Schlüsselwörter
Polytrauma - Terroranschlag - Explosionsverletzung - Schussverletzung - Massenanfall
von Verletzten - AWMF-Leitlinie
Abkürzungen
AAST:
American Association for the Surgery of Trauma
AIS:
Abbreviated Injury Score
ARDS:
Acute respiratory Distress Syndrome
ASSET:
Advanced Surgical Skills for Exposure in Trauma
ATLS:
Advanced Trauma Life Support
AUC:
Akademie der Unfallchirurgie
CAMIN:
Chirurgische Arbeitsgemeinschaft für Militär- und Notfallchirurgie
DCR:
Damage Control Resuscitation
DCS:
Damage Control Surgery
DGAV:
Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie
DGU:
Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie
DSTC:
Definitive Surgical Trauma Care
EKTC:
Arbeitsgemeinschaft Einsatz-, Katastrophen- und taktische Chirurgie der Deutschen
Gesellschaft für Unfallchirurgie
FAST:
Focused Assessment with Sonography for Trauma
GCS:
Glasgow Coma Scale
GoR:
Grade of Recommendation (Empfehlungsgrad)
IATSIC:
International Association for Trauma Surgery and Intensive Care
IED:
Improvised explosive Device
INR:
International Normalized Ratio
ISS:
Injury Severity Score
MANV:
Massenanfall von Verletzten
MASCAL:
Massenanfall von Verwundeten („Mass Casualty“)
PHTLS:
Prehospital Trauma Life Support
PTT:
Partial Thromboplastin Time
REBOA:
Resuscitative endovascular Balloon Occlusion of the Aorta
RR:
Blutdruck
SHT:
Schädel-Hirn-Trauma
TDSC:
Terror and Disaster Surgical Care
THW:
Technisches Hilfswerk
Einleitung
Seit der letzten Änderung der chirurgischen Weiterbildungsordnung vor mehr als 10
Jahren (2006) wurde die weiterführende Separierung in viszeral- und unfallchirurgische
Kompetenzen vor allem bei der interdisziplinären Polytraumaversorgung spürbar. So
ist mittlerweile, nicht zuletzt auch durch die Vorgaben der Deutschen Gesellschaft
für Unfallchirurgie (DGU) im Rahmen der Zertifizierung von Traumazentren, eine Schwerstverletztenversorgung
ohne den Teamansatz eines Unfallchirurgen mit einem Viszeralchirurgen in den meisten
Kliniken nicht mehr denkbar.
Merke
Der Viszeralchirurg muss sich seiner Verantwortung und der daraus erforderlichen Kompetenz
zur Behandlung von „Höhlenverletzungen“ bewusst sein, sich konsequent mit den aktuellen
Konzepten der Traumaversorgung auseinandersetzen und diese stetig weiterentwickeln.
Da die Rate der abdominellen Verletzungen bei Schwerstverletzten im TraumaRegister
der DGU [1] relativ konstant bei ca. 20% liegt, lässt sich leicht ableiten, dass die durchzuführenden
Notfalleingriffe bei durchschnittlich 50 – 150 Schwerstverletzten pro Jahr und Klinik
kaum adäquat im klinischen Alltag einer chirurgischen Abteilung ausbildbar sind. Die
gestiegene Bedrohung eines Terroranschlagtraumas, insbesondere in der Kombination
mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für Massenanfallsituationen, stellen aktuell
eine besondere Herausforderung dar.
Darauf reagierend, werden seit Jahren von den Fachgesellschaften Ausbildungsformate
zur Optimierung und Standardisierung der Schwerstverletztenversorgung von der Präklinik
über den Schockraum bis hin zur operativen und intensivmedizinischen Behandlung angeboten.
Neuerungen der 2016 aktualisierten S3-Leitlinie
Die zuletzt 2016 aktualisierte S3-Leitlinie zur Schwerstverletzten- bzw. Polytraumaversorgung
[2] gibt Anlass, sich aus Sicht des Allgemein- und Viszeralchirurgen, aber vor allem
mit den Neuerungen bzw. Modifikationen der Thematik auseinanderzusetzen. Neben der
Implementierung und Aktualisierung des aktuellen Kenntnisstandes von weit mehr als
400 Seiten Leitlinienempfehlungen ist es an uns Chirurgen in den Kliniken, diese auch
in der klinischen Praxis mit Leben zu erfüllen. Den über 600 Kliniken, die nach den
Vorgaben der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) als Traumazentren flächendeckend
in über 50 regionalen Netzwerken zertifiziert sind, obliegt hierbei die fachliche
Umsetzung.
In diesem Zusammenhang rücken zunehmend die unterschiedlichen Ursachen der Verletzungen
in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die Spannbreite der verschiedenen Verletzungsmuster
ist dabei sehr breit. Verkehrsunfälle führen, aufgrund standardisierter und erheblich
optimierter Sicherheitstechnik in den Fahrzeugen, inzwischen zu milderen Verletzungsmustern
bei den Insassen. Andererseits verschärft sich die Bedrohungslage, speziell durch
terroristische Anschläge, mit den jüngsten Ereignissen in Frankreich, Belgien, Deutschland
und der Türkei, derzeit stetig. Demzufolge müssen sich auch Allgemein- und Viszeralchirurgen
bei der Patientenversorgung mit Verletzungsmustern und Traumaentitäten auseinandersetzen,
die glücklicherweise über Jahrzehnte in Mitteleuropa kaum mehr präsent waren.
Merke
Penetrierende sowie thermomechanische Kombinationsverletzungen sind charakteristisch
für Terroranschläge und stellen insbesondere in der Situation des Massenanfalls von
Verletzten (MANV) bei einem Großschadensereignis eine enorme fachliche, logistische
und psychische Herausforderung dar.
Definition Polytrauma
Die ursprünglich von Tscherne [3] entwickelte Polytraumadefinition der „multiplen Verletzungen, von denen eine oder
deren Kombination lebensbedrohlich“ ist, hat in den letzten Jahren Modifikationen
und Weiterentwicklungen erfahren. Eine der aktuellsten Definitionen ist die „Berliner
Definition“ [4] (s. [Infobox]). Welche der Definitionen sich in den kommenden Jahren durchsetzen wird, bleibt
abzuwarten.
Definition
Berliner Definition Polytrauma
Epidemiologische Daten und Verletzungsmechanismen
Epidemiologische Daten und Verletzungsmechanismen
Die jährliche Auswertung und Veröffentlichung der Daten der im Traumanetzwerk organisierten
Kliniken erfolgt im TraumaRegister der DGU und gibt einen jährlich aktualisierten
detaillierten Überblick über die Situation und flächendeckende Behandlungsqualität
in Deutschland. Im aktualisierten 10-Jahres-Kollektiv (Stand 2016) lassen sich Durchschnittswerte
zu den verletzten Patienten, den Unfallmechanismen sowie zur Unfallart nachlesen.
Die Daten sind in [Tab. 1] zusammengefasst.
Hier wird die für Deutschland typische Verteilung der stumpfen (95%) und penetrierenden
Verletzungsmechanismen (5%) deutlich. Abdominelle Verletzungen wurden in 15% dokumentiert.
Cave
Abdominelle Verletzungen, die mit relevanten Blutungen einhergehen, haben jedoch ein
nachweislich hohes Mortalitätsrisiko.
So werden Letalitätsraten beim polytraumatisierten Patienten mit transfusionspflichtigen
Abdominaltraumata in Deutschland zwischen 16 und 32% beschrieben [5]. Das Wissen um ihre differenzierte und optimierte Versorgung ist daher von zentraler
Bedeutung [1].
Tab. 1 Epidemiologische Daten zu Schwerstverletzten in Deutschland (Daten des TraumaRegister
der DGU).
Kriterium
|
Jahresbericht 2016; Daten des TraumaRegister der DGU
|
Daten aus [1]
|
Primärversorgung
|
90% primär versorgt, 6% davon früh (innerhalb 48 h) weiterverlegt
|
Verlegung
|
9% zuverlegt innerhalb 24 h nach Unfall
1% zuverlegt später als 24 h
|
Durchschnittsalter
|
49 Jahre
|
Geschlecht
|
70,4% männlich
29,6% weiblich
|
Unfallmechanismus
|
96% stumpf
4% penetrierend
|
Unfallart
|
53% Verkehrsunfälle:
-
Auto (23,4%)
-
Motorrad (13,3%)
-
Fahrrad (9,1%)
-
Fußgänger (7,1%)
17% Sturz aus großer Höhe (> 3 m)
26% Sturz aus niedriger Höhe
7% andere (Suizide/Verbrechen)
|
Verletzung
|
48% Schädel-Hirn-Verletzungen (zuzüglich 11% Gesicht)
45% Thoraxverletzungen
15% Abdominalverletzungen
28% Wirbelsäulenverletzungen
13% Beckenverletzungen
55% Extremitätenverletzungen:
|
Outcome
|
12% Krankenhausletalität
23% Multiorganversagen
|
Operativer Ansatz – grundsätzliche Prinzipien
Operativer Ansatz – grundsätzliche Prinzipien
Grundsätzlich entscheiden der physiologische Zustand und das Verletzungsmuster des
Patienten über das zu präferierende Operationsverfahren beim Polytrauma. Auch wenn
die minimalinvasiven Ansätze in Form der Laparoskopie in der Hand des Geübten durchaus
abdominelle Verletzungen beherrschen können, ist es doch vielmehr die Physiologie
des Patienten, die über den operativen Ansatz bestimmt. Die aktuelle Datenlage lässt
beim Schwerstverletzten keine Empfehlung zum minimalinvasiven Ansatz zu.
Empfehlungen und Aktualisierungen der S3-Leitlinie
Empfehlungen und Aktualisierungen der S3-Leitlinie
Die Leitlinie unterteilt in ihren Empfehlungen die Behandlung des Schwerstverletzten
in folgende Phasen:
-
eine präklinische Phase (10 Kapitel),
-
Schockraumphase (18 Kapitel) und
-
erste OP-Phase (14 Kapitel).
Aktualisierungen der ursprünglichen Leitlinie von 2012 haben in den Bereichen Schockraum
(Hintergrundaktualisierung) und OP (Aktualisierung) stattgefunden.
Einleitend muss erwähnt werden, dass sich bei Schwerstverletzten die folgende Einteilung
etabliert hat:
-
„hämodynamisch stabiler Patient“,
-
nach Damage Control Resuscitation (DCR) „stabilisierbarer“ Patient oder
-
fortbestehend „instabiler“ bzw. „nicht stabilisierbarer“ Patient.
Dies ist insofern relevant, als es weichenstellend für die optionalen Therapiestrategien
ist.
Zur Erläuterung der Empfehlungsnomenklatur wird auf [Abb. 1] verwiesen.
Abb. 1 Ableitung der Empfehlungsgrade (GoR = Grade of Recommendation) aus der Evidenzqualiät.
Die Gesamtzahl der abdominellen Verletzungen bei polytraumatisierten Patienten beträgt
je nach aufnehmender Klinik zwischen 14 und 24%, bei den sogenannten relevanten bzw.
schweren Verletzungen (AIS ≥ 3) ist sie mit 10 – 12% geringer [1]. Die Kliniksterblichkeit liegt bei ca. 10 – 12%, wohingegen die Letalität bei Patienten
mit gleichzeitig bestehendem Abdominaltrauma stark ansteigt. Schwerstverletzte Patienten
mit relevantem Abdominaltrauma werden in ca. 8% in der Versorgungsstufe eines lokalen
Traumazentrums versorgt, der Anteil bei regionalen und überregionalen Traumazentren
nimmt auf 9 bzw. 10% zu.
Merke
Die diagnostische und operative Kompetenz hinsichtlich des Abdominaltraumas beim Schwerverletzten
ist demnach auch in Häusern der Grund- und Regelversorgung weiterhin äußerst relevant.
Schockraumdiagnostik
Im Rahmen der Schockraumdiagnostik wird auch in der aktuellen Leitlinie die klinische
Untersuchung des Abdomens mit dem Empfehlungsgrad A versehen, auch wenn eine unauffällige
Untersuchung relevante Verletzungen nicht ausschließen kann. Auch hinsichtlich der
Grad-B-Empfehlung, der wiederholten Anwendung des FAST (Focused Assessment with Sonography
for Trauma), hat sich in der Aktualisierung keine Änderung ergeben. Bei der eindeutigen
Empfehlung (A) für die Mehrschicht-Spiral-CT-Untersuchung ist es aufgrund hoher Sensitivität
und der höchsten Spezifität beim Abdominaltrauma geblieben.
Die bisherige Grad-B-Empfehlung, nach der bei nachweislicher freier intraabdomineller
Flüssigkeit und hämodynamisch persistierender Instabilität die unverzügliche Traumalaparotomie
durchzuführen ist, ist auch in der aktuellen Leitlinienfassung nicht verändert worden.
Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass auch andere Gründe für die hämodynamische
Instabilität vorliegen können.
REBOA-Verfahren
Die Grad-A-Empfehlung, bei Vorliegen einer Intimadissektion, Gefäßzerreißung, AV-Fistel,
eines Pseudoaneurysmas oder einer traumatischen Aortenruptur primär eine endovaskuläre
Therapie anzustreben, wurde ebenfalls beibehalten. Dagegen wurde das bisher zeitlich
begrenzt angegebene sog. REBOA-Verfahren (Resuscitative endovascular Balloon Occlusion
of the Aorta) als Ultima Ratio überarbeitet und stattdessen als jeweils individuelle
und als temporäre Verfahrensmöglichkeit (Grad 0) beschrieben.
REBOA ist eine Möglichkeit der Aortenokklusion, welche im Unterschied zum offenen
thorakalen oder infradiaphragmalen Aorten-Clamping endovaskulär und damit weniger
invasiv durchgeführt wird. Dazu wird über einen Cut down in der Leiste oder einen
perkutanen Zugang über die A. femoralis communis ein Gefäßzugang gewonnen, über den
ein Okklusionsballon eingebracht wird. Dieser wird in Abhängigkeit der Verletzung
in Zone 1 oder 3 (s. [Abb. 2]) temporär insuffliert, um die Exsanguation zu verzögern und eine Resuszitation mit
Erhöhung der zerebralen und myokardialen Perfusion zu ermöglichen und den Patienten
einer weiteren Versorgung zuführen zu können [6].
Abb. 2 Schematische Darstellung des REBOA-Verfahrens (REBOA=„resuscitative endovascular
balloon occlusion of the aorta“). Die Zone 1 der Aorta reicht dabei von der linken
A. subclavia bis zum Truncus coeliacus, die Zone 3 beginnt unterhalb der Nierenarterie
und endet an der Bifurkation der Aorta. Die Zone 2 liegt dazwischen.
Eine zu höherwertigen Empfehlungen ausreichende, evidenzbasierte Datenlage besteht
hierzu – genau wie zur offenen Notfallthorakotomie mit Aorten-Clamping – derzeit noch
nicht. Jedoch zeigen erste Kohortenstudien einen fraglichen Vorteil des REBOA-Manövers
gegenüber dem offenen Verfahren [7].
Abdominaltrauma
Mediane Laparotomie
Besteht Operationsindikation beim polytraumatisierten Patienten mit Abdominaltrauma,
gilt auch weiterhin die Grad-B-Empfehlung der medianen Laparotomie als Zugangsweg.
Klinische Studien legen Vorteile für einen kürzeren Gesamtzeitansatz [8], postoperativ geringeren Schmerzmittelverbrauch und eine geringere Narbenhernienrate
nahe [9]. Unabhängig von der Datenlage stellt die mediane Laparotomie durch die Linea alba
im zeitkritischen Notfalleingriff den adäquaten Zugang dar. Aufwendige Blutstillungen
bei der queren Durchtrennung der Muskulatur kosten wertvolle Zeit und bedeuten einen
zusätzlichen Blutverlust bei ohnehin schon kompromittierter Gerinnungssituation.
In der retrospektiven Aufarbeitung der potenziell überlebbaren Verletzungen aller
gefallenen US-Soldaten zwischen 2001 und 2012 wird deutlich, dass das potenzielle
Überleben der Schwerstverletzten von der Effizienz der Blutstillung in den großen
Körperhöhlen (Thorax und Abdomen) sowie im Bereich der stammnahen Gefäßübergänge abhängt
[27]. Periphere Blutungen der Extremitäten haben aufgrund der Renaissance des Tourniquets
an letaler Potenz verloren.
Merke
Dementsprechend liegt der Schlüssel zum initialen Überleben in der Effizienz der Kontrolle
akuter Blutungen in die Körperhöhlen und in den stammnahen Übergangsregionen (Axilla,
Leiste, Hals).
Damage Control Surgery (DCS)
Mit der Laparotomie muss frühzeitig die Entscheidung über die weitere operative Strategie
festgelegt werden. Bei komplexen intraabdominellen Verletzungen, relevantem Blutverlust
und insbesondere bei hämodynamischer Instabilität sollte nach Leitlinienaktualisierung
das Prinzip der Damage Control Surgery (DCS) angewandt werden.
Die DCS beinhaltet neben der Blutstillung das Packing und den temporären Bauchdeckenverschluss
in Form des – aktualisiert explizit genannten – Laparostomas. Diese Empfehlung beruht auf der Tatsache, dass sich mit dem Laparostoma das Auftreten
eines postoperativen abdominellen Kompartmentsyndroms bei schweren Schädigungen reduzieren
lässt. Die Empfehlung betrifft allerdings ausdrücklich die DCS-Verfahren bei Schwerstverletzten.
Merke
Ziel aller Damage-Control-Verfahren ist es, den letalen Kreis aus Hypothermie (< 34 °C),
Koagulopathie (INR > 1,6) und Azidose (pH-Wert < 7,2) zu durchbrechen. Auch ein Transfusionsbedarf
von über 4 l bzw. 10 Erythrozytenkonzentraten stellt eine Indikation dar [10].
Die Strategie der Damage Control Surgery (DCS) wird nur im Gesamtkonzept einer Damage
Control Resuscitation (DCR) aussichtsreich, in welcher die Unterstützung und Wiederherstellung
der Normothermie, bilanzierte Infusionen, die intensivierte Gerinnungsoptimierung
und nicht zuletzt Transfusionen die pathophysiologischen Werte korrigieren.
Praxis
Beispiel limitierter Versorgungsressourcen
Mobile Operationseinheit der Bundeswehr zur operativen Erstversorgung von Schwerstverletzten
unter Damage-Control-Bedingungen ([Abb. 3]). Im Fokus stehen dabei
-
das Stoppen lebensgefährlicher Blutungen, insbesondere in den Körperhöhlen Thorax
und Abdomen, dem Hals, den Axillen und Leisten nach DCS-Prinzipien sowie
-
die thorakale Entlastung durch Drainagen.
-
Weiteres Ziel ist die Kontrolle bzw. die Beendigung der abdominellen Kontamination
bei Hohlorganverletzungen.
Abb. 3 Mobile Operationseinheit der Bundeswehr zur operativen Erstversorgung von Schwerstverletzten
unter Damage-Control-Bedingungen.
Unter limitierten personellen und materiellen Ressourcen müssen die Primärziele des
Überlebens und der Kreislaufstabilisierung bis zur notwendigen Transportfähigkeit
erreicht werden.
Gemäß dem Konzept der DCS folgt auf die initiale Operation die Fortführung der DCR
mit dem Ziel der Korrektur der Pathophysiologie des Patienten auf der Intensivstation.
Bei angelegtem Laparostoma wird die sog. Second-Look-Relaparotomie nach aktueller Leitlinienmodifikation nicht vor 24 Stunden und nicht später als 72 Stunden nach dem Ersteingriff empfohlen. Die Begründung liegt im hohen Nachblutungsrisiko
bei Revision unter 24 Stunden sowie in der deutlich erhöhten Abszedierungsrate, falls
das initiale Packing über 72 Stunden hinaus verbleibt [11].
Neu aufgenommen wurde die Grad-B-Empfehlung, dass ein initial angelegtes Laparostoma so früh wie möglich wieder verschlossen werden sollte, da mit fortbestehendem Laparostoma die Komplikationsraten ansteigen
[12]. Eine evidenzbasierte Empfehlung zur optimalen Laparostomatechnik kann zum jetzigen
Zeitpunkt nicht getroffen werden, da die angewandten Techniken enorm variantenreich
sind und sich bisher aufgrund ihrer hohen Inhomogenität nicht evidenzbasiert vergleichen
ließen. Damit es zukünftig zu evidenzbasierten Empfehlungen kommen kann, wurde durch
die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) ein deutschland-
und europaweit offenes Laparostoma-Register implementiert.
Stumpfe Leber- und Milzverletzungen
Neu eingearbeitete Empfehlungen in der Leitlinie stärken die Vorgehensweise des nicht
operativen, konservativen Ansatzes bei stumpfen Leber- bzw. Milzverletzungen. So sollte
bei hämodynamisch stabilen Patienten mit isolierten Leber- oder Milzverletzungen ein
nicht operatives Management angestrebt werden. Dies beruht u. a. auf der seit Jahren
erfolgreichen Vorgehensweise bei kindlichen Organverletzungen, bei derdas nicht operative
Management etabliert ist.
Diese Empfehlung ist gemäß der aktuellen Datenlage an mehrere Bedingungen geknüpft.
Grundbedingung ist die hämodynamische Stabilität des Patienten mit dem Ansprechen
auf eine Volumentherapie. Hämodynamisch instabile Patienten, definiert durch einen
systolischen Blutdruck von < 90 mmHg, eine Herzfrequenz von > 120/min in Kombination
mit Vasokonstriktion, Kurzatmigkeit und vermindertem Bewusstsein [45 aus DCS], oder
nicht adäquat stabilisierbare Patienten werden operiert. Neben einer stabilen Hämodynamik
sollte das genaue Verletzungsausmaß und der CT-morphologische Ausschluss weiterer
Blutungsursachen erfolgt sein. Zudem müssen die Möglichkeit der intensivmedizinischen
Überwachung wie auch die unmittelbar mögliche Operation gewährleistet sein. In diesem
Zusammenhang ließ sich bereits nachweisen, dass die erfolgreiche Etablierung des DCR-Protokolls
eine Verbesserung der Erfolgsrate auch bei höhergradigen stumpfen Leberverletzungen
brachte [13].
Angioembolisation
Die deutschlandweite Möglichkeit der 24/7-Angioembolisation wird in einzelnen Kliniken,
in der Regel allerdings nur von großen Kliniken, bzw. gemäß den Zertifizierungsvorgaben
von überregionalen Traumazentren vorgehalten. Regionale Traumazentren verfügen zu
weniger als ⅕, lokale Traumazentren nur sporadisch über diese interventionell-radiologische
Behandlungsoption. Dadurch können die aktualisierten Empfehlungen gedanklich mit „sofern
durchführbar“ ergänzt werden. Hinsichtlich der Empfehlung zur Embolisation von arteriellen,
im CT durch Kontrastmittelaustritt nachweislichen Leberverletzungen wurde daher die
Ergänzung „wenn möglich“ eingefügt. Auch hier bleibt die hämodynamische Stabilisierbarkeit
Voraussetzung.
Für die therapiebedürftige Milzverletzung wird nach aktueller Leitlinie ebenfalls
unter den o. g. Bedingungen der Stabilisierbarkeit und der Verfügbarkeit eines interventionellen
Radiologen die Angioembolisation als der Operation gleichwertig beurteilt. Dies beruht
auf den mittlerweile vorliegenden Daten [14], welche der Angioembolisation auch bei höhergradigen Verletzungen positive Effekte
nachweisen.
Organerhaltende Operation der Milz und Splenektomie
Die bisherigen Empfehlungen zu operationspflichtigen Verletzungen der Milz wurden
ebenfalls modifiziert. So wurde zum einen die Grad-0-Empfehlung, eine erst- bis drittgradige
Milzverletzung organerhaltend zu operieren, auf eine Grad-B-Empfehlung hochgestuft.
Demnach sollte der Organerhalt angestrebt werden. Zum anderen wurde die Empfehlung,
höhergradige Milzverletzungen (Grad 4 und 5 AAST/Moore) bei Operationspflichtigkeit
zu splenektomieren, um die Angabe „erwachsene Patienten“ ergänzt bzw. modifiziert,
da bei Kindern ebenfalls der Milzerhalt im Vordergrund steht. Operationspflichtigkeit
impliziert hier zugleich die fehlende hämodynamische Stabilität oder Stabilisierbarkeit.
Penetrierende Kolonverletzung
Eine Modifikation erhielt auch die Grad-A-Empfehlung zu penetrierenden Kolonverletzungen.
Hier wird die „Übernähung oder Resektion“ zur Kontaminationskontrolle empfohlen. Angemerkt
werden muss hierbei, dass grundsätzlich zwischen einer Traumalaparotomie beim Schwerstverletzten
bzw. in der DCS-Strategie und der einzelnen penetrierenden Kolonverletzung unterschieden
werden muss. So sind in der DCS-Situation primäre Anastomosen nicht angezeigt und
stehen hinter der Blutungs- und Kontaminationskontrolle zurück.
Merke
Zusammengefasst stärkt die aktualisierte Leitlinie insbesondere die angioembolisierenden
Verfahren bei Leber- und Milzverletzungen im Rahmen des nicht operativen Ansatzes
auch beim Schwerstverletzten.
Grundvoraussetzungen sind neben der hämodynamischen Stabilität bzw. Stabilisierbarkeit
auch die Möglichkeit zur angiologischen Intervention. Sie enthält zudem Modifikationen
und neue Empfehlungen zur DCS des Abdomens und zum temporären Bauchdeckenverschluss.
Eine Übersicht der Schlüsselempfehlungen zeigt [Tab. 2].
Tab. 2 Schlüsselempfehlungen der S3-Leitlinie Polytrauma; hier: Abdominaltrauma.
operative Maßnahme
|
Modifikation
|
Anmerkungen
|
Empfehlung der S3-Leitlinie Polytrauma
|
AAST = American Association for the Surgery of Trauma; DC = Damage Control; GoR = Grade
of Recommendation
|
Zugangsweg Trauma
|
modifiziert 2016
|
In der Traumasituation sollte die Medianlaparotomie gegenüber anderen Zugangswegen
bevorzugt werden.
|
GoR B
|
DC Abdomen
|
modifiziert 2016
|
Bei kreislaufinstabilen Patienten mit komplexen intraabdominellen Schäden sollte dem
Damage-Control-Prinzip (Blutstillung, Packing, temporärer Bauchdeckenverschluss/Laparostoma)
gegenüber dem Versuch einer definitiven Sanierung Vorrang gegeben werden.
|
GoR B
|
DC temporärer Bauchdeckenverschluss
|
modifiziert 2016
|
Nach Damage-Control-Laparotomie sollte das Abdomen nur temporär und nicht mittels
Fasziennaht verschlossen werden.
|
GoR B
|
DC Second Look/Packing
|
modifiziert 2016
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Nach Packing intraabdomineller Blutungen sollte die Second-Look-Operation zwischen
24 und 72 Stunden nach dem Ersteingriff erfolgen.
|
GoR B
|
definitiver Bauchdeckenverschluss
|
neu 2016
|
Wenn ein Laparostoma angelegt wurde, sollte ein definitiver Verschluss so früh wie
möglich angestrebt werden.
|
GoR B
|
nicht operatives Management
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neu 2016
|
Beim hämodynamisch stabilen Patienten mit isolierter stumpfer Leber- oder Milzverletzung
sollte ein nicht operatives Management angestrebt werden.
|
GoR B
|
Angioembolisation
|
modifiziert 2016
|
Wenn bei einem hämodynamisch stabilisierbaren Patienten mit Leberverletzung in einer
Kontrastmittel-CT ein Hinweis auf eine arterielle Blutung besteht, sollte, wenn möglich,
eine selektive Angioembolisation durchgeführt werden oder eine Laparotomie erfolgen.
|
GoR B
|
modifiziert 2016
|
Bei interventionspflichtigen Milzverletzungen sollte beim kreislaufstabilisierbaren
Patienten statt einer operativen Blutstillung eine selektive Angioembolisation erfolgen.
|
GoR B
|
milzerhaltende Operation
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modifiziert 2016
|
Eine milzerhaltende Operation sollte bei operationspflichtigen Milzverletzungen der
Schweregrade 1 – 3 nach AAST/Moore angestrebt werden.
|
GoR B
|
modifiziert 2016
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Bei erwachsenen Patienten mit operationspflichtigen Milzverletzungen der Schweregrade
4 – 5 nach AAST/Moore sollte die Splenektomie gegenüber einem Erhaltungsversuch bevorzugt
werden.
|
GoR B
|
penetrierende Hohlorganverletzungen
|
modifiziert 2016
|
Penetrierende Kolonverletzungen sollen durch Übernähung oder Resektion kontrolliert
werden, um das Risiko für intraabdominelle Infektionen zu reduzieren.
|
GoR A
|
Besondere Situationen und Verletzungsmechanismen
Besondere Situationen und Verletzungsmechanismen
Penetrierende sowie thermomechanische Kombinationsverletzungen sind charakteristisch
für Terroranschläge. Sie stellen ebenso wie das Auftreten eines „Massenanfalls von
Verletzten“ (MANV) eine enorme fachliche, logistische und psychische Herausforderung
für alle Beteiligten dar. Spätestens seit den Anschlägen vom November 2015 in Paris
sind Situationen und Verletzungsmuster, die wir bislang hauptsächlich aus Kriegs-
und Krisengebieten kannten, in europäischen Großstädten angekommen. Durch Bombenexplosionen
mit Druck- („blast“) und Splitterverletzungen sowie durch direkten Beschuss wurden
129 Menschen unmittelbar getötet und mehr als 300 verletzt.
Solche MANV-Szenarien erfordern in der Initialphase häufig die Abkehr von der Individualmedizin
mit einer unmittelbaren operativen Komplettversorgung der Opfer („early total care“)
hin zur Entscheidung zur DCS, um die Chancen des Überlebens möglichst vieler Opfer
zu erhöhen.
Begriffsbestimmung
Die Begriffsdefinitionen für den Massenanfall von Verletzten (MANV), Massenanfall
von Verwundeten (MASCAL), Großschadensereignis und Katastrophenfall werden in [Tab. 3] erläutert.
Tab. 3 Definitionen: MANV, MASCAL, Großschadensereignis, Katastrophenfall.
Begriff
|
Definition
|
MANV
|
Massenanfall von Verletzten (MANV) (DIN 13050)
„Notfall mit größerer Anzahl von Verletzten oder Erkrankten sowie anderen Geschädigten,
der präklinisch mit der vorhandenen und einsetzbaren Vorhaltung des Rettungsdienstes
aus dem Rettungsdienstbereich versorgt werden kann“
|
MASCAL
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Massenanfall von Verwundeten („mass casualty“)
international und militärisch gebräuchliche Bezeichnung
|
Großschadensereignis
|
Ereignis, das mit so vielen Verletzten oder so vielen Schwerverletzten verbunden ist,
dass die regionalen Ressourcen nicht mehr ausreichen
|
Katastrophenfall
|
über das Großschadensereignis hinaus in wesentlichem Umfang zerstörte oder geschädigte
lokale Infrastruktur [15]
|
Aktuelle Empfehlungen zum Vorgehen bei Großschadensereignissen
Die aktualisierte S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletztenbehandlung [2] (Kap. 10.1: MANV) geht bereits auf die besondere Form des terroristischen Anschlags
als Großschadensereignis ein.
Cave
Terroranschläge unterscheiden sich hinsichtlich der Verletzungsmuster, aber auch der
zeitlichen Entwicklung (mehrere Anschlagsorte zu unterschiedlichen Zeiten) und der
potenziell fortbestehenden Bedrohung, auch des Rettungspersonals, erheblich von anderen
Ereignissen im taktisch-strategischen Vorgehen und der notwendigen medizinischen Behandlung.
Konzepte für die Bewältigung eines MANV sollten deshalb neben den „klassischen“ Verletzungsmustern
im Sinne von stumpfen Verletzungen im Hinblick auf mögliche Terroranschläge auch penetrierende
Verletzungen, Schusswaffenverletzungen und spezifische Verletzungen durch unkonventionelle
Spreng- und Brandvorrichtungen beinhalten. Diese multidimensionalen Verletzungen stellen
qualitativ eine besondere medizinische Herausforderung dar, da in Deutschland hierzu
eine geringere Expertise besteht.
Für die präklinischen Handlungs-, Sichtungs- und Transportprozesse werden in Deutschland
durch die Länder und Kommunen entsprechend angepasste Notfallpläne bereitgehalten,
in welchen die genauen Rollen der Rettungs- und Sicherheitskräfte (Polizei, Feuerwehr,
THW und Rettungsdienste) sowie die Führungsstrukturen verankert sind. Diese Pläne
sind abstimmt auf Art und Umfang des jeweiligen Schadensereignisses.
Auch im Bereich der Allgemein- und Viszeralchirurgie sollte besonderes Augenmerk auf
der Regelung innerklinischer Abläufe bei Großschadenereignissen gerichtet werden.
Demnach ist jedes Krankenhaus verpflichtet, im Fall einer MANV-Situation Notfallpläne
vorzuhalten (s. [Infobox „Prinzipien“]).
Prinzipien
§ 22 Landesgesetz (Rheinland-Pfalz) – Brandschutz, allgemeine Hilfe und Katastrophenschutz
-
Benachbarte Krankenhäuser haben sich gegenseitig zu unterstützen.
-
Träger sind verpflichtet, für ihre Krankenhäuser Alarm- und Einsatzpläne aufzustellen
und Übungen durchzuführen.
-
Unterstützungsmöglichkeiten durch die niedergelassenen Ärzte und Hilfsorganisationen
sind zu berücksichtigen.
-
Pläne enthalten auch Maßnahmen zur Schaffung notfallbedingter Behandlungskapazitäten
innerhalb des Krankenhausbereiches.
Die wichtigsten Punkte dieser Pläne sind:
-
Alarmierungsverfahren für das medizinische Personal,
-
die jeweiligen Kompetenz- und Verantwortungsbereiche des eingesetzten Personals,
-
die räumliche Zuordnung von Sichtungs- und Triage-Plätzen sowie
-
die Steuerung des Patientenflusses in der eigenen Behandlungseinrichtung.
Dabei sind regelmäßige Übungen erforderlich, um die Handlungssicherheit der Mitarbeiter
zu erhöhen.
Uneinheitlich sind nach wie vor internationale und nationale Sichtungskonzepte. Evidenzbasiert
bzw. wissenschaftlich belegbar existiert derzeit kein überlegenes Sichtungskonzept;
ebenso ist keines der verschiedenen Konzepte flächendeckend implementiert [16]. So ist es unerlässlich, dass die Mitarbeiter der Klinik mit ihrem jeweils lokal
etablierten Sichtungskonzept vertraut sind.
Außerdem sollte während der Sichtung eine konsequente und andauernde Reevaluation
aller Verletzten erfolgen, um die Rate der Unter- bzw. Übertriagierung zu minimieren.
Insbesondere die Übertriage, also die fälschlicherweise als zu schwer beurteilte Verletzung,
vermag die Gesamtletalität zu erhöhen. Ressourcen werden dann verbraucht, die für
später eintreffende, dann aber zeitkritisch zu versorgende Patenten nicht mehr zur
Verfügung stehen.
Merke
Ziel jeglicher Sichtung bzw. Triage muss es sein, das größtmögliche Gesamtüberleben
zu erreichen, damit – nach Klärung der Gefahrenlage – möglichst schnell wieder zur
regulären Individualbehandlung zurückgekehrt werden kann.
Besondere Verletzungsmechanismen
Besondere Verletzungsmechanismen
Explosionsverletzungen
Eine Explosion, beispielsweise bei Bombendetonation, führt potenziell zu 4 verschiedenen
Verletzungsfolgen. Diese Effekte wurden bereits 1942 von S. Zuckerman im Lancet publiziert
[17].
Die verletzende Wirkung von Explosionen nimmt auf freier Fläche exponentiell mit der
räumlichen Distanz zum Ort der Explosion ab. Bei Detonationen innerhalb geschlossener
Räume können Detonationswellen kommunizieren bzw. sich überlagern und sich in ihrer
Wirkung potenzieren. Liegt die Häufigkeit von relevanten Explosionsverletzungen auf
freien Flächen bei 34%, steigt sie in geschlossenen Räumen oder Fahrzeugen auf 78%
an [18].
Die aktuell umfassendste veröffentlichte Analyse von fast 60 000 terroristischen Bombenanschlägen
zwischen 1970 und 2014 aus der „Global Terrorism Database“ weist in 5,1% Selbstmordattentate
nach. 13,2% der Anschläge ereigneten sich in Europa. Durchschnittlich resultierten
32 Tote und 180 Verletzte aus jedem terroristischen Ereignis [19].
Verletzungsmechanismus und Einteilung
Formen der verschiedenen Explosionsverletzungen werden in [Tab. 4] dargestellt.
Tab. 4 Einteilung der Explosionsverletzungen.
Art der Explosionsverletzung
|
grafische Darstellung
|
Kennzeichen
|
primäre Explosionsverletzungen
|

|
exponentieller, sofortiger Luftdruckanstieg
Weiterleitung als Druckwellen
Druckwelleneffekt als stumpfes Trauma auf den menschlichen Körper
Trommelfellperforation
Lungenschädigung:
primäre oder sekundär kontusionsbedingt verzögerte Hohlorganperforationen, insbesondere
des unteren Gastrointestinaltraktes
|
sekundäre Explosionsverletzungen
|

|
penetrierende Verletzungen durch beschleunigte Festkörper:
-
Ummantelung der Bombe
-
Metall, Splitter
-
Knochenfragmente etc.
terroristische Bomben: sog. improvised explosive Devices (IED) mit zusätzlichen Metallfragmenten
(z. B. Schrauben, Nägeln, Kugeln)
Cave: Penetrierende Verletzungen sind die häufigste Todesursache von terroristischen Bombenopfern.
|
tertiäre Explosionsverletzungen
|

|
Druck- und nachfolgende Sogphase („blast“)
Personen im Wirkungsbereich werden durch Akzelerations-Dezelerations-Mechanismus gegen
solide Hindernisse geschleudert.
Stumpfe und penetrierende Verletzungen, SHT, Thorax, Abdomen, Frakturen, Amputationen
Einsturz von Gebäuden, Herumwirbeln von Gegenständen und Fragmenten durch Explosionswind
|
quartäre Explosionsverletzungen
|

|
thermale oder chemische Verbrennungen
Cave: Je nach Sprengsatz, Energieeinleitung und Umsetzung des jeweiligen Sprengstoffs können
enorme Hitze- und Rauchentwicklungen resultieren.
|
sonstige Explosionsverletzungen
|
|
„dirty bombs“ mit toxischen Substanzen
virale oder bakterielle Infektionen durch Einsprengung von Körperteilen
psychische Störungen (posttraumatische Belastungsstörung)
|
Therapeutische Grundsätze
Die Therapie der Überlebenden mit thermomechanischer Kombinationsverletzung nach Explosion
unterscheidet sich zunächst nicht vom Notfallmanagement des polytraumatisierten Verletzten.
-
Präklinisch hat sich hierbei das Vorgehen nach PHTLS, klinisch nach ATLS bewährt.
-
Bei einem in diesem Szenario wahrscheinlichen MANV sind die Prinzipien der Sichtung
mit dynamischer Anpassung essenziell.
-
In der Traumaversorgung besteht der Grundsatz „treat first what kills first“.
-
Bei penetrierenden Verletzungen infolge von Schusswaffengebrauch und Explosionen kann
nur die sofortige Stillung lebensbedrohlicher Blutungen eine noch höhere Priorität
besitzen.
Merke
An allererster Stelle steht die Blutstillung.
Dies kann im Falle eines MANV die proximale Anlage von Tourniquets bei Extremitätenverletzungen
erforderlich machen, beim Verdacht auf Beckenverletzungen ist ein Beckengurt oder
eine improvisierte Beckenschlinge („pelvic sheeting“) unabdingbar.
-
Neben einem sicheren Atemweg muss die Oxygenierung gesichert sein. Um dabei einen
suffizienten Kreislauf aufrechtzuerhalten, sind nicht selten Entlastungspunktionen
oder das Legen von Thoraxdrainagen nötig.
-
Neben diesen Maßnahmen sind natürlich eine Tetanusprophylaxe und eine primäre Breitspektrumantibiotikagabe
obligat, welche im Verlauf gezielt angepasst werden muss.
-
Im Rahmen der ersten klinischen Versorgung haben Blutungen in die Körperhöhlen und
Perforationen intraabdomineller Hohlorgane, schwere operativ behandlungsbedürftige
Schädel-Hirn-Traumata, Verletzungen von Becken und langen Röhrenknochen sowie Wirbelsäulenverletzungen
immer Behandlungspriorität vor Verbrennungen.
Die erste operative Behandlung erfolgt demnach bei unmittelbar explosionsverletzten
Patienten im Sinne der DCR und DCS.
Praxis
Prinzip Damage Control Resuscitation (DCR) und Damage Control Surgery (DCS)
Im Behandlungsfokus steht parallel zur
also die physiologische Restabilisierung
Die permissive Hypotension ist ebenfalls Bestandteil der DCR. Als zusätzliche Option
stehen heute bei Verfügbarkeit und den u. g. Voraussetzungen unterstützend radiologisch
interventionelle Verfahren zur Verfügung. Voraussetzung ist – wie auch zuvor in der
Leitlinie beschrieben – die hämodynamische Stabilisierbarkeit des Patienten. In der
Minimierung des therapeutischen Traumas positionieren sich grundsätzlich auch radiologische
mikroangioembolische Verfahren, auch beim Abdominaltrauma. Ihre Rolle beim Explosionsverletzten
ist derzeit allerdings eher als gering einzuschätzen.
Indikation zur Notfalllaparotomie sind auch bei Explosions- wie auch Schussverletzen
Eine Peritonitis kann typischerweise auftreten, da sekundäre Hohlorganperforationen
zu den typischen Folgen des Barotraumas nach Explosionen zählen.
Nach medianer Laparotomie liegt der Schlüssel zur suffizienten Exploration des Abdomens
in der Eviszeration des gesamten Dünndarms an die Abdominalwand und dem nachfolgenden
systematischen Packing aller Quadranten mit je 2 – 3 Bauchtüchern. Die Exploration
kann dann nach Absaugen des Blutes erfolgen. Retroperitoneale Verletzungen können
rechtsrotierend durch das sog. Manöver nach Cattell-Braasch (rechtsseitige Mobilisation
und Lösung von Duodenum und rechtem Hemikolon) dargestellt und behandelt werden. Die
En-bloc-Mobilisation des linken Kolons, des Pankreasschwanzes und der Milz ermöglicht
die Exploration des Retroperitoneums und der zentralen Gefäßzugänge von der Gegenseite
aus (sog. Mattox-Manöver).
Grundsätzlich wird die venöse Blutstillung durch Ligatur oder Packing und die arterielle
Blutstillung durch Ligatur, Nähte oder Shuntverfahren erreicht.
Durch Resektion und Blindverschluss wird die effektivste Kontaminationskontrolle erreicht.
Die Spülung des Abdomens mit gewärmter Kochsalzlösung und die Anlage eines Laparostomas
beenden den Initialeingriff.
Die weitere operative Versorgung mit dem Second-Look-Eingriff, der Entfernung des
Packings, einer anatomiegerechten Rekonstruktion oder Stomaanlage erfolgt frühestens
24 und spätestens 72 Stunden nach der intensivmedizinischen Optimierung und Stabilisierung.
Nach dieser Behandlungsphase sollte so früh wie möglich der Verschluss des Laparostomas
angestrebt werden. In [Tab. 5] sind operative abdominelle Verfahren bei DCS- und optionale Behandlungen, sofern
keine DCS-Indikation vorliegt, aufgelistet.
Merke
Operationszeit bei Damage Control Surgery: 60 bis maximal 90 Minuten.
Tab. 5 Optionale abdominelle Operationstechniken mit und ohne DCS-Indikation.
Verletzung
|
Maßnahme DCS-Indikation
|
Maßnahme ohne DCS-Indikation
|
DCS = Damage Control Surgery; NOM = nicht operatives Management; REBOA = Resuscitative
endovascular Balloon Occlusion of the Aorta
|
Massenblutung
|
aortales Klemmen
REBOA-Verfahren
|
–
|
Blutungen großer Gefäße
|
Ligatur/Bypass
REBOA-Verfahren
|
–
|
Milzverletzung
|
Splenektomie
|
Milzerhalt
interventionelle Angioembolisation
NOM
|
Leberparenchymverletzung
|
venös:
-
Mobilisation
-
Packing
-
Kompression
-
PEEP-Reduktion
-
Ligatur
arteriell:
-
Mobilisation
-
Pringle-Manöver
-
Ligaturen
-
Ballonsondenokklusion
|
venös:
arteriell:
|
Darmläsionen
|
Stapler-Verschluss
Stoma
keine Anastomosen
Spülung
|
Naht
Anastomose
ggf. mit protektivem Stoma
|
arterielle Gefäßverletzungen
|
Shunt
|
Rekonstruktion
|
venöse Gefäßverletzungen
|
Ligatur
|
NOM
Rekonstruktion bei Venen ab Durchmesser der V. poplitea
ggf. Ligatur
|
Harnblasenverletzung
|
Katheter/Drainage
|
Katheter/Drainage
intraperitoneal Rekonstruktion
|
Pankreasverletzung
|
Packing
bei Hauptgangverletzung Drainage
|
Drainage
Resektion/Rekonstruktion
|
Peritonealkontamination
|
Lavage
Laparostoma
|
Lavage
ggf. Verschluss
|
abdominelles Kompartment
|
Laparostoma
|
Laparostoma
|
viszerale Schwellung
|
Laparostoma
|
Laparostoma
|
|
Operationszeit: 60 bis maximal 90 Minuten
|
|
Unter Umständen kann das definitive Ausmaß der eigentlichen Schädigung (Minderperfusion)
bei schweren Schuss- und Explosionsverletzungen im ersten Eingriff kaum abgeschätzt
werden. Hier gibt das Laparostoma mit geplanter Reexploration und sekundärem Verschluss
die höchstmögliche Sicherheit. „On-Demand-Verfahren“ bringen den Patienten aufgrund
seiner massiv beeinträchtigten Physiologie in Gefahr.
Die Faszienretraktion mit der Unmöglichkeit des verzögerten Verschlusses und die Ausbildung
von Darmfisteln waren bis dato die relevantesten Komplikationen des Laparostomas.
Ein standardisiertes Management und die algorithmusbasierte Therapie haben nachweislich
zur Verbesserung der Faszienverschlussraten und auch zur Reduktion der enteroatmosphärischen
bzw. enterokutanen Fisteln geführt („Koblenzer Algorithmus“) [20]. Der Algorithmus basiert auf einem initialen, vakuumassistierten Bauchdeckenverschluss,
in den spätestens beim Second-Look-Eingriff in die Faszienränder ein Vicrylnetz eingenäht
wird, um die Retraktion der Faszie zu verhindern und sie im Verlauf aktiv anzunähern.
Der darunter gelegene Darm wird durch ein Folien-Schwamm-System vollständig geschützt.
Das eingenähte Netz wird im Rahmen jeder Nachschau eröffnet und im Anschluss an die
Lavage und den Vakuumsystemwechsel konstant faszienapproximierend verschlossen.
Besonderheit Schussverletzungen
Bei den aktuellen Terroranschlägen wurden neben Sprengsätzen vermehrt Schusswaffen,
und hier zunehmend auch militärische Sturmgewehre eingesetzt. Wie aufwendig – langwierig
beeinträchtigend! – die Versorgung von Schussverletzungen sein kann, zeigt das Fallbeispiel
links unten.
Fallbeispiel
Schussverletzung – Primärversorgung
Der 24-jährige Soldat hatte im Einsatz einen thorakoabdominellen Durchschuss erlitten.
Das Hochrasanzprojektil trat im Bereich des linken Thorax ein und im rechten Mittelbauch
aus.
Die Primärversorgung bestand in der Anlage von Thoraxdrainagen und einer Damage-Control-Laparotomie
(Splenektomie, Kolonsegmentresektion mit Aszendostoma, Magen- und Zwerchfellnaht,
Laparostomaanlage) ([Abb. 4]).
Abb. 4 Primärversorgung nach thorakoabdominellem Durchschuss: Anlage von Thoraxdrainagen
und Damage-Control-Laparotomie mit Laparostomaanlage.
Verletzungsmechanismus
Das Ausmaß der Gewebezerstörung und insbesondere der Effekt der temporären Kavitation
hängt, neben dem tatsächlichen Energietransfer, auch von der Dichte und Elastizität
des getroffenen Gewebes ab. Während sich beispielsweise Lungengewebe – in gewissem
Umfang auch Muskulatur – aufgrund relativ elastischer Gewebeeigenschaften der Deformation
ohne größeren Schaden anpassen kann, kommt es bei den parenchymatösen Bauchorganen
(Leber, Milz, Niere) ebenso wie bei den Wandstrukturen der gastrointestinalen Hohlorgane
meist zu Zerreißungen, auch abseits des eigentlichen Geschossweges.
Das Projektil bewirkt einerseits eine direkte Gewebezerreißung, andererseits verursacht
der sog. Kavitationseffekt beim Durchtritt durch den Körper eine Druckschädigung des
Gewebes. Hierbei entstehen bei sog. Hochgeschwindigkeitsgeschossen eine um ein Mehrfaches
größere temporäre Wundhöhle und ein darin gelegener permanenter Wundkanal bzw. eine
permanente Wundhöhle [22].
Kurzwaffengeschosse (Pistole) und Langwaffengeschosse unterscheiden sich grundlegend
in der Art des erzeugbaren Schusskanals. Aufgrund der vergleichsweise geringeren Energieabgabe
tritt bei Vollmantelgeschossen aus Kurzwaffen die Bedeutung der Höhlenbildung zurück.
Das Ausmaß der Gewebeschädigung wird vielmehr von der Eindringtiefe und den Eigenschaften
des Ziels beeinflusst. Da Langwaffengeschosse eine größere Mündungsgeschwindigkeit
aufweisen („high velocity“), spielen die oben beschriebenen Gewebedruckphänomene der
temporären Wundhöhle (Kavitation) hier eine weitaus größere Rolle [23].
Diagnostische und therapeutische Grundsätze
Praxistipp
Die präklinische Verwendung von Tourniquets hilft, vital bedrohliches Verbluten zu
vermeiden, sodass auch Patienten mit komplexeren Schussverletzungen die Behandlungseinrichtungen
lebend erreichen können [21].
Eine Übersicht über die Grundsätze der Diagnostik und Therapie von Schussverletzungen
zeigt die [Infobox].
Praxis
Grundsätze in der Diagnostik und Therapie von Schussverletzungen
Diagnostik
-
Genaue Inspektion des ganzen Körpers (Eintritts- oder Austrittswunden können übersehen
werden).
-
Verzicht auf aufwendige Diagnostik, da Schussverletzungen operativ exploriert werden.
-
Extremitätenpulse/Doppler (15% Gefäßbeteiligung bei Schussverletzung der Extremitäten).
-
Bei hämodynamisch stabilen oder stabilisierbaren Patienten ggf. CT-Diagnostik – Cave:
übersehene Hohlorganverletzungen!
Initiale Chirurgie
-
DCS (Blutungs- und Kontaminationskontrolle).
-
Débridement, Exzision von Ein- und Ausschuss und Drainage.
-
Keine Wundverschlüsse.
-
Lavage und Vermeidung sekundärer Kontamination.
-
Stabilisierung von Extremitäten und Fasziotomie.
-
Gefäßrekonstruktion.
-
Ggf. Überbrückung mittels temporärem Shunt.
Abdominelle Schussverletzungen
-
Gelten bis zum Beweis des Gegenteils als lebensbedrohlich.
-
Initial letal durch Verbluten, sekundär durch Peritonitis infolge von Hohlorganperforationen.
-
Abdominelle Schussverletzungen werden explorativ laparotomiert.
Darmläsionen:
-
Exzision, primäre Naht (Geschosse mit geringer Energieabgabe, Kurzwaffen).
-
Resektion und Anastomose (Geschosse mit hohem Energietransfer, Langwaffen), im Zweifel
protektives Stoma.
-
DCS-Situation: Resektion, Blindverschluss, sekundäre Rekonstruktion nach 24 – 48 Stunden
oder Stomaanlage
Bauchdecke:
Gefäßverletzungen:
Weichteilverletzungen
-
Exzision Ein- und Ausschussbereich, Débridement/Spülung des Schusskanals.
-
Fremdkörper werden:
-
grundsätzlich belassen;
-
entfernt, sofern sie in der Explorationsebene liegen und dies ohne zusätzlichen Gewebeschaden
möglich ist;
-
entfernt, sofern sie in unmittelbarer Nähe zu kritischen Strukturen liegen (Gefäß-,
Nervenstrukturen, synoviale Gelenke oder liquorführende Strukturen) [24].
-
Nekrotisches Gewebe muss abgetragen werden.
-
Entfernung von Projektilen situationsgerecht und adaptiert an Anatomie und Funktion.
-
Molekulares Blei ist inert und verursacht keine weitere Gewebeschädigung (spätere
serologische Verlaufskontrollen).
-
Einzig Projektile/Fragmente, die mit Liquor oder Synovialflüssigkeit in Kontakt kommen,
sollten (auch im Sekundäreingriff) obligat entfernt werden, da sie toxische Metabolite
bilden können [24].
-
Prinzipiell:
-
offene Wundbehandlung,
-
Drainage,
-
Second Look (48 h),
-
serielles Débridement,
-
ggf. Vakuumtherapie.
Fallbeispiel
Komplikationen
Bei karnifizierender Pneumonie mit septischem Verlauf wurde die Resektion des durchschossenen
linken Lungenunterlappens notwendig. Das Laparostoma war bei Peritonitis und drohendem
Kompartmentsyndrom nicht frühzeitig verschließbar ([Abb. 5]).
Abb. 5 Im Verlauf Pneumonie mit septischem Geschehen.
a Peritonitis, nach wie vor liegendes Laparostoma.
b Makroskopie des linken Lungenunterlappens mit Maßstab.
c Makroskopie des linken Lungenunterlappens.
Ausbildung in Deutschland
Ausbildung in Deutschland
Das Verletzungsmuster schwerstverletzter Patienten ist äußerst komplex. Ihre Therapie
stellt im Grunde sehr individuelle Ansprüche und erfordert vor allem eine optimale
Einschätzung durch das behandelnde Team. Tatsächlich aber stehen die präklinische
und die erste klinische Versorgung im Schockraum bzw. im Operationssaal unter enormem
Zeitdruck. Zum einen soll jede weitere Schädigung verhindert werden, zum anderen müssen
alle lebensbedrohlichen Verletzungen in ihrem Potenzial erkannt und in der richtigen
Reihenfolge behandelt werden. Dementsprechend sind trotz des individuellen Anspruchs
standardisierte Therapiealgorithmen und grundsätzliche Behandlungsempfehlungen unerlässlich.
Für die Schwerstverletztenversorgung haben die Fachgesellschaften mit der S3-Leitlinie
Polytrauma den soweit möglich evidenzbasierten Konsens 2011 aufgestellt und 2016 aktualisiert.
Anhand der Empfehlungen wird allzu oft deutlich, dass es häufig an erstgradiger Evidenz
mangelt und lediglich die Empfehlungsgraduierung B resultieren kann. Dies liegt vor
allem an der Heterogenität der zu vergleichenden Gruppen und an der Tatsache, dass
durch die komplexen Verletzungsmuster häufig derart viele Variablen miteinander kombiniert
werden, dass in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen klare Aussagen auf dem erforderlichen
Niveau einer S3-Leitlinie nur selten abzuleiten sind.
Das Konzept der DCS setzt sich zunehmend in Deutschland durch. So konnten Brodauf
et al. [25] in einer Umfrage von immerhin über 200 zumeist unfallchirurgischen Kliniken in Deutschland
herausarbeiten, dass etwa die Hälfte der befragten viszeralchirurgischen Kliniken
die DCS anwenden. Naturgemäß nimmt die Verwendung des Konzeptes von überregionalen
Traumazentren bis hin zu Kliniken der Grundversorgung nachvollziehbarerweise deutlich
ab [25]. Diese Abnahme liegt darin begründet, dass die DCS an sich bereits ein Reserveverfahren
darstellt, welches bei adäquatem Einsatz selbst beim Polytrauma nur sehr selten zum
Einsatz kommt. Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit der Anwendung mit der Zahl der
jährlich behandelten Schwerverletzten.
In der o. g. Umfrage fällt aber noch ein weiterer Punkt ins Auge: die Frage, ob die
Änderung der Weiterbildungsordnung von 2006 mittlerweile spürbaren Einfluss auf die
Notfallversorgung genommen hat. Immerhin sind hier die Hälfte der unfallchirurgischen
Kolleginnen und Kollegen, ein Drittel der viszeralchirurgischen Kollegen und ein Viertel
der allgemeinchirurgischen Kollegen der Meinung, dass es durchaus Beeinflussungen
gibt. Rund 40% der Fachärzte für Allgemeine Chirurgie und jeweils etwa ein Viertel
der Viszeral- und Unfallchirurgen sind der Meinung, dass es auch zu einer Verschlechterung
der Versorgungsqualität gekommen sei.
Merke
Vor diesem Hintergrund erscheinen entsprechende Fort- und Weiterbildungen bzw. das
Beibehalten insbesondere der viszeralen Notfallkompetenzen essenziell.
Um diesem Bedarf gerecht zu werden, haben sich über die Fachgesellschaften, insbesondere
der DGAV und DGU, mittlerweile verschiedene Ausbildungsformate etabliert.
Advanced Trauma Life Support – ATLS
Als eines der erfolgreichsten Ausbildungskonzepte für Schockraumversorgung in der
Klinik gilt das vom American College of Surgeons entwickelte und in Deutschland über
die Akademie der Unfallchirurgie (AUC) angebotene ATLS-Kursformat. In einem eingängigen
therapeutischen Algorithmus (ABCDE) wird die prioritätenorientierte Notfallbehandlung
in einem 2-tägigen Intensivkurs trainiert. Grundprinzipien des ATLS-Konzeptes sind
hierbei die priorisierte, algorithmisierte Behandlung des unmittelbar lebensbedrohlichen
Umstands („treat first what kills first“) sowie die Prämisse, den Patienten nicht
durch therapeutische Maßnahmen weiter zu schädigen („do not further harm“).
Merke
Kurse wie das ATLS-Format sind darüber hinaus Bestandteil der zu erfüllenden Voraussetzungen
zur Zertifizierung als Traumazentrum.
CAMIN-Kurse
Die Chirurgische Arbeitsgemeinschaft für Militär- und Notfallchirurgie (CAMIN) der
DGAV bietet seit mehreren Jahren einen erfolgreichen 2-tägigen Kurs an, dessen Schwerpunkt
auf der Versorgung Schwerstverletzter und viszeralchirurgischer Notfälle liegt. Von
Viszeral- und Gefäßchirurgen ausgebildet, werden speziell die Blutstillung in den
Körperhöhlen, aber auch an den Gefäßübergängen (Axilla und Leiste) bis in den Bereich
der Extremitäten vermittelt.
In Kurzvorträgen wird fundiertes Grundwissen über die thorakoabdominelle Versorgung
Schwerstverletzter, penetrierende Verletzungen, die DCS-Verfahrenstechnik, Zugangswege
und gefäßchirurgische Notfallkompetenzen vermittelt. Die jeweiligen notfallchirurgischen
Eingriffe, die Systematik der Traumalaparotomie und Notfallthorakotomie sowie die
Gefäßexpositionszugänge werden am Körperspender und später am narkotisierten Großtier
unter erfahrener Anleitung trainiert ([Abb. 6], [Abb. 7]). Ein zweiter Kursteil deckt häufige viszeralchirurgische Notfälle von der Anastomoseninsuffizienz
über Blutungskomplikationen bis hin zur Peritonitis und Laparostomaanlage ab.
Abb. 6 Ballonkatheterunterstützte Naht bei penetrierender Herzverletzung. Simulation am
narkotisierten Großtiermodell im CAMIN-Kurs der DGAV (Würzburg 11/2016).
Abb. 7 Anleitung zum temporären Gefäßshunting bei Verletzung der V. cava im CAMIN-Kurs „Thorakoabdominelles
Trauma und viszeralchirurgischer Notfall“.
Advanced Surgical Skills for Exposure in Trauma – ASSET
Das American College of Surgeons bietet mit dem Ausbildungskonzept des Advanced Surgical
Skills for Exposure in Trauma (ASSET) einen Tageskurs in den USA an, in dem es in
erster Linie um die chirurgischen Zugangswege bei Blutungen Schwerstverletzter geht.
Anatomisch wird nach 5 Schlüsselregionen der Blutstillung unterschieden. Brustkorb,
Abdomen mit Becken, der Hals sowie die Zugänge zu den oberen und unteren Extremitätenverletzungen.
Mit dem Ziel der raschen Blutungskontrolle werden die optimalen und zügigsten Gefäßzugänge
der einzelnen Regionen an Körperspendern ausgebildet. Hierbei werden die anatomisch
relevanten und zu schonenden Umgebungsstrukturen in den jeweiligen Regionen vermittelt
und praktisch präparatorisch umgesetzt.
Definitive Surgical Trauma Care – DSTC
Das Kurskonzept Definitive Surgical Trauma Care (DSTC), das von der International
Association for Trauma Surgery and Intensive Care (IATSIC) entwickelt wurde, soll
eindeutige und konkrete Konzepte für Notfalleingriffe vermitteln. Der Kurs findet
jährlich in Deutschland in englischer Sprache statt. Insbesondere das in der Psychologie
gängige Decision Making, die Entscheidungsfindung in der Strategie des Traumamanagements,
sowie die praktische Umsetzung chirurgischer Eingriffe sind wesentliche Kursinhalte.
Terror and Disaster Surgical Care – TDSC
Um der wachsenden terroristischen Bedrohung in Deutschland Rechnung zu tragen, wird
von der Akademie der Unfallchirurgie (AUC) und der Arbeitsgemeinschaft EKTC (Einsatz-,
Katastrophen- und taktische Chirurgie) der DGU in Zukunft ein sog. TDSC-Kurs (Terror
and Disaster Surgical Care) angeboten werden. Dieses Kursformat schult insbesondere
die Fähigkeit des Surgical Decision Making (SDM). Hierbei sollen die Teilnehmer lernen,
zwischen den verschiedenen Versorgungsstrategien im MANV, nach Terroranschlägen und
Großschadenslagen gedanklich zu differenzieren und sich flexibel auf die jeweils erforderlichen
Strategien zu fokussieren.
Zertifikat der Schweizer Stiftung „Vascular International“
Gefäßchirurgische Notfallkompetenzen für chirurgische Fächer werden als Grund- und
Master-Class-Lehrgang der Bundeswehr in Zusammenarbeit mit dem Zertifikat der Schweizer
Stiftung „Vascular International“ in Deutschland angeboten. 10 – 12% Gefäßverletzungen
in militärischen Konflikten, aber auch bei terroristischen Anschlägen (9% in Paris
2016) setzen die gefäßchirurgische Notfallkompetenz für den erstversorgenden Chirurgen
voraus. Im Mittelpunkt der Kurse steht das praktische Training unter Anleitung erfahrener
und didaktisch geschulter Gefäßchirurgen an Simulationsmodellen. Im Aufbaukurs wird
u. a. das o. g. REBOA-Verfahren praktisch am perfundierten und durchleuchteten Simulationsmodell
trainiert.
Sonstige Ausbildungsangebote
Kurse der DGAV
Die DGAV bietet weitere Kurse bzw. Seminare an. Im mehrfach jährlich stattfindenden
DGAV-Seminar „Viszeralchirurgische Notfallversorgung nach Terroranschlag und Attentaten“
wird neben den klinischen und chirurgischen Versorgungsstrategien auch auf die Grundproblematiken
des MANV eingegangen. Wie bereiten sich die Großstädte in Deutschland auf derartige
Szenarien vor? Was muss ich in der eigenen Klinik beachten? Insbesondere werden hierbei
auch die allgemeinen und chirurgischen Therapieprinzipien spezieller Verletzungsformen,
die bei sog. Terroranschlagtraumata mit Schusswunden und Explosionsverletzungen resultieren,
erläutert.
Bundeswehr
Die Bundeswehr selbst verfügt über ein eigenes, modulares Fort- und Ausbildungskonzept,
mit dem chirurgisch tätige Sanitätsoffiziere auf die Erfordernisse und Anforderungen
der Auslandseinsätze vorbereitet werden.
Fallbeispiel
Programmierte Bauchwandhernie mit Mesh-Graft-Deckung
Aufgrund der protrahierten Peritonitis wurde eine programmierte Bauchwandhernie mit
Mesh-Graft-Deckung notwendig ([Abb. 8]). [Abb. 9] zeigt den abdominellen Befund vor der Wiederanschlussoperation 18 Monate nach Verletzung.
Abb. 8 Programmierte Bauchwandhernie mit Mesh-Graft-Deckung aufgrund protrahierter Peritonitis.
Abb. 9 Abdomineller Befund vor der Wiederanschlussoperation.
a Seitliche Ansicht im Verlauf vor Narbenhernienrepair.
b Frontalansicht.
Die Bauchwandhernie wurde nach 20 Monaten durch einen Sublay-augmentierten Hernienrepair
mit Komponentenseparation verschlossen.
Fazit und Ausblick
Überblickt man die Aktivitäten der verschiedenen Fachgesellschaften, wird deutlich,
dass die aktuelle, veränderte Situation hinsichtlich des Terrors in Westeuropa und
speziell auch in Deutschland als bedrohlich eingestuft wird. Das Verteilungsmuster
terroristischer Anschläge fokussiert sich dabei nicht allein auf Ballungszentren wie
Berlin oder München, sondern hat beispielsweise in Ansbach auch ländliche Regionen
erreicht. So ist die Wahrscheinlichkeit, penetrierende oder gar Explosionsverletzungen
versorgen zu müssen, signifikant gestiegen.
Andererseits bedeutet die veränderte – und sich vermutlich noch weiter verschärfende
– Situation keineswegs die Abkehr von der Individualmedizin oder gar den inflationären
Gebrauch von Damage-Control-Verfahren. Die Damage-Control-Techniken sind mit einer
hohen Morbidität verbunden und müssen grundsätzlich individuell entschieden werden.
Die tatsächlichen Indikationen sind in Deutschland sehr selten. Dennoch retten sie
Leben dort, wo sie indiziert sind. Sie gehören mit ihrem theoretischen Hintergrund
und ihrer praktischen Umsetzung damit in das Kompetenzprofil jedes Allgemein- und
Viszeralchirurgen.
So sehr sich die operativen Techniken in der Hand des Geübten erfolgversprechend praktisch
umsetzen lassen, so ist es doch mindestens von gleicher Bedeutung, die „Traumaphysiologie“
des Patienten zu kennen, zu beherrschen und sich im Handeln danach auszurichten. Letzteres
heißt, auch zu verstehen, dass das technisch Machbare gegen die Pathophysiologie des
Patienten abgewogen werden muss.
Fallbeispiel
Abschlussbefund
[Abb. 10] zeigt den Abschlussbefund des Soldaten 3 Jahre nach der Verletzung.
Abb. 10 Abschlussbefund des Soldaten 3 Jahre nach Verletzung.
Die penetrierenden und umso mehr die Explosionsverletzungen bleiben trotz der aktuellen
Bedingungen seltene Ereignisse. Echte, evidenzbasierte Daten aus Deutschland fehlen
diesbezüglich weitgehend. Ähnlich wie beim Schwerstverletzten auch wird die Vielzahl
der Variablen eine statistische Evidenz möglicherweise nur begrenzt zulassen. Damit
liegt es nahe, dass es aufgrund der geringen Anzahl dieser Verletzungen nur durch
zentrale Registerdokumentation und Auswertung zur Verbesserung der Evidenz kommen
wird.
Kernaussagen
-
Schwerstverletztenversorgung als Teamansatz von Unfallchirurgie mit Viszeralchirurgie.
-
Im Jahr 2016 wurde die S3-Leitlinie „Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung“ der AWMF
aktualisiert, in der Hauptsache in den Bereichen Schockraum (Hintergrundaktualisierung)
und OP (Aktualisierung).
-
Allgemein- und Viszeralchirurgen müssen sich ihrer Verantwortung hinsichtlich der
Therapie von Verletzungen in den Körperhöhlen bewußt sein.
-
Hohes Mortalitätsrisiko bei (thorako-)abdominellen Verletzungen durch die damit verbundenen
relevanten Blutungen.
-
Das OP-Verfahren beim Polytrauma wird bestimmt durch den Zustand des Patienten (stabil/stabilisierbar/nicht
stabilisierbar) und das Verletzungsmuster.
-
Auch in Deutschland wächst die Bedrohung durch Terroranschläge und macht eine spezielle
und angepasste Versorgungsstrategie dieser schwerstverletzten Patienten erforderlich.
-
Explosionsverletzungen nehmen ebenso wie komplexe Schussverletzungen eine besondere
Stellung in der Polytraumaversorgung ein.
-
Die Grundsätze der Behandlung bei einem Massenanfall an Verletzten (MANV) werden erweitert
um die besonderen Gefahren in Kriegs- oder Terrorsituationen.
-
Kliniken in Deutschland müssen auf Terror- und Massenanfallsszenarien vorbereitet
sein.
-
Spezielle Fort- und Weiterbildungsangebote zur Versorgung Schwerstverletzter, speziell
bei einem Massenanfall an Verletzten und bei Terroranschlagtrauma werden angeboten
und sollten wahrgenommen werden.