bzw. 2006, Auszeichnung der Forschungsarbeiten zum Thema Schmerz, Naturheilkunde und Akupunktur, Dozent für Akupunktur (DÄGfA) und Naturheilkunde, internationale Publikations- und Vortragstätigkeit.

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass keine wirtschaftlichen oder persönlichen Verbindungen bestehen.

PD Dr. med. Dominik Irnich
Interdis ziplinäre Schmerzambulanz
Klinikum der Universität München Innenstadt
Pettenkoferstraße 8A
80366 München

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Abb. 1 Röntgenbild nach 5-facher Rücken-OP.