physiopraxis 2017; 15(09): 15-17
DOI: 10.1055/s-0043-110427
Profession
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

E-Learning in der Physiotherapie – Motiviert digital lernen

Cécile Ledergerber
,
Andrea Camenisch

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Publication Date:
15 September 2017 (online)

 

Digitales Lernen kombiniert mit Präsenzunterricht allein bringt noch keinen Lernprozess in Gang. Lehrende der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) haben über mehrere Jahre ihre elektronischen Lernangebote evaluiert und optimiert. Sie geben wertvolle Tipps für Nachahmer.


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Prof. Dr. Cécile Ledergerber, Physiotherapeutin und Erziehungswissenschaftlerin. Seit 2006 leitet sie den BSc-Studiengang Physiotherapie an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) und ist dort für das Curriculum verantwortlich.
Andrea Camenisch, MAS in Sportphysiotherapie, ist seit 2014 als Dozentin im BSc-Studiengang Physiotherapie an der ZHAW tätig und für die Blended-Learning-Angebote verantwortlich.

Wir Lehrende des Bachelorstudiengangs Physiotherapie der ZHAW haben in den letzten Jahren einige didaktische Lehr- und Lernkonzepte mit E-Learning-Anteilen entwickelt. Wir stellen traditionelle Lehr-Lernmethoden deswegen nicht grundsätzlich in Frage, sondern streben danach, kontinuierlich unsere Didaktik zu verbessern und zu modernisieren. Als wir das Curriculum für den Studiengang ausarbeiteten, verstanden wir E-Learning primär als Anreicherungskonzept [1]. Heute setzen wir auf Blended Learning als integratives oder hybrides Lernarrangement [2], welches Präsenzveranstaltungen und Selbststudium am Computer kombiniert. Idealerweise ermöglichen wir dabei Lern- und Lehraktivitäten mittels Kommunikations- und Kooperationstools über den Präsenzunterricht hinaus. Doch das allein reicht nicht, um unsere Studierenden zum Lernen zu motivieren.

Digital Natives lieben Infotainment

Die Digitalisierung hat die Art und Weise der Wissensaneignung und Wissensvermittlung fundamental verändert. Studierende von heute und morgen sind mit der Omnipräsenz digitaler Medien aufgewachsen. Sie sind an den uneingeschränkten parallelen Zugriff auf multiple Quellen gewohnt und lernen lieber mithilfe von Infografiken statt Texten – Stichwort Infotainment. Sie mögen es, flexibel zu interagieren und für ihre Aktivitäten unmittelbar belohnt zu werden, so, wie sie es aus der digitalen Spielewelt kennen. Eine Gamification des Lernens scheint daher auch in der Physiotherapieausbildung bzw. im Physiotherapiestudium vielversprechend [3].

Bezüglich ihrer Vorbildung und ihrem Erfahrungshintergrund bringen Studierende zunehmend heterogene Lebensbiografien und Bildungswege mit ins Studium und damit unterschiedliche Ansprüche und Niveaus. Blended Learning kann einige dieser Anliegen positiv unterstützen (E-LEARNING, S. 17).

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Abb.: Idey/fotolia.com

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Blended Learning kann überfordern

Blended-Learning-Szenarien bringen alleine noch keine Lernprozesse in Gang. Die Grenzen und Limitationen von E-Learning haben in den letzten Jahren zu einer deutlichen Ernüchterung geführt. Wie alle Lernwerkzeuge und Unterrichtsmethoden sind auch die neuen Medien keine didaktischen Selbstläufer [4], auch im E-Learning wird das Lernen nicht vom Computer übernommen. Weder genügt es, ein Diskussionsforum aufzusetzen und zu sagen „Nun diskutiert mal schön“, noch ist es effektiv, beliebige Materialien übers Netz zu verteilen und zu hoffen, sie werden genutzt. Zwar unterstützt ein vielfältiges und attraktives Angebot an multimedialen Lernmaterialien initial die Lernmotivation, führt aber auch schnell zu einer Übersättigung und Überforderung. Blended-Learning-Szenarien bleiben eine Gratwanderung zwischen Selbststudium (und Selbstverantwortung) und Präsenzunterricht sowie zwischen bunter Vielfalt versus strukturierter Orientierung.

Während wir unsere E-Learning-Angebote entwickelten, wurde uns schnell klar, dass erst eine enge Vernetzung mit dem Präsenzunterricht die Lernprozesse der Studierenden gewinnbringend unterstützt. Flipped Classroom als bekannteste Form eines strukturierten Blended-Learning-Konzeptes ist bereits einige Jahre an Hochschulen etabliert. Auch wir entschieden uns, diese Lernmethode einzuführen.


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Flipped Classroom als erfolgversprechendster Ansatz

Nach dem Konzept des Flipped Classroom erarbeiten die Studierenden in einer ersten Phase selbstständig das theoretische Wissen mittels E-Learning. Im Anschluss absolvieren sie einen E-Test (Quizzes) für ihre Standortbestimmung und notieren Unklarheiten und Fragen zum Thema auf der Lernplattform. Darauf folgt der Präsenzunterricht, in dem die eingereichten Fragen beantwortet und anspruchsvolle Inhalte vertieft werden.

Trotz des erfolgversprechenden, lernförderlichen Ablaufs blieb die Frage nach der Motivation der Studierenden und wie wir eine möglichst hohe studentische Partizipation ermöglichen können. Wir fragten uns, welche Aspekte für uns wichtig sind, um die Studierenden auf Distanz zu motivieren und bei der Stange zu halten.

„Die nötige Motivation für dieses E-Learning- Modul aufzubringen, fiel mir nicht leicht, da ich zum einen die Zeit lieber für mich genutzt hätte und zum anderen mein Interesse am Thema nicht wirklich groß ist.“

Studierende, 4. Semester


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Interesse wecken

Kognitiv herausfordernde Aufgaben aktivieren Interesse und motivieren zu qualitativ hochstehenden Lernaktivitäten. Um das Interesse und die Aufmerksamkeit der Studierenden zu wecken, versuchen wir daher folgende Aspekte zu berücksichtigen:

  • Den Nutzen für die spätere Berufspraxis sichtbar machen. Beispielsweise bilden praxisnahe und relevante Fallbeispiele, veranschaulicht durch Videos und Bilder von Patienten, kombiniert mit einer herausfordernden Aufgabenstellung, spannende Startpunkte für eine Lernsequenz.

  • Transparente Lernziele stellen. Auch in E-Learning-Settings müssen Zielsetzungen bzw. Lernziele transparent aufgezeigt werden, ebenso die weitere Verknüpfung mit dem folgenden Unterricht. Dazu gehören auch definierte Konsequenzen bei fehlender Vorbereitung.

  • Das Niveau adäquat auswählen. Ein angemessener Schwierigkeitsgrad ist zentral für die Motivation. Sind die Aufgaben zu schwierig, sinkt die Motivation genauso wie bei zu einfachen Fragestellungen. Um die Motivation zu fördern, nutzen wir die bei den Digital Natives oft vorhandene Affinität zur Gamification und bieten verschiedene Level innerhalb eines Themengebietes mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad an.

  • Ungehinderten Zugang zum E-Learning ermöglichen. Damit die Studierenden sich direkt mit den Aufgabenstellungen auseinandersetzen, sollten sie ungehindert mit dem Lernen starten können. Wichtige Aspekte sind dabei, dass die E-Learning-Plattform benutzerfreundlich gestaltet ist und die Studierenden methodisch und technisch in die Lernumgebung eingeführt werden.

„Schwierig waren das Zeitmanagement und der Druck durch selbst gesteckte Ziele.“

Studierende, 4. Semester


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Verbindlichkeit und Verbundenheit herstellen

E-Learning führen die Studierenden mehrheitlich zu Hause alleine vor dem Laptop durch, umgeben von zahlreichen Ablenkungsmöglichkeiten. Wie erreichen wir eine hohe Verbindlichkeit in der Bearbeitung der E-Learning-Aufgaben? Wie lässt sich das Gefühl von Verbundenheit trotz Distanz erzeugen?

  • Getaktete Lerneinheiten anbieten. Idealerweise werden überschaubare, getaktete Lerneinheiten bereitgestellt, um einem Überforderungsgefühl entgegenzuwirken. Beispielsweise ermöglichen elektronische Zwischenfragen (E-Tests) eine Kompetenzüberprüfung in Häppchen. Erst wenn ein Level geschafft ist, gelangt man zum nächsten.

  • Klare zeitliche Fristen setzen. Die zeitliche Bearbeitung in E-Learning-Sequenzen ist flexibel und kann innerhalb der gesetzten Fristen individuell gestaltet werden. Die Fristen dienen als Orientierungshilfe, da eine zeitliche Freiheit auch überfordernd wirken kann.

  • Einflussnahme auf den Inhalt des Präsenzunterrichts ermöglichen. Es ist wichtig, den Präsenzunterricht entlang der Bedürfnisse der Studierenden zu planen, zum Beispiel indem sie am Ende der Bearbeitung einer E-Learning-Sequenz Fragen und Unklarheiten notieren, die dann in den Unterricht einfließen. Die Dozierenden greifen die Fragen auf und bieten so ein maßgeschneidertes Lernangebot. Dieses setzt ein hohes Maß an Flexibilität der Dozierenden voraus, da der Unterricht „just in time“ geplant und den Bedürfnissen der Studierenden angepasst wird.

  • Unmittelbaren Support anbieten. Beispielsweise sind eine funktionierende Helpline, welche eine zeitnahe Unterstützung bei technischen und inhaltlichen Fragen bietet, sowie ein Reminder-Mailsystem relevante Erfolgsfaktoren. Wir können im Studiengang eine Bearbeitung von Problemen zu Bürozeiten innerhalb weniger Stunden anbieten. Zudem steht der IT-Servicedesk ebenfalls zur Verfügung.

„Fehlendes Feedback während der Bearbeitung führte zu Unsicherheit und zu sinkender Motivation.“

Studierende, 4. Semester


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Jede Feedbackgelegenheit nutzen

E-Learning-Aktivitäten sind motivierend und lernfördernd, wenn die Studierenden genügend oft zeitnahes und individuelles Feedback in unterschiedlicher Form erhalten. Wir haben uns für folgende Feedbacks geeinigt:

  • Regelmäßige Standortbestimmungen ermöglichen. Beispielsweise anhand von E-Tests sehen die Studierenden, wo sie stehen. Sie geben je nach Antwortverhalten automatisch Feedback, oder eine Lehrperson gibt eine persönliche, individuelle Rückmeldung.

  • Auszeichnungen vergeben. Je nach Qualität einer bearbeiteten Aufgabe oder eines Tests erhalten die Studierenden eine goldene, silberne oder bronzene „Medaille“ oder eine unterschiedliche Anzahl von Sternen, wie es bei elektronischen Spielen üblich ist.

  • Fortschrittsbalken sichtbar anzeigen. Während einer Aufgabenbearbeitung, insbesondere bei länger dauernden Sequenzen, wirkt sich ein Fortschrittsbalken positiv auf die Orientierung im Modul, die Motivation sowie die Planung aus.


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Perspektive Studierender entscheidend

Wir nutzen das E-Learning seit 2012 überwiegend für die theoretischen Module, insbesondere für klinisches Basiswissen, Anatomie, Physiologie oder Biomechanik. Zunehmend ergänzen wir auch den Präsenzunterricht der praktischen Module mit E-Learning-Tools, zum Beispiel für die Auskultation oder Bewegungsanalyse, und kooperieren dabei mit anderen Hochschulen.

Wir haben gelernt, dass bei allen Vorteilen und Möglichkeiten des Blended Learning die Perspektive der Studierenden ausschlaggebend ist und in die Weiterentwicklung von E-Learning-Settings einbezogen werden sollte. Blended Learning ist ernergieaufwendig und darf keinem Selbstzweck, sondern ausschließlich einer guten Lehre dienen.

Cécile Ledergerber und Andrea Camenisch

Nachgefragt bei Moritz Müller, MSc, Dozent für muskuloskeletale Ultraschalldiagnostik – „Durch E-Learning können wir Praxisphasen deutlich länger gestalten und intensivieren“

Herr Müller, Sie nutzen E-Learning für Ihre Ultraschallkurse. Wie setzen Sie dies ein?

Multimodal, das heißt, wir nutzen in unserem Kurskonzept E-Learning, um Kurse vor- und nachzubereiten. Die Inhalte sind lerntheoretisch aufgearbeitet und gliedern sich nach Themenschwerpunkten in Videosequenzen von maximal 15 Minuten sowie Quizze zum Repetieren der vorangegangenen Inhalte. Über die Plattform bieten wir auch allgemeine Grundlagen, Fallstudien, einen Pathologieteil und umfängliche Praxissequenzen, zum Beispiel Scan-Protokolle.

Im Rahmen unseres Blended-Learning-Konzepts instruieren wir unsere Kursteilnehmer anhand eines bereitgestellten Handbuches, um einen optimalen Workflow zu gewährleisten. Zudem gewähren wir Zugang zu aktuellen Studien und geben Literaturhinweise und Lerntipps.

Welche Erfahrungen haben Sie dabei in Ihren Kursen gesammelt?

Ausgesprochen positive. Wir fragen uns inzwischen, warum wir früher den gesamten Stoff in den Frontalunterricht eingebunden haben. Für uns war schnell klar, dass wir eine alternative Lernumgebung schaffen müssen. In Studien [5] zeigt sich: „Classroom based teaching“ führt dazu, dass nur etwa 20–30 Prozent des vermittelten Unterrichtsstoffes direkt nach der Präsentation wiedergegeben werden können und nach zwei Wochen davon 90 Prozent verloren sind. Ein unbefriedigendes Ergebnis, das sich mit unseren Erfahrungen deckt. E-Learning hingegen erlaubt zeitliche Flexibilität sowie Lernen und Wiederholen in individueller Geschwindigkeit [6]. Wir können so – durch den Zeitzugewinn und durch die explizite Vorbereitung der Kursteilnehmer – in den Kursen die Praxisphasen deutlich länger gestalten und intensivieren. Mit ihrem reflektierten Wissensstand tragen die Kursteilnehmer zu einem lebendigen und allseitig bereichernden Unterricht bei.

Die Fragen stellte Elke Oldenburg.

E-Learning – Das sind die Vorteile

Gezielt eingesetzte E-Learning-Angebote sind als Ersatz für Vorlesungen zukunftsweisend. Sie ermöglichen, selbstständig orts- und zeitunabhängig Kompetenzen zu erwerben.

E-Learning ermöglicht multimediale Informationszugänge und Quellenvielfalt. Es bietet heterogenen Studierendengruppen individuelle Lernwege: in Form von Vorkursen, Repetitions- und Übungsangeboten und Zusatzstoff für unterschiedliche Niveaus. E-Learning lässt eine veränderte Expertenrolle im Präsenzunterricht zu.

Wird der theoretische Stoff vorrangig via E-Learning erlernt, können Dozierende vermehrt eine Coach- und/oder Tutorenfunktion einnehmen. So können sie auf heterogenes Vorwissen reagieren, die Studierenden individuell unterstützen und ihre Expertise gezielt in Diskussionen zur Verfügung stellen.


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Abb.: Idey/fotolia.com