Schlüsselwörter
Rückenschmerz - Kosten - Responder - Routinedaten - Multimodale Schmerztherapie
Key words
back pain - responder - claims data - multidisciplinary pain management
Einleitung
Chronischer Rückenschmerz zählt zu den häufigsten Erkrankungen in Deutschland [1]. Chronische Rückenschmerzen führen neben beträchtlichen Einschränkungen der Lebensqualität
der Betroffenen zu hohen Kosten für das Gesundheitssystem und die Gesellschaft. Die
Kosten steigen dabei mit schmerzbezogenem Chronifizierungsstadium und durch Erkrankungskomplikationen
wie dem Hinzukommen von neuropathischen Schmerzen oder psychischer Komorbidität [2].
In dem Kontext des gewachsenen Verständnisses der biomedizinischen und psychosozialen
Komplexität chronischer Schmerzen wird die Etablierung multimodaler Programme des
Schmerzmanagements gefordert. Die 88. Gesundheitsministerkonferenz sprach sich im
Juni 2015 explizit für den flächendeckenden Ausbau interdisziplinärer und intersektoraler
Versorgungsangebote für Patienten mit chronischen Schmerzen aus. Trotz der Erweiterung
von schmerztherapeutischen Strukturen sowohl im ambulanten als auch im stationären
Bereich in der jüngsten Vergangenheit erweist sich die Schmerzversorgung in Deutschland
nachwievor als defizitär [3].
Die Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz beschreibt die Multimodale Schmerztherapie
(MMT) bei Patienten mit chronischen/potenziell chronifizierenden Rückenschmerzen als
Goldstandard in der Schmerzversorgung [4]. Die MMT wird definiert als die „gleichzeitige, inhaltlich, zeitlich und in der
Vorgehensweise abgestimmte umfassende Behandlung von Patienten mit chronifizierten
Schmerzsyndromen (…), in die verschiedene somatische, körperlich übende, psychologisch
übende und psychotherapeutische Verfahren nach vorgegebenem Behandlungsplan mit identischem,
unter den Therapeuten abgesprochenem Therapieziel eingebunden sind.“ [5].
Dass interdisziplinäre Verfahren im Schmerzmanagement kosteneffektiv sind, belegen
Studien im nationalen und internationalen Kontext [6]
[7]
[8]
[9]. Angesichts der gestiegenen Anzahl und Diversität multimodaler Programme zur Schmerztherapie
gewinnt aktuell die Frage an Bedeutung, welche Schmerzpatienten in der Versorgungsrealität
tatsächlich von einer MMT profitieren.
In Deutschland mangelt es jedoch an Studien zur Charakterisierung von Patienten, die
auf eine MMT ansprechen. Zudem fehlen Informationen zu Patienten, die keine MMT erhalten,
bei denen aufgrund ihrer Charakteristika jedoch ein Therapienutzen zu erwarten wäre.
Im Kontext der Planung von Versorgungssteuerungsmaßnahmen stellen die genannten Kenntnisse
jedoch essentielle Informationen dar. Ziel der vorliegenden Studie war es, Patientencharakteristika
zu identifizieren, die bei Patienten mit MMT mit einer posttherapeutisch günstigen
Kostenentwicklung assoziiert sind. Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass eine verbesserte
Konstitution des Schmerzpatienten zu einer geringeren Ressourceninanspruchnahme führt.
Ferner wurde bestimmt, bei welchen Rückenschmerzpatienten, die keine MMT erhielten,
ein günstiger Kostenverlauf zu erwarten wäre.
Methodik
Datengrundlage
Zur Analyse standen pseudonymisierte Routinedaten einer großen überregionalen gesetzlichen
Krankenkasse (BARMER GEK, 8,8 Millionen Versicherte im Jahr 2010) zur Verfügung. Für
den Zeitraum 01.01.2009–31.12.2012 lagen Informationen zu Alter und Geschlecht des
Versicherten sowie Daten zur stationären und ambulanten Versorgung, zu den ambulanten
Arzneimittelverordnungen sowie zu Heil- und Hilfsmitteln vor.
Studienpopulationen
Die Studienpopulation wurde anhand folgender Kriterien selektiert:
-
durchgängig versichert im Gesamtzeitraum 2009–2012,
-
Dokumentation von mindestens einem der in [Tab. 1] gelisteten MMT-spezifischen Codes im Jahr 2010, jedoch im Jahr vor dieser Intervention
(MMT) keinen dieser Codes und
-
Alter von mindestens 18 Jahren zu Beginn der Intervention.
Tab. 1 Identifikation der multimodalen Schmerztherapie auf Basis von Routinedaten der GKV.
OPS
|
Titel
|
DRG
|
Titel
|
8.918.0
|
MMT, mind. 7 bis einschl. 13 Tage Verweildauer
|
In Kombination mit…
|
I42Z
|
MMT bei Krankheiten u. Störungen an Muskel-Skelett-System u. Bindegewebe
|
8.918.1
|
MMT, 14 bis einschl. 20 Tage Verweildauer
|
B47Z
|
MMT bei Krankheiten u. Störungen des Nervensystems
|
8.918.2
|
MMT, ab 21 Tage Verweildauer
|
Z44Z
|
MMT bei Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen, u. anderer Inanspruchnahme
des Gesundheitswesens
|
8.91b
|
MMT, Kurzzeitbehandlung
|
I42Z
|
MMT bei Krankheiten u. Störungen an Muskel-Skelett-System u. Bindegewebe
|
8.91c
|
Teilstationäre MMT*
|
|
Quelle: IGES
*Definition über OPS-Code und nicht über DRG, da i. d. R. bei teilstationären Leistungen
keine DRG dokumentiert sind. Die Verwendung der Kombination von MMT-spezifischen OPS-Codes
und MMT-spezifischen DRG-Codes diente der Validierung der identifizierten Interventionen
Da Schmerz als Symptom und Erkrankung bisher weder auf Basis von ICD-Codes noch auf
Basis von Arzneimittelverordnungen eindeutig und umfassend klassifiziert wird, entwickelte
das IGES Institut im Rahmen des Versorgungsatlas Schmerz ein Verfahren zur Identifikation
und Gruppierung von Schmerzpatienten auf Basis von Routinedaten [10]
[11]. Auf diese Weise konnten 9 unterschiedliche Schmerztypen identifiziert werden ([Tab. 2]). Schmerztypbildende Diagnosen wurden im Jahr vor der Intervention erhoben. Hierbei
wurden gesicherte ambulante Diagnosen sowie stationären Hauptentlassungs- und Nebendiagnosen
berücksichtigt.
Tab. 2 Schmerztypen gemäß Versorgungsatlas Schmerz *.
|
Schmerztypen
|
1
|
Krebs
|
2
|
(Andere) spezifische Rückenschmerzen
|
3
|
Schmerzen bei Bandscheibenerkrankungen
|
4
|
Arthrose- und Arthritis-bedingte Schmerzen
|
5
|
Schmerzen bei traumatischen Frakturen
|
6
|
Schmerzen bei multimorbiden, pflegebedürftigen Patienten
|
7
|
Neuropathische Schmerzen
|
8
|
Kopfschmerzen
|
9
|
Nicht spezifische Rückenschmerzen
|
*Die Patienten wurden hierarchisch zugeordnet, d. h. Patienten, die einen Schmerztyp
aufwiesen, wurden nachfolgenden Schmerztypen nicht mehr zugeordnet
Quelle: IGES nach Versorgungsatlas Schmerz [11]
Die Analyse fokussierte auf Patienten mit „spezifischen Rückenschmerzen“ inkl. Osteoporose
(Interventionsgruppe sRS) sowie auf Patienten mit „Schmerzen aufgrund von Bandscheibenerkrankungen“
(Interventionsgruppe BS)[1].
Mittels Propensity Score Matching (PSM) wurde für jede der 2 Interventionsgruppen
eine Kontrollgruppe mit Schmerzpatienten ohne MMT im Gesamtzeitraum gebildet, um Strukturgleichheit
aller relevanten Kovariaten zu gewährleisten [12]. Potentielle Kontrollpatienten durften dabei im Studienzeitraum von 2009 bis 2012
keine dokumentierte MMT aufweisen und mussten zum Stichtag 01. Juli 2010 mindestens
18 Jahre alt sein. Hierzu wurde ein logistisches Regressionsmodell definiert, in welchem
der Erhalt der MMT die abhängige Variable darstellte. Als unabhängige Variablen wurden
neben Alter und Geschlecht alle klinisch relevanten Diagnosegruppen nach Clinical
Classification System (CCS) [13], Arzneimittelverordnungen auf ATC-2-Level, die schmerztypbezogene[2] und indikationsunspezifische Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen sowie
die Gesamtkosten in das Modell aufgenommen. Alle Kovariaten wurden für das Jahr vor der Intervention bzw. bei der Kontrollgruppe für das Jahr vor dem Fixdatum 1. Juli 2010 erhoben. Das PSM basierte auf einem Greedy Algorithmus
unter Verwendung des SAS-Macros von Parsons [12]. Das Matching-Verhältnis betrug 1:1.
Hinsichtlich der Kovariaten bestanden für beide Schmerztypen im genannten Zeitraum
vor Intervention/Fixdatum keine signifikanten (p>0,05, Chi2-Test) Unterschiede zwischen Interventions- und Kontrollgruppe.
Identifikation der günstigen Kostenverläufe
Die Fragestellung, welche Patienten der Interventionsgruppe unter MMT einen günstigen
Kostenverlauf zeigen, wurde mittels einer mehrstufigen komparativen Kostenanalyse
beantwortet. Zugrunde liegt hierbei die Annahme, dass eine verbesserte Konstitution
des Schmerzpatienten zu einer geringeren Inanspruchnahme führt und folglich die Kostenentwicklung
als Proxy für den Krankheitsverlauf verwendet werden kann. Der Vergleich der Kostenverläufe
erfolgte schmerztypbezogen auf Basis der kumulierten indikationsunspezifischen Gesamtkosten
(ambulant, stationär, Heil- und Hilfsmittel, Arzneimittel) der Interventions- und
Kontrollgruppe für beide Jahre. Ein günstiger Kostenverlauf lag vor, wenn bei MMT-Patienten
die kumulierten Gesamtkosten für beide Folgejahre unterhalb der mittleren kumulierten
Gesamtkosten der Kontrollgruppe lagen.
Mittels CART-Verfahren (Classification and Regression Tree) wurde für MMT-Patienten
mit günstigen Kostenverläufen je Schmerztyp ein Entscheidungsbaum generiert, der aufzeigte,
welche Merkmalsprofile mit sinkenden Ressourcenverbräuchen assoziiert sind [14]. Als Prädiktoren im CART dienten demografische und Morbiditätsmerkmale sowie Angaben
zu bereits erfolgten Schmerzbehandlungen im Jahr vor MMT.
Abschließend wurde die Anzahl der Patienten der Kontrollgruppe ermittelt, die diese
Charakteristika aufwiesen.
Ergebnisse
Charakteristika der Rückenschmerzpatienten mit und ohne MMT
Insgesamt 0,04% (n=3 177) der 8,8 Millionen BARMER GEK-Versicherten (Stichtag 31.12.2010)
waren zwischen 2009–2012 durchgängig versichert, wurden im Jahr 2010 multimodal schmerztherapeutisch
im Krankenhaus behandelt und waren mindestens 18 Jahre alt. 57,92% der Patienten waren
im Rahmen der MMT 7–13 Tage im Krankenhaus, gefolgt von 31,57% mit einer Verweildauer
von 14 bis 20 Tagen. Eine MMT von mindestens 21 Tagen Dauer sowie die teilstationäre
Variante der MMT (Abrechnungsoption erst seit 2009) besaßen im Jahr 2010 zahlenmäßig
geringe Bedeutung (2,68 bzw. 7,87%).
[Tab. 3] charakterisiert die PS gematchten Studienpopulationen je Schmerztyp auf Basis ausgewählter
Matching-Parameter.
Tab. 3 Charakterisierung der Studienpopulation: Interventions- und Kontrollgruppe je Schmerztyp.
|
Spezifische Rückenschmerzen (sRS)
|
Schmerzen durch Bandscheibenerkrankungen (BS)
|
MMT (n=1 252)
|
Kontroll (n=1 252)
|
p
|
MMT (n=767)
|
Kontroll (n=767)
|
p
|
Alter
|
MW (Jahre)
|
65,63
|
65,91
|
0,58
|
55,49
|
56
|
0,41
|
SD (Jahre)
|
12,35
|
13,01
|
0,58
|
12,32
|
12,48
|
0,41
|
≥65 Jahre (%)
|
58,63
|
58,07
|
0,78
|
25,81
|
24,77
|
0,64
|
Geschlecht
|
Männer (%)
|
22,12
|
22,60
|
0,77
|
27,38
|
23,99
|
0,13
|
Frauen (%)
|
77,88
|
77,40
|
0,77
|
72,62
|
76,01
|
0,13
|
Morbidität* (% Patienten)
|
Sonst. Diagnose-Codes, u. a. Schmerzdiagnosen (R52*) (259)
|
72,84
|
71,65
|
0,50
|
61,93
|
62,58
|
0,79
|
Hypertonie (98)
|
65,26
|
65,58
|
0,87
|
45,76
|
48,11
|
0,36
|
Sonst. Knochenerkrankung u. muskulosk. Deformitäten (212)
|
63,58
|
63,50
|
0,97
|
57,89
|
56,45
|
0,57
|
Sonst. Bindegewebsstörungen (211)
|
60,86
|
58,23
|
0,18
|
57,76
|
56,45
|
0,61
|
Angststörungen, somatof., dissoz. und Persönlichkeitsstörungen (72)
|
53,83
|
53,04
|
0,69
|
53,19
|
55,54
|
0,36
|
Gesamtkosten im Jahr vor MMT/Fixdatum (Euro)
|
MW
|
6 233
|
6 254
|
0,93
|
4 949
|
4 808
|
0,62
|
SD
|
6 257
|
6 479
|
0,93
|
5 366
|
5 665
|
0,62
|
*Dargestellt werden die 5 häufigsten CCS-Erkrankungsgruppen. Im Mittel wiesen sRS-Patienten
19–20 verschiedene CCS-Gruppen auf, BS-Patienten 16 Gruppen
Quelle: IGES
Die Hochrechnung der Ergebnisse nach Alter und Geschlecht auf die Gesamtpopulation
der GKV ergab eine absolute Häufigkeit von 9 632 sRS-Patienten mit MMT (0,01% der
GKV; davon 27,38% Männer) [15]. 57,72% dieser Patienten waren mindestens 65 Jahre. Bei den Patienten mit BS handelt
es sich um 5 901 Versicherte (0,01% der GKV; davon 34,16% Männer). Der Anteil an über
64-Jährigen war mit 24,70% im Vergleich zum sRS geringer.
Indikationsunspezifische Versorgungskosten und günstige Kostenverläufe
Die mittleren indikationsunspezifischen Gesamtkosten je Folgejahr sind bei beiden
Schmerztypen höher als jene der Kontrollgruppe. Im Jahr vor Intervention/Fixdatum
bestanden keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Interventions- und
Kontrollgruppe des jeweiligen Schmerztyps ([Tab. 4]). Während die mittleren Jahresgesamtkosten der MMT-Patienten mit sRS im zweiten
Jahr 23,53% höher waren als das Ausgangsniveau (6 000 Euro pro Jahr und Patient),
sanken die Werte bei der entsprechenden Kontrollgruppe auf minus 3,52% im zweiten
Jahr (Ausgangsniveau: 6 039 Euro pro Jahr und Patient). Für die Patienten mit BS ergab
sich ein ähnlicher Verlauf ([Tab. 4]). Die stationären Kosten sind bei allen Populationen die kostentreibenden Faktoren.
Die Kosten der MMT, die zur Aufnahme in die Studienpopulation führte, wurden bei den
Kostenanalysen nicht berücksichtigt.
Tab. 4 Entwicklung der indikationsspezifischen Jahresgesamtkosten (MW) bei Interventions-
und Kontrollgruppe der sRS- bzw. BS-Patienten im Vergleich.
|
Jahr vor Einschluss
|
1. Folgejahr
|
2. Folgejahr
|
Jahreskosten (MW) in Euro (Basisniveau)
|
Jahreskosten (MW) in Euro
|
Veränderung zum Basisniveau (%)
|
Jahreskosten (MW) in Euro
|
Veränderung zum Basisniveau (%)
|
Spezifische Rückenschmerzen (sRS)
|
gesamt
|
MMT (n=1 252)
|
6 000
|
7 612
|
+26,86
|
7 412
|
+23,53
|
|
Kontroll (n=1 252)
|
6 039
|
5 531
|
−8,42
|
5 827
|
−3,52
|
stationär
|
MMT (n=1 252)
|
2 313
|
3 517
|
+52,06
|
3 359
|
+45,23
|
|
Kontroll (n=1 252)
|
2 573
|
2 153
|
−16,32
|
2 272
|
−11,71
|
günstig
|
MMT (n=600)
|
3 855
|
3 299
|
−14,42
|
2 896
|
−24,88
|
ungünstig
|
MMT (n=652)
|
7 975
|
11 581
|
+45,22
|
11 568
|
+45,06
|
Schmerzen durch Bandscheibenerkrankungen (BS)
|
gesamt
|
MMT (n=767)
|
4 708
|
5 902
|
+25,36
|
6 273
|
+33,25
|
|
Kontroll (n=767)
|
4 593
|
4 403
|
−4,13
|
4 147
|
−9,70
|
stationär
|
MMT (n=767)
|
1 605
|
2 583
|
+60,97
|
3 015
|
+87,92
|
|
Kontroll (n=767)
|
1 802
|
1 765
|
−2,07
|
1 446
|
−19,73
|
günstig
|
MMT (n=372)
|
2 979
|
2 246
|
−24,62
|
2 000
|
−32,87
|
ungünstig
|
MMT (n=395)
|
6 336
|
9 345
|
+47,49
|
10 298
|
+62,53
|
Quelle: IGES
Demgegenüber zeigt sich innerhalb der Interventionsgruppe mit sRS bzw. BS für 47,92%
(n=600) bzw. 48,50% (n=372) der Patienten ein günstiger Kostenverlauf. Gemessen an
den mittleren Jahresgesamtkosten der Kontrollgruppe weisen diese MMT-Patienten einen
kontinuierlichen Kostenrückgang sowie geringere mittlere Kosten als die Kontrollgruppe
in jedem Folgejahr auf ([Tab. 4]).
Wer profitiert, wer könnte profitieren – Merkmale potenziell profitierender Patienten
Für beide Schmerztypen wurden jeweils 3 Profile mittels CART identifiziert, die mit
einem günstigen Ressourcenverbrauch assoziiert waren. Diesen Profilen entsprachen
66,17% (n=397) der MMT-Patienten mit sRS und günstigem Kostenverlauf. Bei den MMT-Patienten
mit BS belief sich dieser Anteil auf 72,51% (n=266). Verordnungen von stark wirksamen
Opioiden (WHO-Stufe III) sowie schmerzbezogene Behandlungen vor der Intervention wurden
als Proxy für die Schmerzintensität bzw. den Schweregrad verwendet. Sie waren neben
Alter und Komorbidität die bedeutsamen Merkmale ([Abb. 1], [2]).
Abb. 1 Profile von sRS-Patienten mit per definitionem günstigen Kostenverlauf nach MMT (Entscheidungsbaum).
Abb. 2 Profile von BS-Patienten mit per definitionem günstigen Kostenverlauf nach MMT (Entscheidungsbaum).
58,07% der Kontrollpatienten mit sRS und 65,32% der Kontrollpatienten mit BS wiesen
die Profile der MMT-Patienten mit günstigem Kostenverlauf auf.
Diskussion
Im Rahmen der vorgestellten Studie wurde eine mehrstufige Methode vorgestellt, die
eine Identifikation von Patienten ermöglicht, die potenziell von einer MMT profitieren
können. Hierzu wurden Profile jener Patienten, die von der MMT profitierten sowie
Informationen zu Patienten mit ähnlichen Profilen, die keine MMT erhielten, herangezogen.
GKV-Routinedaten geben unzureichend Auskunft über z. B. klinische Outcome-Parameter,
sodass der Nutzen der MMT über einen Rückgang der Kosten operationalisiert wurde.
Für zwei Drittel der Patienten mit sRS sowie drei Viertel der Patienten mit BS und
günstigem Kostenverlauf zeigte die CART-Analyse statistisch bedeutsame Profile, d. h. Merkmalsbündel der Patienten, die auf die Therapie ansprachen. Den Großteil
der Patienten mit sRS, die auf die MMT ansprachen, kennzeichnet ein Alter von unter
65 Jahren, eine geringe (psychische) Komorbidität, einen geringen Schweregrad der
Schmerzerkrankung (operationalisiert v. a. über das Nichtvorliegen von Verordnungen
starker Opioide) sowie das Fehlen schmerzbezogener Hospitalisierungen im Vorjahr der
Intervention. Beim Schmerztyp sRS verdeutlicht die Analyse jedoch ebenso, dass durchaus
auch Patienten im Alter von über 64 Jahren von einer MMT profitieren können, sofern
zusätzlich zu den genannten Merkmalen keine Depressionen im Vorjahr der Intervention
diagnostiziert wurde und keine Nachsorge-Leistungen (CCS 257, dazu zählen u. a. orthopädische
Nachbehandlungen oder Nachbehandlungen nach chirurgischen Eingriffen) vorliegen. Bandscheibenerkrankungen
sind ein häufiges Problem von Personen im Erwerbstätigenalter, was letztlich als eine
Erklärung dafür dient, dass das Alter bei den MMT-Patienten mit BS keine statistisch
bedeutsame Rolle bezüglich eines günstigen Kostenverlaufs spielt.
Vergleichbare Studien auf Basis von Routinedaten der GKV zu den Erfolgsdeterminanten
einer MMT finden sich in der deutschsprachigen Literatur nicht. Erkenntnisse zu dieser
Fragestellung sind primär Interventionsstudien zu entnehmen, die auf spezifische MMT-Modelle
fokussieren, sich auf klinische Daten beziehen und Endpunkte wie Schmerzintensität,
Beeinträchtigung und Funktionsfähigkeit der Patienten im Zeitverlauf untersuchen.
Unter der Annahme, dass eine verbesserte Konstitution des Schmerzpatienten zu einer
kostengünstigen Versorgung im Nachgang der MMT führen kann, zeigen diese Studien –
trotz limitierter Vergleichbarkeit zur vorliegenden Analyse – ähnliche Prädiktoren.
Bei Heinrich et al. (2011) zählten in der Interventionsstudie zur Effektivität eines
tagesklinischen multimodalen Programms für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen
neben dem Body Mass Index und der Art der Manifestation ebenfalls der Schweregrad
des chronischen Schmerzes, aber auch das Ausmaß einer Depression zu den Prädiktoren
hinsichtlich der Verbesserung der Funktionskapazität [16]. In weiteren Studien konnte gezeigt werden, dass eine verbesserte körperliche Funktionsfähigkeit
aufgrund der MMT, affektiver Distress, geringere Abwesenheiten vom Arbeitsplatz sowie
die Intensität der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen vor Initiierung der MMT
mit der Schmerzintensität nach der MMT assoziiert sind. [17]
[18]
[19].
Bezüglich der Patienten, die eine MMT erhielten und einen ungünstigen Kostenverlauf
aufwiesen, ist zu beachten, dass der ungünstige Kostenverlauf nicht notwendigerweise
darauf hinweisen muss, dass diese Patienten nicht von der MMT profitieren können,
da unklar bleibt, ob das Ausmaß des ungünstigen Kostenverlauf ohne MMT höher gewesen
wäre.
Hinsichtlich der Profile, die im Rahmen der CART-Analyse als Einflussfaktoren auf
den Kostenverlauf identifiziert wurden, ist zu vermuten, dass eine hohe Komorbidität
und demnach die gleichzeitige Einnahme mehrerer Arzneimittel zu einem ungünstigen
Kostenverlauf nach der MMT führen kann [20]. Zum Einen ist durch die zusätzliche Einnahme weiterer Arzneimittel das Risiko für
Arzneimittelinterkationen erhöht [21]. Zum Anderen bestehen ggf. Kontraindikationen für einzelne im Rahmen der MMT eingesetzte
Arzneimittel, was eine eingeschränkte Effektivität der MMT zur Folge haben kann. Hierfür
spricht, dass u. a. ein hohes Alter zu den identifizierten Merkmalsbündeln gehörte.
Denkbar ist, dass die ebenfalls identifizierte Hypertension demnach als Proxy-Parameter
für eine insgesamt erhöhte Krankheitslast zu interpretieren ist. Im Rahmen der CART-Analyse
wurde zudem die Depression als Einflussfaktor auf den Kostenverlauf identifiziert.
Hier ist denkbar, dass eine Depression die Adhärenz im Rahmen der MMT einschränkt
und somit den Kostenverlauf beeinflussen kann [22]. Zudem führt eine erhöhte Komorbidität dazu, dass verschiedenste Akteure an der
Therapie beteiligt sind. Hier deuten Studien darauf hin, dass die Beteiligung verschiedener
Akteure zu teilweise widersprüchlichen Informationen für den Patienten führen kann,
was sich wiederum in einer eingeschränkten Adhärenz und einem verminderten Therapieerfolg
niederschlagen kann [23].
Die beobachteten Ergebnisse deuten zudem darauf hin, dass Patienten von einem früheren
Einsatz der MMT profitieren könnten. In der CART-Analyse zeigte sich, dass ein geringer
Einsatz von stark wirksamen Opioiden sowie eine geringe Inanspruchnahme von schmerzbezogenen
Krankenhausbehandlungen vor der Initiierung der MMT mit einem günstigen Kostenverlauf
nach der MMT assoziiert waren. Auch in anderen Studien konnte andersherum beobachtet
werden, dass eine höhere Intensität der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen
einen negativen Einfluss auf z. B. die Schmerzintensität nach Initiierung der MMT
hatte und Patienten demnach von einem früheren Einsatz der MMT profitieren könnten
[19]. Die Autoren führen jedoch an, dass in Deutschland nach derzeitigem Stand eine MMT
erst initiiert werden darf, wenn alle ambulanten Möglichkeiten der Schmerztherapie
ausgeschöpft wurden.
Die vorliegende Analyse zeigt außerdem, dass 58% der sRS-Patienten und 65% der BS-Patienten
ohne MMT (Kontrollgruppen) vermutlich von einer MMT profitieren könnten, da diese
Patienten ähnliche Profile aufweisen, wie Patienten, die eine MMT erhielten und einen
günstigen Kostenverlauf aufwiesen.
Limitationen
Die vorliegende Analyse weist diverse Limitationen auf. Zum einen wurde der Behandlungserfolg
in der Interventionsgruppe ausschließlich auf Basis der im Vergleich zur Kontrollgruppe
geringeren indikationsunspezifischen Jahreskosten der Folgejahre operationalisiert.
Die Kostenentwicklung wurde demnach als Proxy-Parameter für die Entwicklung der Krankheitsschwere
herangezogen. Die Analyse der Patienten, die potenziell von der MMT profitieren könnten,
basiert auf einer Häufigkeitsauszählung von Kontrollpatienten mit Merkmalsprofilen,
die denen von Patienten, die auf die MMT ansprachen, ähnelten. Es erfolgte kein Abgleich
der tatsächlichen Kosten dieser Patienten. Bei den vorliegenden Ergebnissen handelt
es sich zudem um eine nicht diskontierte Analyse, d. h. es wurde nicht für Menge und
Preis kontrolliert.
Es wurde bewusst darauf verzichtet, die Entwicklung der Opioidverbräuche im Nachgang
der MMT als Endpunkt einzubeziehen. So können gesteigerte Opioid-Verbräuche ein Proxy
für die Zunahme der Erkrankungsintensität sein, ebenso aber auch für eine bessere
Integration des Patienten in eine adäquate Versorgung als positiver Effekt der vorangegangenen
MMT.
Darüber hinaus sind grundsätzliche Limitationen von GKV-Routinedaten zu nennen. Es
handelt sich um Daten zum Zweck der Abrechnung erbrachter medizinischer Leistungen
im Kontext der GKV. Klinische Parameter u. a. zur Abschätzung von Schmerzstärken ebenso
wie Selbstauskünfte zur Messung der Lebensqualität sind nicht verfügbar.
Eine Hochrechnung der Ergebnisse für die BARMER GEK auf die GKV-Population erfolgte
im Hinblick auf die Häufigkeit von MMT-Patienten mit sRS und BS. Einschränkend wirkt
hierbei, dass die Studienpopulation im Rahmen des ersten Selektionsschritts ausschließlich
die im Zeitraum 2009–2012 durchgängig Versicherten umfasst. Dieser potenzielle Bias
ist in der vorliegenden Alters- und Geschlechtsstandardisierung auf die GKV-Population
nicht korrigiert, da keine Angaben zu durchgängig Versicherten auf GKV-Ebene vorliegen.
Veränderte Codes zur Dokumentation von Diagnosen bzw. Leistungen führen zu 2 weiteren
strukturell bedingten Limitationen: Erst seit 2009 existiert ein OPS-Code für die
teilstationäre MMT. Die Häufigkeit der MMT im teilstationären Setting ist daher im
Interventionsjahr 2010 sehr niedrig. Die im Rahmen des Versorgungsatlas Schmerz entwickelte
Schmerzklassifikation auf Basis von Routinedaten inkludiert nicht die seit 2010 neu
etablierten Schmerzdiagnosen (ICD-10) F45.40 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
sowie F45.41 Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Unsere
Analysen zeigten, dass diese Diagnosen in der Schmerzdiagnostik durchaus relevant
sind: Rund 50% aller MMT-Patienten unabhängig vom Schmerztyp wies mind. einer der
beiden Schmerzdiagnosen auf.
Hinsichtlich der Schmerzklassifikationen ist darüber hinaus zu beachten, dass sich
bei der Zuordnung zu den einzelnen Kategorien Missklassifikationen ergeben können,
insbesondere da bei einem Patienten ICD-Codes verschiedener Kategorien dokumentiert
sein können. Hinsichtlich der Interpretation der Ergebnisse ergeben sich hieraus jedoch
kaum Einschränkungen, da es sich trotz Missklassifikation um einen Patienten mit dokumentierter
Schmerzdiagnose handeln würde, dem im Rahmen des PSM ein Kontrollpatient zugeordnet
wurde.
Die in der vorliegenden Studie ermittelten Profile von Patienten, die auf die MMT
ansprachen, können dazu dienen, Patienten mit chronischen Rückenschmerzen früher in
geeignete multimodale Programme zu integrieren. Die Ergebnisse verweisen auf den Bedarf,
patientenindividuelle Entscheidungen im Rahmen des Schmerzmanagements zu treffen.
Im Hinblick auf die Ausgestaltung der MMT unterstreicht die Studie außerdem die Bedeutung
an einer subgruppenspezifischen Ausgestaltung der Angebote, um auf unterschiedliche
Chronifizierungsstadien, psychische und somatische Begleiterkrankungen, Schmerzbehandlungshistorien
oder auch berufliche Anforderungen des Betroffenen ausreichend Rücksicht zu nehmen.
Mit der entwickelten Methode können potenziell von der MMT profitierende, bisher nicht
versorgte Patienten identifiziert, im Rahmen von Pilotprojekten untersucht und bei
Bedarf entsprechenden Versorgungssteuerungsmaßnahmen zugeführt werden. Bezüglich der
Güte der Prädiktion bedarf es in zukünftigen Studien jedoch einer weiteren Evaluation.
Zudem könnten sich weitere Forschungsarbeiten anschließen, in denen geprüft wird,
inwieweit die Methodik für andere Versorgungsmaßnahmen und andere Indikationen als
jene des chronischen Rückenschmerzes adaptiert werden kann.