Die Wirbelsäule 2018; 02(02): 138-152
DOI: 10.1055/s-0043-125077
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Perioperatives Management von Patienten mit gerinnungshemmenden Medikamenten in der Wirbelsäulenchirurgie

Perioperative management of patients with iatrogenic anticoagulation and spinal surgery

Authors

  • Rüdiger Gerlach

    1   HELIOS Klinikum Erfurt, Klinik für Neurochirurgie, Medizinische Fakultät Goethe Universität Frankfurt/ Main
  • Harald Lapp

    2   HELIOS Klinikum Erfurt, Klinik für Kardiologie und Internistische Intensivmedizin; Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit
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Publication Date:
17 April 2018 (online)

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Zusammenfassung

Einleitung Eine zunehmende Zahl von Patienten wird wegen degenerativer Erkrankungen der Wirbelsäule operativ behandelt. Der Einsatz gerinnungshemmender Medikamente nimmt zu. Beide Tatsachen bedingen, dass Patienten mit notwendigen Operationen an der Wirbelsäule und gerinnungshemmender Therapie Wirbelsäulenchirurgen vor Schwierigkeiten bei der Entscheidung über die perioperative Fortsetzung der Medikation, bzw. die Notwendigkeit einer Umstellung stellen.

Material und Methoden Indikationen der Thrombozytenfunktionshemmung und oralen Antikoagulation, das perioperative Management von Patienten sowie die Praxis der medikamentösen Prophylaxe thromboembolischer Ereignisse bei wirbelsäulenchirurgischen Patienten werden auf der Basis einer aktuellen Literaturrecherche erörtert.

Ergebnisse Im Allgemeinen ist die Datenlage relativ schwach und die Empfehlungen für die Wirbelsäulenchirurgie sind z. T. aus anderen Fachgebieten abgeleitet oder beruhen auf Erfahrungswissen. Für ASS als Monotherapie zur Sekundärprophylaxe existieren Daten, dass die kontinuierliche perioperative Fortsetzung ohne wesentlich erhöhtes Blutungsrisiko möglich ist. Das bisherige perioperative Bridging bei Patienten mit Vorhofflimmern (VHF) oder Zustand nach venösen thromboembolischen Ereignissen sollte nur bei Patienten mit hohem Risiko erfolgen. Bei Patienten mit mittlerem und niedrigem Risiko sollte nur eine übliche Thrombembolieprophylaxe erfolgen.

Schlussfolgerungen Patienten mit gerinnungshemmenden Medikamenten sind Risikopatienten; zum einen wegen der Komorbidität, die eine Gerinnungshemmung erforderlich macht und zum anderen wegen der Notwendigkeit des perioperativen Managements. Die standardisierte Gerinnungsanamnese hilft Blutungskomplikationen zu vermeiden und Patienten mit gerinnungshemmenden Medikamenten zu identifizieren. Spontane Blutungen bei medikamentöser Gerinnungshemmung und perioperative Blutungskomplikationen bei wirbelsäulenchirurgischen Patienten sind mit einer hohen Morbidität und unter Umständen Mortalität assoziiert. Das perioperative Management von Patienten mit pharmakologischer Gerinnungshemmung in der Wirbelsäulenchirurgie ist aufgrund der Komplexität (neue Antikoagulanzien, Co-Morbidität, Alter der Patienten) eine interdisziplinäre Aufgabe, die mit den Kardiologen, Neurologen und Gefäßmedizinern gemeinsam erfolgen sollte. Auch wenn hier Möglichkeiten im perioperativen Umgang bei Patienten mit Gerinnungshemmern aufgezeigt werden, muss die Entscheidung nach Abwägen des individuellen Risiko/Nutzenverhältnisses erfolgen.

Abstract

Objective The number of patients, who require platelet inhibition or oral anticoagulation will increase over the next years hence the demographic development, predicts an increasing number of older patients. Spinal operations will also increase and the operating spinal surgeon is challenged by several problems with anticoagulated patients in the perioperative management.

Methods Indications of platelet inhibition and oral anticoagulation in patients, who require spinal surgery are discussed and recommendation for the perioperative management are elaborated with respect to the most common drugs.

Results Data from the literature is limited and recommendations are based on few studies and extrapolated from other surgical disciplines. Preliminary data suggests, that continuous perioperative low dose aspirin therapy does not increase perioperative bleeding risk. Perioperative “bridging” should be considered only in patients with high risk of stroke or venous thromboembolic events. All other patients should receive low molecular weight heparin for prophylaxis of thromboembolic events, only.

Conclusions Anticoagulated patients have an increased perioperative cardiovascular risk profile. Standardized screening avoids bleeding complications and identifies anticoagulated patients with planned spinal surgery. The perioperative management of anticoagulated patients and spinal surgery may be challenging and should be assessed after interdisciplinary discussion of the spine surgeon with cardiologists, neurologist or vascular surgeons. The decision must be balanced on the individualized risk profile of the patient.

Fazit

Patienten mit pharmakologischer Gerinnungshemmung sind Risikopatienten. Die Therapie mit Antikoagulantien oder Plättchenhemmern weist auf eine erhöhte kardiovaskuläre Morbidität eines Patienten hin. Die Zahl von Patienten mit der Notwendigkeit der Einnahme gerinnungshemmender Medikamente wird steigen, besonders aufgrund der erwarteten Zunahme der Patienten mit Vorhofflimmern. In Deutschland sind im Jahr 2015 knapp 600 Millionen definierte tägliche Gaben (DDD) von oralen Antikoagulanzien verordnet worden. Davon entfielen 345 Millionen auf Vitamin-K-Antagonisten und 286 Millionen auf neue orale Antikoagulantien [37]. Somit sind mehr als 1 Million Bürger der Bundesrepublik dauerhaft oder vorübergehend oral antikoaguliert. Die Zahl der spinalen Operationen ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Aus beiden Tatsachen resultiert, dass jeder Wirbelsäulenchirurg im Alltag mit Patienten konfrontiert wird, die gerinnungshemmende Medikamente einnehmen. Dies stellt den Wirbelsäulenchirurgen nicht nur bei der Versorgung von Notfallpatienten mit spinalen Traumata oder Tumoren mit Querschnittssymptomen vor Herausforderungen, sondern auch in der täglichen Routinearbeit und elektiven Operationen.

Die vorliegende Übersicht versucht die verfügbaren Daten zusammenzutragen und daraus konkrete Vorschläge für den klinischen Alltag zu erarbeiten. Die Vorschläge geben Anhaltspunkte für ein sicheres Vorgehen bei den meisten Patienten in den meisten klinischen Situationen. Die letztlich konkrete Vorgehensweise muss aber vom behandelnden Arzt unter Berücksichtigung aller Umstände bei dem zu behandelnden individuellen Patienten festgelegt werden.