Gesundheitswesen 2015; 77(12): 906-907
DOI: 10.1055/s-0035-1569259
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Licht in der Finsternis

M. Wildner
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für
Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

Publication History

Publication Date:
29 December 2015 (online)

 

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Prof. Dr. med. Manfred Wildner

Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst“ – die Metapher des Lichts in der Dunkelheit, so wie hier aus dem Prolog des Johannes-Evangeliums (1, 5) zitiert, findet sich in vielen Religionen. Nicht nur im christlichen Bereich als Licht in der Finsternis oder Stern über Bethlehem, ähnliche Lichterfeste finden sich auch in der jüdischen Tradition als Chanukka-Fest oder in ganz anderen Traditionen wie dem Hinduismus (Divali-Fest) oder dem Buddhismus (Pavarana-Fest). Einen besonderen Platz hat das Licht in der Finsternis bzw. gegen die Finsternis in der europäischen Geistestradition in Zusammenhang mit der Aufklärung gefunden, diesmal in Abgrenzung zu religiösen Inhalten. Ursprünglich wurde diese Bewegung, welche wie kaum eine andere die moderne Welt geprägt hat, als „Enlightenment“, also als Erleuchtung gegenüber der Dunkelheit des vorangegangenen Mittelalters bezeichnet. Im Französischen wurde die Bezeichnung „Les Lumières“ für die aufgeklärten Vertreter dieser Denkrichtung verwendet.


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Was mit diesem Licht genauer gemeint ist? Wohl in erster Linie die Freiheit, die Herausforderungen der Daseinsbewältigung durch Gebrauch der Vernunft zu bewältigen, gepaart mit einem Humanismus, welcher als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen in der Französischen Revolution zum Motto wurde. Für den deutschen Sprachraum hat Immanuel Kant die prägende Definition gegeben. Aufklärung sei „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, definierte er als Antwort auf einen Aufruf der Berliner Monatsschrift 1784. „Sapere aude“ war der Wahlspruch: Habe Mut zu denken, weise zu sein und die Ketten und Begrenztheiten alter Traditionen zu zerreißen. In der Tat haben die Vertreter dieser geistesgeschichtlichen Epoche, für welche der Zeitraum von 1650–1800 angegeben wird, eine große Wende herbeigeführt. Die strenge Rationalität René Descartes und die neue empirisch-wissenschaftliche Forschungsmethode Francis Bacons hatten die Aufklärung vorbereitet, sie wurde von Voltaire mit Ironie und Parodie und auch als Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen verbreitet. Die enzyklopädische Übersicht Denis Diderots über das verfügbare Wissen, die nüchterne Sicht David Humes auf die menschliche Natur und die glasklare Gedankenwelt Immanuel Kants sind nur einige Beispiele für eine phänomenale menschliche Leistung, welche zum richtigen Zeitpunkt auch von einer umfassenderen Humanität, Demokratisierung und der Befreiung breiter Volksschichten begleitet wurde. Nicht zuletzt wurde sie unterstützt durch Technologien wie den Buchdruck mit beweglichen Lettern und ein an Zahl zunehmendes Bildungsbürgertum. Sie nahm Veränderungen den Schrecken und verband sie zunehmend mit der positiven Assoziation von nutzbringendem Fortschritt. Sie nahm damit auch Einfluss auf unsere Lebenserwartung: In Folge der auf den Weg gebrachten Fortschrittlichkeit ist sie seither – in der Menschheitsgeschichte einmalig – in einem beständigen Ansteigen begriffen.

Auch wenn die Lebenserwartung vermutlich bei 100 Jahren nicht Halt machen wird: ewiges Leben ist auch dies nicht und auch keine Garantie für ein erfülltes Leben. Kann unser menschlicher Verstand wirklich die uns umgebende Welt wie auch unsere inneren Wirklichkeiten umfassend erfassen? Eine Thematik, die auch in der Literatur vielfach aufgegriffen wurde – ist vielleicht der Dichter oder Komponist in seiner ganzheitlicheren Synthese besser zur Erfassung der Wirklichkeit begabt als der analytisch reduzierende Wissenschaftler? Nicht nur die Romantik als sich zeitlich anschließende Gegenbewegung hat hier Zweifel geäußert und auf das schlechthin Unaufklärbare hingewiesen. Es ist fast eine Paradoxie, dass neben Sigmund Freuds psychoanalytischer Herangehensweise auch die modernen Neurowissenschaften, basierend auf den von der Aufklärung verbreiteten methodischen Grundlagen, ein „Unbewusstes“ nahelegen [1] [2] [3]. Und ist nicht dort, wo Licht ist, auch Schatten? Z. B. das nur einseitig Aufgeklärte mit der Produktion eines „eindimensionalen Menschen“, ungeschützt gegenüber den Manipulationen einer übermächtigen, suggestiven Konsumgesellschaft [4]? Der historische Begriff der Aufklärung ist mit solchen modernen Überlegungen im Grunde unzulässig überfrachtet. Auch wenn sich heute komplementäre Sichtweisen eröffnen – der Anspruch vernünftigen Analysierens, Bewertens und Handelns gilt weiter, insbesondere in gesellschaftlich rechenschaftspflichtigen Belangen.

Gilt dies auch für das Gesundheitswesen? Die Antwort dürfte kaum überraschen: Ja, selbstverständlich auch im Gesundheitswesen. Hier scheint es bisweilen, dass der „aufgeklärte“ Ansatz in vielen Bereichen „steckengeblieben“ bzw. unabgeschlossen, vielleicht auch ambivalent ist und weiteres Ringen um Vernunft und Menschlichkeit notwendig ist. Ein bei hoher analytischer „Flughöhe“ abstrakt festgestelltes Vernunftdefizit ist im Gesundheitswesen bei Betrachtung der konkreten Folgen in den täglichen Routinen meist sehr schnell auch ein Humanitätsdefizit. Es findet sich nicht nur bei esoterischen Heilsversprechen, sondern auch in der regulären Gesundheitsversorgung, nämlich überall da, wo Über-, Unter- und Fehlversorgung ihre Schatten werfen. Dort, wo die Rationalität von Egotaktik und kurz gedachtem Gewinnstreben einer (mit)menschlichen Vernunft entgegensteht. Auch dort, wo ein von Arroganz hervorgebrachtes Strahlen die Sachverhalte in ihrem Sein nicht erhellt, sondern den Betrachter blendet.

Ein Mehr an Vernunft tut not, wenn Kinder nicht die Chance erhalten, bei bestmöglicher Gesundheit ihre Potenziale für sich und andere zu entfalten. Wenn die Begeisterung für eine Hochleistungs- und Präzisionsmedizin blind macht für die Notwendigkeit relevanter Forschung, um zu ausgewogenen Entscheidungen durch Leistungserbringer, Finanziers und politische Entscheidungsträger zu kommen, idealerweise gemeinsam mit den Patienten (siehe auch http://www.patient-als-partner.de) [5] [6]. Wenn es vierer Anläufe bedarf, um ein Gesetz zur Förderung von Prävention und Gesundheitsförderung zur Entscheidung zu bringen [7]. Wenn am Lebensende das medizinisch Machbare, vielleicht auch das für die Leistungserbringer und die zuliefernde Industrie finanziell Gewinnbringende, das menschlich Vernünftige verdrängt. Auch da, wo fehlplatzierte ökonomische Rationalität oder Austerität die auf den Menschen gerichtete Rationalität des Helfens, Heilens und Linderns verdrängen. Wenn Forschung und Produktion von Impfstoffen und Antibiotika posteriorisiert werden, wenn Zulassungsstudien gefälscht und für wirksame Medikamente Preise verlangt werden, welche weit über den tatsächlichen Produktions- und Entwicklungskosten liegen – auch wenn die Prinzipien dieser neuen Wirkstoffe oftmals im öffentlich finanzierten universitären Sektor entwickelt wurden [8].

Schmerzlich ist es auch, wenn professionelle Körperschaften, deren institutionelle Ethik das Wohl des Kranken an die erste Stelle setzen sollte, sich gegen Transparenz und öffentliche Rechenschaftslegung entscheiden. Nicht ohne Grund wird die Intransparenz von so manchen Leistungs- und Abrechnungsdaten beklagt, welche einer Qualitätsentwicklung und sinnvollen Kontinuität der Versorgung entgegensteht. Bisweilen sind es auch „nur“ menschliche Egoismen und Eifersüchteleien, welche die sinnvolle Zusammenlegung von Ressourcen, Studien- oder Registerdaten behindern. Zu prüfen wäre auch die Rolle der Medien, die gerne einseitig das Negative betonen: „bad news is good news“ [9].

Gleichzeitig gibt es auch so manchen Lichtblick, der auf mehr „Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit“ (§+70 SGB V) in unserem Gesundheitswesen hoffen lässt. Beispiele hierfür? Nicht nur die Bewegung der evidenzbasierten Medizin und eine zumindest teilweise etablierte Gesundheitsberichterstattung, auch Institutionen wie die Cochrane-Zentren, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das neu entstehende Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG) oder das Institut für Patientensicherheit. Auch der vielerorts stattfindende beharrliche und oft stille Einsatz denkender Menschen in Medizin, Pflege, Rehabilitation, Prävention und Gesundheitsförderung, in den vielfältigen Steuerungsfunktionen innerhalb des Systems Gesundheitswesen und in der Forschung, teilweise mit Verzicht auf monetäre Vergütungen (Conrad Röntgen, Jonas Salk (Polio), Harald zur Hausen (HPV)).

Etwas Licht ins Dunkle möchten auch wieder die verschiedenen Beiträge dieser Ausgabe tragen. Sie beleuchten Themen wie Qualitätsindikatoren für die Diagnostik und Behandlung von ADHS, Kinderschutz in der pädiatrischen Praxis, eine differentielle Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen, die Berufszufriedenheit von Hausärzten, eine Vorausberechnung des ambulanten Leistungsvolumens und des Hausärztebedarfs, die Sicht von Bürgermeistern auf den Versorgungsgrad sowie Mindeststandards für die räumliche Erreichbarkeit hausärztlicher Versorgung, die ökonomische Evaluation integrierter Versorgung und die Zielgruppenerreichung in Präventionsprojekten. Im Besonderen wird auch auf ein Diskussionspapier des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung – „Qualitative Methoden“ – hingewiesen.

Mögen die vielen guten Ansätze im Gesundheitswesen, von IQTiG bis elektronischer Gesundheitskarte, nicht den Schatten der Egoismen und den Blendungen der Spiegelfechtereien in der Gremienarbeit, in den gesundheitspolitischen Diskursen und verbandspolitischen Debatten zum Opfer fallen. Bemerkenswerterweise hat Immanuel Kant im Zusammenhang mit öffentlichen Belangen auch eine „transzendentale Formel des öffentlichen Rechts“ formuliert. Sie könnte nicht nur für Verhandlungen auf staatlicher, zwischenstaatlicher und außerstaatlicher Ebene gelten, sondern durchaus auch als kategorischer Imperativ für das Gesundheitswesen auf Systemebene: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit Publizität verträgt, sind unrecht“ [10]. Was wiederum eine sachgerechte, nicht manipulative Information über Sachverhalte erfordert. Eine solche „aufgeklärte Publizität“ setzt dabei eine erkenntnisorientierte und ethisch verantwortliche Pressearbeit voraus. Die Erfahrung zeigt, dass dies mit investigativem Journalismus zur Deckung kommen oder auch weit auseinander fallen kann. Vielleicht ist die Sorge um die auch gegebene Verletzlichkeit der kleinen Flamme der Vernunft in allen Lebensbereichen etwas, an das man bei den verschiedenen Lichterfesten, von Weihnachten bis Chanukka, beim Entzünden der Lichter mitdenken will – und natürlich auch beim Betrachten des „bestirnten Himmels über [uns] und des moralischen Gesetzes in [uns]“ (Kant).


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  • Literatur

  • 1 Libet B, Gleason CA, Wright EW et al. “Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of Cerebral Activity (Readiness-Potential) – The Unconscious Initiation of a Freely Voluntary Act”. Brain 1983; 106: 623-642
  • 2 Libet B. Unconscious Cerebral Initiative and the Role of Conscious Will in Voluntary Action. The Behavioral and Brain Sciences 1985; 8: 529-566
  • 3 Greene JD, Sommerville RB, Nystrom LE et al. An fMRI investigation of emotional engagement in moral judgment. Science 2001; 293: 2105-2108
  • 4 Marcuse H. Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Übers. von Alfred Schmidt. Luchterhand; Neuwied: 1967
  • 5 Jamtvedt G, Klemp M, Morland B et al. Responsibility and accountability for well informed health-care decisions: a global challenge. Lancet 2015; 386: 826-827
  • 6 Bayer R, Galea S. Public health in the precision-medicine era. N Engl J Med 2015; 373: 499-501
  • 7 Kuhn J, Windus G. Präventionsgesetz im vierten Anlauf. Prävention 2014; 13: 1-2
  • 8 Essenzielle Arzneimittel: WHO hält teure Hepatitis C-Medikamente für unentbehrlich. Deutsches Ärzteblatt. 11. Mai 2015 URL http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/62762/Essenzielle-Arzneimittel-WHO-haelt-teure-Hepatitis-C-Medikamente-fuer-unentbehrlich download 10.11.2015
  • 9 Kohring M, Marcinkowski F. Währungsrisiken. Die prekären Folgen des Erfolgskriteriums „mediale Aufmerksamkeit“. Forschung und Lehre 2015; 22: 904-906
  • 10 Kant I. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf Anhang II: Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriff des öffentlichen Rechts. 1795

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Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für
Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

  • Literatur

  • 1 Libet B, Gleason CA, Wright EW et al. “Time of Conscious Intention to Act in Relation to Onset of Cerebral Activity (Readiness-Potential) – The Unconscious Initiation of a Freely Voluntary Act”. Brain 1983; 106: 623-642
  • 2 Libet B. Unconscious Cerebral Initiative and the Role of Conscious Will in Voluntary Action. The Behavioral and Brain Sciences 1985; 8: 529-566
  • 3 Greene JD, Sommerville RB, Nystrom LE et al. An fMRI investigation of emotional engagement in moral judgment. Science 2001; 293: 2105-2108
  • 4 Marcuse H. Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Übers. von Alfred Schmidt. Luchterhand; Neuwied: 1967
  • 5 Jamtvedt G, Klemp M, Morland B et al. Responsibility and accountability for well informed health-care decisions: a global challenge. Lancet 2015; 386: 826-827
  • 6 Bayer R, Galea S. Public health in the precision-medicine era. N Engl J Med 2015; 373: 499-501
  • 7 Kuhn J, Windus G. Präventionsgesetz im vierten Anlauf. Prävention 2014; 13: 1-2
  • 8 Essenzielle Arzneimittel: WHO hält teure Hepatitis C-Medikamente für unentbehrlich. Deutsches Ärzteblatt. 11. Mai 2015 URL http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/62762/Essenzielle-Arzneimittel-WHO-haelt-teure-Hepatitis-C-Medikamente-fuer-unentbehrlich download 10.11.2015
  • 9 Kohring M, Marcinkowski F. Währungsrisiken. Die prekären Folgen des Erfolgskriteriums „mediale Aufmerksamkeit“. Forschung und Lehre 2015; 22: 904-906
  • 10 Kant I. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf Anhang II: Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriff des öffentlichen Rechts. 1795

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