OP-Journal 2016; 32(01): 55-59
DOI: 10.1055/s-0042-111252
Artikel zum Leitthema
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Verletzungen und Schäden im Fußball – Wie hoch ist die Evidenz?

Acute and Overuse Injuries in Soccer – What about the Evidence Level?
Jens Kelm
1   Chirurgisch-Orthopädisches Zentrum Illingen, Illingen/Saar
2   Klinik für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg/Saar
,
Oliver Ludwig
3   Sportwissenschaftliches Institut der Universität des Saarlandes, Saarbrücken
,
Frank Ahlhelm
4   Institut für Radiologie, Kantonsspital Baden AG, Baden, Schweiz
,
Bianca André
1   Chirurgisch-Orthopädisches Zentrum Illingen, Illingen/Saar
,
Sascha Hopp
5   Zentrum für Orthopädie und Sporttraumatologie, Lutrinaklinik Kaiserslautern, Kaiserslautern
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Jens Kelm
Chirurgisch-Orthopädisches Zentrum Illingen
Rathausstraße 2
66557 Illingen/Saar

Publication History

Publication Date:
20 September 2016 (online)

 

Zusammenfassung

Hintergrund: In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien zu gesundheitsschädigenden Ereignissen (gsE) im Fußball erschienen. Ziel dieser Arbeit war, neben der Einordung der Studien nach ihrer Evidenz, die Datenlage in Bezug auf Probandenzahl, Athletenstatus, Geschlechterverteilung und Genese von gsE im Fußball zu untersuchen.

Methodik: Für den Zeitraum von 1976–2011 wurden die Datenbanken MEDLINE, EBMR und SPOLIT auf Arbeiten mit den Schlüsselwörtern/-kombinationen: Fußball, Verletzungen, Schäden, Training und Spiel durchsucht. Dabei wurden 644 initial potenziell relevante Artikel gefunden, aus denen anhand des QUORUM-Statements 78 potenziell relevante Artikel hervorgingen, denen ein EVIDENCE BASED LEVEL (EBL) zugeordnet wurde. Da eine metaanalytische Auswertung aufgrund der Studienheterogenität nicht möglich war, wurden die Ergebnisse gewichtet ausgewertet und deskriptiv dargestellt.

Ergebnisse: 23 % der Arbeiten waren dem EBL 2 a–2c zuzuordnen, 27 % dem EBL 3 a und 3b und 50 % dem EBL 4 und 5. Insgesamt erfassten die Arbeiten 22 294 Männer und 2375 Frauen; 87 % der Männer und 29 % der Frauen gehörten dem Profibereich an. Mit der Kontakt-/Nichtkontaktgenese von gsE befassten sich 7 verwertbare Arbeiten mit insgesamt 8011 gsE bei Männern und 6 Arbeiten mit 1055 gsE bei Frauen. Bei Männern wurden die gsE zu 46 % (Frauen 72 %) durch Kontakt- und zu 54 % (Frauen 28 %) durch Nichtkontaktereignisse verursacht. Die Aufteilung in Verletzungen und Schäden wurde bei 9969 gsE bei Männern in 11 Arbeiten und bei 624 gsE bei Frauen in 5 Arbeiten untersucht. Im Mittel trugen beide Geschlechter deutlich häufiger Verletzungen (Männer 90 %, Frauen 86 %) als Schäden davon. Die Prävalenz der gsE bezogen auf Training oder Spiel wurde bei Männern in 11 Arbeiten mit 10 078 gsE und bei Frauen in 4 Arbeiten mit 546 gsE untersucht. Bei Männern traten 35 % der gsE im Training und 65 % im Spiel, bei Frauen 60 % der gsE im Training und 40 % im Spiel auf.

Schlussfolgerungen: Die Anzahl der in Studien inkludierten Athleten ist in Relation zur Zahl der Aktiven niedrig, Untersuchungen an Profispielern sind überrepräsentiert. Geschlechtsunspezifisch dominieren Verletzungen gegenüber den Schäden, geschlechtsspezifisch ist die Verteilung der gsE bezüglich ihrer Genese und ihres Auftretens in Training und Spiel. Das Evidenzniveau der Studien ist in Relation zur sozioökonomischen Bedeutung der Sportart niedrig; bei den Frauen ist die Evidenz der Studien höherwertig.


#

Abstract

Aim: Over the last years, several studies on harmful events (h. e.) in soccer have been published. The aim was to develop a ranking of these studies according to their evidence, and to analyse the data with respect to the number of study participants, athletesʼ status, gender distribution, and genesis of harmful events in soccer.

Methods: Between 1976 and 2011, the data bases MEDLINE, EBMR, and SPOTLIT were scanned by the keywords/combinations: soccer, acute injuries, overuse injuries, training, and match. In doing so, 644 initially potential relevant articles were found. On the basis of the QUORUM standard, 78 potentially relevant articles were filtered out, and an EVIDENCE BASED LEVEL (EBL) was assigned. The results were rated according to importance and shown descriptively, because the heterogeneity of the study inhibited meta-analytical evaluation.

Results: 23 % of the publications could be assigned to EBL 2 a – 2c, 27 % to EBL 3 a and 3b, and 50 % to EBL 4 and 5. The studies comprised altogether 22 294 male and 2375 female athletes; 87 % of the male and 29 % of the female were professional athletes. 7 usable publications with a total of 8011 h. e. in men and 6 publications with 1055 h. e. in women dealt with contact/non-contact genesis of h. e. 46 % male (72 % female) athletes suffered from h. e. caused by contact events, and 54 % male (28 % female) athletes suffered from h. e. caused by non-contact events. The distribution of acute and overuse injuries was analysed in 9969 h. e. in men (11 publications), and in 624 h. e. in women (5 publications). On average, the number of acute injuries (90 % male, 86 % female) was much higher than that of overuse injuries. The prevalence of h. e. with respect to training or match playing was analysed in 11 studies with 10 078 h. e. in men, and in 4 studies with 546 harmful events in women. 35 % of menʼs h. e. occurred during training and 65 % during matches, whereas 60 % of the womenʼs h. e. occurred during training and 40 % during matches.

Conclusion: The number of athletes included in the studies is quite low in relation to the number of active athletes. Studies of professional athletes are over-represented. Independent of gender, there are more acute injuries than overuse injuries, whereas the distribution of harmful events with respect to genesis and occurrence during training and match is gender-specific. The studiesʼ evidence level is quite low in relation to the socio-economic significance of this kind of sport; the studiesʼ evidence is higher for women.


#

Einleitung

Mit 265 Millionen Akteuren zählt Fußball zu den beliebtesten Sportarten überhaupt [1]. Obwohl die Ball- und Kontaktsportart in Relation zur Anzahl der Aktiven nicht den gefährlichen Sportarten zuzuordnen ist [2], ist die absolute Zahl der durch die Sportausübung auftretenden Gesundheitsschädigungen ausgesprochen hoch [2]. Allein in Deutschland ereignen sich an einem Fußballwochenende ca. 85 000 sportartinduzierte Verletzungen und Schäden, die neben ihrer Häufigkeit nicht nur von sportmedizinischer, sondern auch von hoher sozioökonomischer Bedeutung sind [3]. Selbst wenn man von lediglich einem Tag Arbeitsausfall infolge der sportartbedingten Verletzung ausgeht, entstehen durch den Produktionsausfall ein volkswirtschaftlicher Schaden von mindestens 8,5 Mio. Euro und ein Ausfall an Bruttowertschöpfung von geschätzten 14,7 Mio. Euro in der Folgewoche [4].

Insbesondere in den letzten Jahren sind zahlreiche Studien hinsichtlich gesundheitsschädigender Ereignisse (gsE) im Fußball erschienen. Ziel dieser Arbeit war es, die Datenlage in Bezug auf Probandenzahl und Athletenstatus (Profi/Amateur), Geschlechterverteilung und Genese von gsE im Fußball zu überprüfen und eine Einordnung der Studien gemäß ihrer wissenschaftlichen Evidenz vorzunehmen.


#

Material und Methoden

Für den Zeitraum von 1976–2011 wurden die Datenbanken MEDLINE, EBMR und SPOLIT auf Arbeiten mit den deutschen und englischen Schlüsselwörtern/-kombinationen: Fußball, Sportverletzungen, Sportschäden, Training, Spiel, Übung, Leistung und Ermüdung durchsucht. Dabei wurden 644 initial potenziell relevante Artikel gefunden, aus denen anhand des QUORUM-Statements [5] letztendlich 78 potenziell relevante Artikel hervorgingen, denen ein EVIDENCE BASED LEVEL nach Oxford (EBL) [6] zugeordnet wurde. Nach Exklusion von Expertenmeinungen, systematischen Übersichtsartikeln und für die Fragestellungen nicht relevanten Arbeiten resultierten 21 Primärstudien, die hinsichtlich der Genese der Gesundheitsschädigung aufgrund Kontakt/Nichtkontakt, Verletzung/Schaden und des Auftretens während des Trainings oder im Spiel analysiert wurden ([Abb. 1]). Eine statistisch metaanalytische Auswertung der Studien war aufgrund ihrer Heterogenität nicht möglich. Die Heterogenität ergab sich aus der unklaren Statusdefinition (Profi/Amateur) der untersuchten Akteure, der unterschiedlichen Begriffsdefinitionen bezüglich Verletzungen und Schäden, sowie der zwischen den Studien hoch differierenden Trainings- und Spielbelastung. Aus diesem Grund wurde bei den ausgewerteten Arbeiten eine rein deskriptive Ergebnisdarstellung gewählt und die Extremwerte angegeben. Die für die einzelnen Fragestellungen entsprechenden Mittelwerte wurden errechnet, indem die jeweils relevanten Primärstudien in Abhängigkeit von der Zahl der in ihnen untersuchten gsE gewichtet wurden [7].

Zoom Image
Abb. 1 Flussdiagramm der Literaturrecherche nach dem Quorum-Statement mit Aufzählung der für diese Studie relevanten Fragestellungen.

#

Ergebnisse

Evidenzlevel

Der überwiegende Teil der recherchierten Studien stammte aus Skandinavien (28,3 %). Darauf folgten Studien aus England (12,8 %) und Deutschland (11,5 %). Von den potenziell relevanten Arbeiten (n = 78) erreichten 50 % ein EBL von 4 und 5. 27 % waren dem EBL 3 a und 3b und 23 % dem EBL 2 a–2c zuzuordnen. Studien auf einem EBL von 1 a–1c wurden nicht gefunden ([Tab. 1]). Bezogen auf die in den potenziell relevanten Arbeiten inkludierten Fußballspielenden ist festzustellen, dass 71 % der Untersuchten in Arbeiten mit einem EBL zwischen 4 und 5, weitere 17 % auf Level 3b und lediglich 12 % auf einem qualitativ höheren Evidenzniveau untersucht wurden. Auf der Basis der untersuchten gsE zeigt sich, dass sich die bei Frauen durchgeführten Studien auf insgesamt deutlich höheren Evidenzniveaus befinden als die an Männern durchgeführten Untersuchungen ([Abb. 2]).

Zoom Image
Abb. 2 Prozentuale Verteilung der Evidenzlevel der analysierten Primärstudien anhand der Zahl der gsE für Frauen (links) und Männer (rechts).

Tab. 1 Einordnung der potenziell relevanten Studien nach dem Level des Oxford Centre for Evidence based Medicine.

EBL

Therapie, Prävention, Ätiologie, Risiko/Nebenwirkungen

Studienzahl (abs.)

Studienzahl (%)

1a

systematische Übersichtsartikel (mit Homogenität) von Randomized Controlled Trials (RCTs)

0

0

1b

einzelner RCT (mit engem Konfidenzintervall)

0

0

1c

Alles-oder-Nichts-Ergebnis

0

0

2a

systematischer Übersichtsartikel (mit Homogenität) von Kohortenstudien

6

7,7

2b

einzelne Kohortenstudie (inkl. RCT geringer Qualität) z. B. Follow-up<80 %

4

5,1

2c

„Outcome“- Untersuchungen, ökologische Studie

8

10,3

3a

systematischer Übersichtsartikel (mit Homogenität) von Fall-Kontroll-Studien

3

3,8

3b

einzelne Fall-Kontroll-Studie

18

23,1

4

Fallserien (und Kohortenstudien und Fall-Kontroll-Studien geringer Qualität)

29

37,2

5

Expertenmeinungen ohne kritische Überprüfung, basierend auf physiologischen Daten, Forschungsergebnisse

10

12,8

total

78

100


#

Probandenanzahl, Status, gesundheitsschädigende Ereignisse

Insgesamt inkludierten die potenziell relevanten Arbeiten (n = 78) 22 294 Männer (Alter 24,1 [5/60] Jahre) und 2375 Frauen (Alter 21,5 [14/39] Jahre), von denen 87 % der Männer und 29 % der Frauen dem Profibereich angehörten ([Abb. 3]).

Zoom Image
Abb. 3 Prozentuale Verteilung der in den potenziell relevanten Studien untersuchten Fußballer bezogen auf den Athletenstatus.

Die davon analysierten Primärstudien (n = 21) beinhalteten insgesamt 6412 Männer mit 12 345 gsE und 847 Frauen mit 1244 gsE.


#

Kontakt-/Nichtkontaktereignisse

Mit der Einteilung der gsE in Kontakt- vs. Nichtkontaktgenese befassten sich 7 verwertbare Arbeiten mit insgesamt 8011 gsE bei Männern (EBL 2c–4) und 6 Arbeiten mit insgesamt 1055 gsE bei Frauen (EBL 2b–4). Die gewichtete Mittelwertbestimmung über alle in den Studien inkludierten gsE ergab bei den Männern 46 (40/74) % Kontakt- und 54 % Nichtkontaktereignisse als gsE gegenüber 72 (37/86) % Kontakt- und 28 % Nichtkontaktereignissen bei den Frauen.


#

Verletzungen und Schäden

Die exakte Unterteilung der gsE in Verletzungen und Schäden wurde bei 9969 gsE bei Männern in 11 Arbeiten (EBL 2c, 3b, 4) und bei 624 gsE bei Frauen durch 5 verwertbare Arbeiten (EBL 2b, 3b, 4) untersucht, wobei im Mittel beide Geschlechter deutlich häufiger Sportverletzungen (Männer 90 % [61/98], Frauen 86 % [72/97]) als Sportschäden davontrugen.


#

Training und Spiel

Betrachtet man die Prävalenz der gsE bezogen auf Training oder Spiel, konnten bei den Männern 11 Arbeiten (EBL 2b, 2c, 3b, 4) mit 10 078 gsE und bei den Frauen 4 Arbeiten (2b und 3b) mit 546 gsE gefunden werden. Hier zeigte sich, dass bei Männern im Mittel 35 % (16/59) der gsE im Training und 65 % (41/84) während eines Spieles auftraten. Bei Frauen wurden im Mittel 60 % (17/90) gsE im Training und 40 % (10/83) im Spiel beobachtet.

In [Tab. 2] sind die Verteilungen der inkludierten Athleten in Bezug auf die untersuchten gesundheitsschädigenden Ereignisse dargestellt.

Tab. 2 Verteilung der zu den Fragestellungen untersuchten Athleten auf die Evidenzniveaus der analysierten Primärstudien (in Klammern Prozentangaben).1

Kontakt/Nichtkontakt

Verletzung/Schaden

Training/Spiel

EBL

Männer

Frauen

Männer

Frauen

Männer

Frauen

1 Es liegen nur Angaben zu gsE vor.

2b

165 (24,8 %)

498 (10,3 %)

165 (19,5 %)

988 (19,7 %)

165 (20,5 %)

2c

347 (7,8 %)

1

527 (10,9 %)

347 (6,9 %)

3b

512 (11,4 %)

460 (69,0 %)

512 (10,6 %)

641 (75,7 %)

512 (10,2 %)

641 (79,5 %)

4

3 612 (80,8 %)

41 (6,2 %)

3 301 (68,2 %)

41 (4,8 %)

3 178 (63,2 %)

Quellen

[8], [9], [10], [11], [12], [13], [14]

[12], [15], [16], [17], [18], [19]

[8], [10], [11], [12], [13], [14], [20], [21], [22], [23], [24]

[12], [15], [16], [18], [25]

[8], [11], [12], [13], [14], [20], [22], [23], [24], [26]

[12], [16], [18], [25]

n gesamt

4 471

666

4 838

847

5 025

806


#
#

Diskussion

Epidemiologie und Status

Nach Angaben der FIFA spielten im Jahre 2006 ca. 265 Millionen Menschen Fußball. Zusammen mit weiteren 5 Millionen Schiedsrichtern und sonstigen Funktionären waren somit 4 % der Weltbevölkerung aktiv im Fußball tätig [1]. Alleine in Deutschland sind 6,35 Millionen Fußballspielende in 25 805 Vereinen registriert [27]. In Relation zur Anzahl aktiver Fußballer weltweit ist die Zahl der in Studien inkludierten Athleten niedrig. So bilden die in den (zu 93 % in englischer Sprache publizierten) wissenschaftlichen Arbeiten untersuchten Fußballspieler, die unserer Recherche zugrunde liegen, weniger als ein Promille der weltweit aktiven Profi- und Freizeitspieler ab. Untersuchungen an professionellen Spielern (87 %) scheinen bei Männern überrepräsentiert, bei den Frauen (29 %) hingegen angemessen vertreten, wobei jedoch eine allgemeingültige Definition eines Profi- bzw. Amateurspielers nicht existiert. Wird dieser Status über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spielklasse definiert [8], [20] ist zu bedenken, dass die Ligastrukturen der nationalen Verbände sehr heterogen und damit international nicht vergleichbar sind. Auch eine Definition über das Kriterium, ob der Sport hauptberuflich ausgeübt wird, hält weder dem internationalen Vergleich stand, noch ist diese national allgemeingültig. Hier zeigt sich, dass klare Definitionen bezüglich des Status eines Profi- oder Amateurfußballers notwendig wären, um die Ergebnisse der in den unterschiedlichen Studien untersuchten Akteure miteinander vergleichen und interpretieren zu können.

Für den Amateurfußball wenig richtungsweisend sind in diesem Zusammenhang die von den internationalen Fußballorganisationen in Auftrag gegebenen Arbeiten [12], [23], die ausschließlich Spielern von Nationalmannschaften den Status von Profisportlern zuordnen. Bezogen auf die Gesamtpopulation der Fußballspielenden und die professionellen Strukturen in den höheren Ligen lässt dies keine allgemeinen Rückschlüsse zu. Aus diesem Grund sollten nicht nur epidemiologische und ätiologische Ergebnisse dieser Studien kritisch hinterfragt, sondern auch bezüglich der Primärtherapie und insbesondere der Nachbehandlung, „falsch positive“ Rückschlüsse vermieden werden. Letztere könnten der qualitativ besseren medizinischen Betreuung hinsichtlich schnellerer Detektion von gsE und höherer Therapiequalität bei diesen Spitzenakteuren geschuldet sein.

Es ist zu vermuten, dass sich gerade aus der allgemeinen Kenntnis dieser Studienergebnisse eine Diskrepanz zwischen Anspruch (auf das Machbare) und Realität (in Bezug auf das Mögliche) entwickelt. Studienergebnisse von „Profis“ sind nicht direkt auf „Amateure“ übertragbar, der Anspruch eines Amateurs auf den gleichen Therapieverlauf wie bei einem Profi ist zwar legitim, aber nicht zu befriedigen. Oft kommen der behandelnde Sportmediziner und auch der betroffene Athlet selbst gegenüber Trainern und Vereinsfunktionären in Erklärungsnot, wenn sie bei gleichen gsE, aber unterschiedlichem Status (Amateur/Profi) unterschiedliche Behandlungszeiten rechtfertigen müssen. Inhalte und Therapiedauer einer Verletzung oder eines Schadens eines Amateurfußballspielers stimmen meist nicht mit den – oft nur über die Medien verfügbaren und daher nicht immer zuverlässigen – Informationen über die Behandlung von Profis überein.


#

Verletzungen und Schäden

Die gewichtet gemittelte Aufarbeitung der Studien zeigte tendenziell, dass sich gesundheitsschädigende Ereignisse in der Kontaktsportart Fußball bei Männern etwa gleichmäßig auf Kontakt- und Nichtkontaktereignisse verteilen – mit einer leichten Tendenz zu Nichtkontaktverletzungen – und daher auf ein noch hohes, bisher nicht vollends ausgeschöpftes Präventionspotenzial hinweisen [28].

Die nach den Ergebnissen unserer Arbeit erhöhte Prävalenz von Kontaktereignissen bei Frauen ist schwierig zu interpretieren. In erster Linie ist ein „methodischer Fehler“ zu diskutieren, da die Mittelung durch die hohe Probandinnenzahl der Studie von Tegnander et al. (2008) dominiert wird, die zudem eine hohe Zahl von Kontaktereignissen aufweist.

Bei den Männern dominieren Verletzungen gegenüber den Schäden, dabei kann die höhere Prävalenz der gesundheitsschädigenden Ereignisse im Spiel gegenüber dem Training mit einer erhöhten psychophysischen Anforderung des Spieles im Vergleich zum Training erklärt werden [24] und auf eine hohe Spielhärte im Männerfußball hinweisen. Auch bei den Frauen sind Verletzungen häufiger als Schäden, wobei im Gegensatz zu den Männern Trainingsverletzungen überwiegen, die, zumindest im Jugendfußball, mit einer höheren Trainingsexpositionszeit im Vergleich zum Spiel erklärt werden können [29], [30].

Bei der Mehrzahl der Studien ist festzustellen, dass keine exakten Definitionen für Sportschäden und Sportverletzungen existieren [31]. So werden beispielsweise Zerrungen (englisch „strain“) in einigen Studien zu Sportschäden [13], in anderen zu den Sportverletzungen [10] gezählt. Auch diese Unschärfe der Begriffsdefinitionen trägt dazu bei, dass die Mehrzahl der Studien nicht mit statistischen Methoden untereinander verglichen werden kann und zeigt auf, dass die sportmedizinische Fußballforschung auch in dieser Hinsicht eine klare Terminologie benötigt, um valide Ergebnisse zu erzielen, Studien miteinander zu vergleichen [32] und daraus evidenzbasierte Konsequenzen ableiten zu können.


#

Evidenz

Der überwiegende Teil der recherchierten Arbeiten stammte aus Skandinavien (28,3 %), gefolgt von Studien aus England (12,8 %) und Deutschland (11,5 %), was ein Ungleichgewicht zwischen Herkunft und Anzahl der Veröffentlichungen einerseits und dem Maß der Bedeutung des Fußballs in den aufgeführten Ländern andererseits aufzeigt. Nach einer aufwendig angelegten Studie einer bekannten Unternehmens- und Strategieberatungsgesellschaft tragen beispielsweise die 36 in der DFL (Deutsche Fußball Liga GmbH) organisierten Bundesliga-(Lizenzspieler)vereine mit 5,1 Milliarden Euro einen nicht unbeträchtlichen Anteil zum Bruttoinlandsprodukt bei [33], was die hohe volkswirtschaftliche Bedeutung der Sportart unterstreicht. Dem gegenüber ist das Evidenzniveau der Studien in Relation zur wirtschaftlichen Bedeutung niedrig. Von den potenziell relevanten Arbeiten (n = 78) erreichten 50 % nur ein EBL zwischen 4 und 5 (Fallserien und Expertenmeinungen), inkludierten aber 71 % der untersuchten Fußballer.

Es zeigt sich, dass die überwiegende Mehrheit der bisher gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse von gesundheitsschädigenden Ereignissen im Fußball auf evidenzniedrigen Beobachtungsstudien (zur Epidemiologie und Ätiologie) beruhen, was primär in der Fragestellung nach dem Auftreten von gsE und den dafür adäquaten Studiendesigns begründet ist. Unter dem Aspekt der Prävention von gsE und der Therapie nach gsE sollte es jedoch gerade aus sportmedizinischer Sicht im Interesse insbesondere der „Profi“-Vereine sein, eine hohe Wissensqualität durch evidenzhohe Interventionsstudien zu erzielen, um Ausfallzeiten der Athleten schon aufgrund der hohen Personalkosten [34], [35] reduzieren zu können. Beobachtet man die Publikationsdaten der einzelnen Arbeiten, so lässt sich feststellen, dass gerade die jüngeren Publikationen mit zunehmender Häufigkeit den Interventionsstudien zuzuordnen sind und so dem aufgezeigten Forschungsdefizit Rechnung getragen wird, bzw. ein Anstieg des Evidenzniveaus insgesamt erwartet werden kann.

Weiterhin auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass die Datenlage über Fußballspielerinnen zwar bezüglich Studien- und Probandinnenzahl geringer als bei den Männern ist, jedoch hinsichtlich der in dieser Arbeit untersuchten Parameter ein deutlich höheres Evidenzniveau aufweist ([Abb. 2]), obwohl das gesellschaftliche und sportmedizinische Interesse am Männerfußball, nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Gehaltsstrukturen, höher ist [36]. Für den Frauenfußball ist zu vermuten, dass sich die sehr niedrige Probandinnenzahl und die geringere Anzahl untersuchter professioneller Athletinnen durch die geringere Popularität der Sportart für Frauen erklärt, das derzeit insgesamt höhere Evidenzniveau der Arbeiten einerseits in einer höheren Teilnahmemotivation und -disziplin der Frauen an solchen Studien verglichen mit Männern begründet sein könnte, andererseits bei den Frauen im Gegensatz zu den Männern mehr Interventions- als Beobachtungsstudien durchgeführt wurden, was per se ein höheres Evidenzniveau zur Folge hat.


#
#

Schlussfolgerungen

In Relation zur Anzahl aktiver Fußballer weltweit ist die Anzahl der in Studien inkludierten Athleten niedrig. Untersuchungen an professionellen Spielern sind überrepräsentiert.

Statistisch metaanalytische Vergleiche sind aufgrund der Heterogenität der Studien nicht möglich. Einheitliche Begriffsdefinitionen sind erforderlich, um Ergebnisse interpretieren und Konsequenzen ableiten zu können.

Geschlechtsunspezifisch dominieren Verletzungen gegenüber den Schäden, geschlechtsspezifisch ist die Verteilung der gsE bezüglich ihrer Genese und ihres Auftretens in Training und Spiel.

Das Evidenzniveau der Studien ist in Relation zur wirtschaftlichen Bedeutung der Sportart niedrig. Im Frauenfußball ist, trotz geringerer öffentlicher Anerkennung und geringerer Studienzahl, die Evidenz der Studienlage höherwertig.


#

Adnexe

Diese Arbeit soll als kleiner Beitrag verstanden werden, die sportmedizinische Forschungsgemeinschaft zu motivieren, dem Fußballmarkt die Evidenzlage aufzuzeigen, um die Forschungsarbeit zu intensivieren und die Forschungsqualität, auch durch zu erwartende Fördergelder aus dem Geschäft Fußball, optimieren zu können.


#
#

Interessenkonflikt: Nein


Korrespondenzadresse

PD Dr. med. Jens Kelm
Chirurgisch-Orthopädisches Zentrum Illingen
Rathausstraße 2
66557 Illingen/Saar


Zoom Image
Abb. 1 Flussdiagramm der Literaturrecherche nach dem Quorum-Statement mit Aufzählung der für diese Studie relevanten Fragestellungen.
Zoom Image
Abb. 2 Prozentuale Verteilung der Evidenzlevel der analysierten Primärstudien anhand der Zahl der gsE für Frauen (links) und Männer (rechts).
Zoom Image
Abb. 3 Prozentuale Verteilung der in den potenziell relevanten Studien untersuchten Fußballer bezogen auf den Athletenstatus.