Klin Monbl Augenheilkd 2016; 233(09): 1067-1070
DOI: 10.1055/s-0042-101351
Offene Korrespondenz
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fiat lux – Heilung von Blindheit mit Radiumstrahlen im Jahr 1903

Fiat Lux: Radium Radiation in 1903 – a Cure for the Blind?

Authors

  • K. Gerstmeyer

    1   Augenklinik, Johannes Wesling Klinikum Minden
  • S. K. Scholtz

    2   IVCRC, Universität Heidelberg, Ettlingen
  • F. T. A. Kretz

    3   Augenheilkunde, Universität Heidelberg
  • G. U. Auffarth

    4   Augenklinik, Universitätsklinik Heidelberg
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Publication History

eingereicht 17 November 2015

akzeptiert 10 January 2016

Publication Date:
30 April 2016 (online)

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Einleitung

Der Zukunftsoptimismus um 1900, der sich vor allem auf die Aufbruchstimmung und den Fortschritt in Naturwissenschaft und Technik berief, wird besonders augenfällig in der Frühgeschichte des Radiums. Die Radioaktivität stellte als völlig neuartiges Phänomen elementare Glaubenssätze der Naturwissenschaften – die Unwandelbarkeit der Materie und den Energieerhaltungssatz – infrage. Phantastische Zukunftserwartungen sprachen von einer völligen Veränderung des menschlichen Daseins. Der experimentelle Nachweis einer „unerschöpflichen“ Freisetzung von Wärme- und Lichtenergie und der gasförmigen Elemente Radon und Helium („Emanation“) ließen Radium rasch in euphorische Schlagzeilen der naturwissenschaftlichen und populären Publizistik geraten. Nicht zuletzt auch aus finanziellen Überlegungen wurden zahlreiche, teilweise sorglose Anwendungsmöglichkeiten von Radium entwickelt und eingesetzt. Die humanmedizinischen Anwendungen als „unfehlbares Heilmittel“ in Form von Bestrahlungs- und Inkorporationstherapie bei inoperablen Karzinomen, Ekzemen, Herpes, Lupus, Rheumatismus, Gicht, Ischias, Hysterie, bis hin zur Verabreichung als Aphrodisiakum kamen einer Panazee gleich. Auch fehlte es nicht an phantastisch anmutenden Interpretationen wie einer „generatio spontanea“ immerhin 40 Jahre nach Pasteurs Forschungsergebnissen. In sterilisierter, mit Radium versetzter Bouillon beobachtete Burke Mikroorganismen ähnelnde Veränderungen, sog. „Radioben“, sodass pathetisch auf eine Schöpfung des Lebens durch Radium geschlossen wurde [1], [2].

Überaus eindrucksvoll, nicht nur für ein breites Publikum, sondern auch für Wissenschaftler, war die mystisch erscheinende fahl-blaue Lumineszenzfähigkeit von Radiumpräparaten („… von Anbeginn und in Perpetuum“) sowie eine Lichtwahrnehmung bei Annäherung an das geschlossene oder verbundene Auge [3]. Wir erinnern an die hieraus abgeleitete Erwartung einer Heilung von Blindheit mittels Radium.

Marie Curie bestätigte erste Beschreibungen dieser visuellen Eindrücke 1899 durch den Chemiker Giesel und hat selbst (auch zusammen mit Javal) kurze Zeit später die Modalitäten der Lichtperzeption bei Blinden untersucht [4], [5]. Sie erwähnte einen intakten Optikus und eine funktionsfähige Retina als Grundvoraussetzung „… ceux dont la rétine est malade nʼeprouvent pas la sensation lumineuse …“ [6].