Drug Res (Stuttg) 2016; 66(S 01): S19-S20
DOI: 10.1055/s-0042-114459
Symposium der Paul-Martini-Stiftung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Behandlung von Hämophilien

J. Oldenburg
Institut für Exp. Hämatologie und Transfusionsmedizin, Universität Bonn
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Johannes Oldenburg
Direktor des Instituts für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin
Universitätsklinikum Bonn
Sigmund-Freud-Straße 25
53127 Bonn

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. November 2016 (online)

 

Die Hämophilie ist eine X-chromosomal vererbte schwere Störung der Blutgerinnung, bei welcher der Gerinnungsfaktor VIII (Hämophilie A) oder IX (Hämophilie B) fehlt. Abhängig vom Ausmaß der Gerinnungsfaktorverminderung kommt es – oft spontan – zu unterschiedlich schweren Blutungen in die Muskulatur, die Gelenke oder in innere Organe. Insbesondere Gelenkblutungen führen über die Jahre zu bleibenden, teils sehr schweren Gelenkschäden. Die Behandlung der schweren Verlaufsformen besteht in der regelmäßigen intravenösen Gabe des fehlenden Gerinnungsfaktors VIII oder IX. Damit können einerseits akute Blutungen behandelt werden, andererseits kann das Auftreten von Blutungen durch eine regelmäßige, vorbeugende Gabe verhindert werden [1].

Die großen Meilensteine der Hämophiliebehandlung in der Vergangenheit waren die Einführung der ärztlich kontrollierten Selbstbehandlung Anfang der 70er Jahre, die Virusinaktivierung von aus Blutplasma gewonnenen Gerinnungsfaktorkonzentraten in den 80er Jahren (nachdem zuvor fast 100 % der schwer betroffenen Patienten eine Hepatitis B und C sowie 60 % der Patienten eine HIV-Erkrankung erworben hatten) und die rekombinante Herstellung von Gerinnungsfaktoren in den 90er Jahren.

Heutzutage ist die schwerste Nebenwirkung der Behandlung die Bildung von Antikörpern (Hemmkörpern) gegen den substituierten Gerinnungsfaktor. Bei der Hämophilie A betrifft dies etwa 30–40 % der Patienten, bei der Hämophilie B nur etwa 3–5 % der Patienten. Die Antikörper machen die Gerinnungsfaktoren unwirksam; alternative Therapien sind weniger wirksam und extrem kostenintensiv [2].

Wünschenswerte medizinische Weiterentwicklungen der Behandlung der Hämophilien sind die nahezu vollständige Vermeidung von Blutungen, insbesondere der Gelenkblutungen, die mit einem sich über die Jahre entwickelnden kumulativen Gelenkschaden verbunden sind. Hemmkörperpatienten mit ihren bislang unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten würden hiervon besonders profitieren. Zu erreichen wäre dies durch eine intensivierte Prophylaxe mit Gerinnungsfaktorkonzentraten. Ein anderer Wunsch von Patienten und Behandlern ist die Entwicklung von Gerinnungsfaktorkonzentraten mit verlängerter Halbwertszeit und/oder anderen Applikationswegen als intravenös, z. B. subkutan.

Zwanzig Jahre lang gab es keine besonderen großen Meilensteine in der Hämophiliebehandlung. Dies hat sich in den letzten Jahren, u. a. bedingt durch die Freigabe der Patente zur rekombinanten Herstellung von FVIII- und FIX-Konzentraten, dramatisch geändert. Aktuell sind über 20 neue Produkte in Zulassungsstudien, welche das Potenzial haben, die Hämophiliebehandlung in eine neue Ära zu führen [3].

Ein Teil der Produkte betrifft rekombinante Gerinnungsfaktoren mit verlängerter Halbwertszeit. Die hierfür eingesetzten Techniken sind insbesondere Fusionsproteine mit dem Fc-Fragment von IgG oder mit Albumin sowie die Pegylierung. Damit wird für den Gerinnungsfaktor VIII (FVIII) eine Verlängerung der Halbwertszeit von ca. 12 auf ca. 18 Stunden und für den Faktor IX (FIX) eine Verlängerung der Halbwertszeit von 20 auf 80–100 Stunden erreicht. Der vergleichsweise geringe Effekt für den FVIII ist bedingt durch die fast quantitative Bindung von FVIII an das Trägerprotein Von Willebrand Faktor (VWF) und die damit verbundene Clearance des FVIII über den VWF. Für die Hämophilie A-Patienten bedeutet dies, dass sie statt 3-mal wöchentlich oft nur noch 2-mal wöchentlich den FVIII intravenös applizieren müssen. Bei der Hämophilie B ist der Effekt sehr viel ausgeprägter. Hier reduzieren sich die intravenösen Applikationsintervalle von 2–3-mal wöchentlich auf 1-mal alle 1–2 Wochen [3].

Eine weitere Klasse von Produktneuerungen sind kleine Biomoleküle, die entweder die FVIII-Funktion imitieren oder aber global die Gerinnungsfähigkeit des Blutes erhöhen. All diesen Biomolekülen ist gemeinsam, dass sie subkutan verabreicht werden können und eine deutlich längere Halbwertszeit haben, also nur noch 1-mal wöchentlich bis 1-mal monatlich appliziert werden müssen. Am weitesten fortgeschritten sind die klinischen Studien zu einem bispezifischen Antikörper, welcher die Funktion des FVIII imitiert, d. h. die Gerinnungsfaktoren FIXa und FX so nahe zusammenbringt, dass diese miteinander interagieren können. Die Halbwertszeit beträgt 5 Wochen. Der bispezifische Antikörper kann auch bei Hämophilie A-Patienten mit Hemmkörper eingesetzt werden, womit erstmals für die Hemmkörperpatienten eine wirksame Therapie zur weitgehend vollständigen Blutungsvermeidung verfügbar ist [4]. Die globalen Therapieansätze betreffen die Verminderung der endogenen Antithrombinsynthese in der Leber durch leberzellspezifische si-RNA-Moleküle gegen Antithrombin, wodurch die Thrombingenerierung gesteigert wird. Ein weiterer globaler Therapieansatz ist die Inhibierung des Tissue Factor Pathway Inhibitor-Proteins, wodurch die FXa-Generierung und in der Konsequenz dann auch die Thrombingenerierung gesteigert wird. Diese Therapieansätze können sowohl bei der Hämophilie A als auch bei der Hämophilie B und hier auch bei Patienten mit einem Inhibitor eingesetzt werden [3].

Einen Durchbruch hat es in 2016 hinsichtlich der Gentherapie der Hämophilie A und B mittels adenoassoziierter Virusvektoren gegeben. Presseveröffentlichungen berichteten, dass in klinischen Phase I-Studien FVIII- und FIX-Wirkspiegel von 30 % und mehr erreicht werden, die den Hämophilie-Patienten ein nahezu normales Leben ermöglichen.

Aktuell bestehen die Verbesserungen der Behandlung mit den konventionellen Produkten darin, spontan auftretende Blutungen bei Hämophilie-Patienten weitestgehend zu eliminieren. Dies wird erreicht durch eine Intensivierung und vor allem auch durch eine Individualisierung der Behandlung. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat in einem kürzlich veröffentlichten Gutachten (Rapid Report) festgestellt, dass die Prophylaxe, d. h. vorbeugende regelmäßige Gabe von Gerinnungsfaktorenkonzentrat zur Vermeidung von spontan auftretenden Blutungen, den Goldstandard in der Hämophiliebehandlung repräsentiert [5]. Die dargestellten neuen Therapieoptionen, die teilweise jetzt schon verfügbar sind oder in den nächsten 2–5 Jahren zugelassen werden, stellen Fortschritte dar, welche für die Behandlung der Hämophilie einen Paradigmenwechsel bedeuten. In naher Zukunft wird sich das Leben eines Hämophilie-Patienten hinsichtlich Lebensqualität und -erwartung nicht mehr wesentlich von gerinnungsgesunden Personen unterscheiden.


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Interessenkonflikte: Der Autor hat Kostenvergütungen für die Teilnahme an Symposien/Kongressen und/oder Honorare für Vorträge und/oder Honorare für Beratungen/Teilnahme an Advisory Boards, und/oder Forschungsunterstützungen erhalten von den Firmen Baxter, Bayer, Biogen Idec, Biotest, Chugai, CSL-Behring, Grifols, Novo Nordisk, Octapharma, Pfizer, Roche and Swedish Orphan Biovitrum.

  • Literatur

  • 1 Oldenburg J. Optimal treatment strategies for hemophilia: achievements and limitations of current prophylactic regimens. Blood 2015; 125: 2038-2044
  • 2 Oldenburg J. [Immune tolerance therapy for inhibitors in haemophilia A]. Hamostaseologie 2008; 28 (Suppl. 01) S23-S25
  • 3 Oldenburg J, Albert T. Novel products for haemostasis – current status. Haemophilia 2014; 20 (Suppl. 04) 23-28
  • 4 Shima M, Hanabusa H, Taki M et al. Factor VIII-Mimetic Function of Humanized Bispecific Antibody in Hemophilia A. N Engl J Med 2016; 374: 2044-2053
  • 5 Bleß HH, Schönfelder T, Talaschus A. [Rapid Report Hemophilia. Evidence in treatment of hemophilia from the IQWiGʼs perspective]. Hamostaseologie 2016; DOI: 10.5482/HAMO-16-02-0003.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Johannes Oldenburg
Direktor des Instituts für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin
Universitätsklinikum Bonn
Sigmund-Freud-Straße 25
53127 Bonn

  • Literatur

  • 1 Oldenburg J. Optimal treatment strategies for hemophilia: achievements and limitations of current prophylactic regimens. Blood 2015; 125: 2038-2044
  • 2 Oldenburg J. [Immune tolerance therapy for inhibitors in haemophilia A]. Hamostaseologie 2008; 28 (Suppl. 01) S23-S25
  • 3 Oldenburg J, Albert T. Novel products for haemostasis – current status. Haemophilia 2014; 20 (Suppl. 04) 23-28
  • 4 Shima M, Hanabusa H, Taki M et al. Factor VIII-Mimetic Function of Humanized Bispecific Antibody in Hemophilia A. N Engl J Med 2016; 374: 2044-2053
  • 5 Bleß HH, Schönfelder T, Talaschus A. [Rapid Report Hemophilia. Evidence in treatment of hemophilia from the IQWiGʼs perspective]. Hamostaseologie 2016; DOI: 10.5482/HAMO-16-02-0003.

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