Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 2001; 44(3): 176-182
DOI: 10.1055/s-2001-17817
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Karl F. Haug Verlag, in: MVH Medizinverlage Heidelberg GmbH & Co. KG

Die Traditionelle Chinesische Medizin ist kein Museum

Traditional Chinese Medicine is not a MuseumPeter Reibisch
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Publication Date:
15 October 2001 (online)

Serie „Akupunktur: alternativ - komplementär - integrativ ?”

Vorbemerkung der Redaktion: In den letzten drei Jahren haben wir in der DZA unterschiedliche Autoren zu einem Thema zu Wort kommen lassen, das für die Weiterentwicklung der Akupunktur und der traditionellen Chinesischen Medizin insgesamt von zentraler Bedeutung ist: Stellt die Chinesische Medizin eine Alternative zur Westlichen Medizin dar, soll sie komplementär eingesetzt werden, oder sollen wir danach streben, eine neue, integrative Medizin zu entwickeln (Unschuld DZA 1/2000, Ots DZA 3/2000, Frühauf DZA 1/2001)? Dieses Thema ist nach wie vor aktuell, die verschiedenen Ansichten breit gestreut. Deswegen wollen wir diese Diskussion fortsetzen, ihr gar einen breiteren Raum als bisher gewähren.

Von Konfuzius ist uns die Bedeutung der „Richtigstellung der Begriffe” überliefert. Aus diesem Grunde wollen wir diese Diskussion als Serie für unsere LeserInnen erkennbar gestalten und haben uns zu einem Titel entschlossen, der die verschiedenen Ansätze charakterisiert: Akupunktur: alternativ - komplementär - integrativ?

Es liegen uns bereits einige Manuskripte zu diesem Thema vor, dennoch möchten wir alle unsere LeserInnen einladen, uns ihre Meinungen zu den einzelnen Artikeln dieser Reihe in Form von Leserbriefen, kürzeren oder längeren Stellungnahmen bzw. Artikeln zuzusenden.

Dreißig Speichen treffen die Nabe -
Die Leere dazwischen macht das Rad.
Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen -
Die Leere dazwischen macht das Gefäß.
Fenster und Türen bricht man in Mauern -
Die Leere dazwischen macht die Behausung.
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes -
Das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.

Lao tse

Zusammenfassung

Wie können sich die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und die westliche Medizin gegenseitig fördern? Sollen wir uns zufrieden geben, wenn ein sich gegenseitiges Akzeptieren und Nebeneinander beider Medizinen erreicht ist, oder kann ein lebendiger Austausch entstehen? Die Auseinandersetzung zwischen TCM und westlicher Medizin ist Teil der schon viele Jahre geführten Debatte zwischen Wissenschaftlern, Philosophen, Künstlern und auch Ärzten. Aus den eigenen inneren Widersprüchen hat sich im Westen eine Wandlung entwickelt, die den west-östlichen Diskurs entscheidend befruchten kann.

Im Zentrum dieser Debatte steht das Problem der im Westen gewachsenen Trennung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Körper und Seele. Zuerst erschütterte die moderne Physik dieses Weltbild im Westen. Wenn in der Psychotherapie bei Freud noch die alte Haltung vorherrscht, so löste sich dies schon bei C. G. Jung und zunehmend in der modernen Psychotherapie auf. In der Philosophie überwindet besonders die Phänomenologie die Trennung von Subjekt und Objekt und wird zur Philosophie des Leibes bei Hermann Schmitz.

Ich zeige am Beispiel der TCM und den somatopsychischen Vorstellungen von Jochen Gleditsch und am Beispiel der „Initiatischen Therapie” nach Dürckheim Aspekte der Verschiedenheit westlicher und östlicher Grundhaltungen auf.

In der westlichen Rezeption der TCM ist aus meiner Sicht eine dogmatische Haltung verbreitet. Wer für sein heutiges ärztliches Tun kopierend chinesische Texte übernimmt, ohne die Fragen zu kennen und zu erarbeiten, die der östlich-westliche Diskurs sucht, der schiebt als Filter zwischen sich und den Patienten sowohl dicke, alte Bücher als auch seine unreflektierten Gedanken und Gefühle. Ich nehme die TCM mit ihren wesentlichen Gedanken und Haltungen dann ernst, wenn ich sie nicht kopiere, sondern sie überprüfend, auch verändernd im Heute lebendig werden lasse.

Abstract

How can TCM and western medicine be combined for mutual benefit?

Should we rest content, when mutual acceptance and the co-existence of both is attained, or could it be possible that a living exchange will come into existence? The conflict between TCM and western medicine is a part of a years-long debate between scientists, philosophers, artists and physicians. The inner conflicts inherent in this have led to the development of a change in thought in the West that could prove extraordinarily fruitful for the East-West discussion.

A central part of the debate is the Western separation of subject and object, body and soul. Modern physics first shook the foundations of this conception of the world in the western countries. While the old position still dominates in Freudian psychoanalysis, this had already been given up by C. G. Jung, and in modern psychotherapy it is increasingly on the wane. In philosophy the New Phenomenology in particular has overcome the separation of subject and object, becoming the philosophy of the corporeal in the work of Hermann Schmitz.

Using the example of TCM and the somatopsychic conceptions of Jochen Gleditsch, and also using the example of the Initiatic Therapy of Dürckheim, I will demonstrate some aspects of the difference between Eastern and Western fundamental positions.

In my opinion a dogmatic attitude in the Western reception of TCM is widespread. Those who merely imitatively apply Chinese texts for their medical work, without knowledge of the questions which the East-West debate raises, place a filter of heavy old books and of their own unreflected thoughts and feelings between themselves and their patients. I am taking TCM and its essential ideas and attitudes seriously only when I do not imitate it, but rather apply it today as living knowledge, critically and, when necessary, with alterations.

Literatur

  • 01 Dürckheim K.. Hara - Die Erdmitte des Menschen. O. W. Barth 1999: S. 55 ff
  • 02 Dürckheim K.. Aus einem Vortrag auf den Lindauer Psychotherapietagen. Tonband. Vier-Türme-Verlag
  • 03 Gebser J.. Abendländische Wandlung. Gesamtausgabe Bd. 1, 2. Aufl., Novalis 1999: S. 238
  • 04 ebenda S. 202
  • 05 ebenda S. 200-204
  • 06 Gleditsch J.. Das Entsprechungssystem der 5 Wandlungsphasen als somatopsychisches Modell.  Akupunktur - Theorie und Praxis  4 (1994);  288 ff
  • 07 ebenda. S. 291
  • 08 Gleditsch J.. Zur Deutung der Akupunkturmeridiane Kei-Ra-Ku.  Akupunktur - Theorie und Praxis  2 (1997);  96 ff
  • 09 Hammes M., Ots Th.. 33 Fallbeispiele zur Akupunktur aus der VR China - Ein klinisches Kompendium. Hippokrates, Stuttgart 1996: S. 7/8
  • 10 Helke W.. Aus einem Kursprogramm. Berlin 1995
  • 11 Jung C. G.. zitiert nach Wehr, G.: C.G. Jung:   Die Spiritualität - Faktoren der Selbstfindung. In: DU. Carl Gustav: Jung - Person, Psyche und Paradox.  Zeitschrift der Kultur. 8 (1995);  46
  • 12 Jung C. G.. In: Wilhelm, R.: C. G. Jung: Geheimnis der goldenen Blüte. 7. Aufl. Diederichs Gelbe Reihe, München 1986: S. 10 ff
  • 13 Kellner G.. In: Bergsmann, O.; Bergsmann, R.; Kellner, M.:Grundsystem und Regulationsstörungen. Haug, Heidelberg 1984: S. 15 ff
  • 14 Linck G.. Leib und Körper - Zum Selbstverständnis im vormodernen China. Peter Lang Verlag, 2001: S. 13
  • 15 ebenda S. 94
  • 16 Linck G.. Yin und Yang - Die Suche nach der Ganzheit im chinesischen Denken. Beck, München 2000: S. 9-10
  • 17 ebenda S. 43
  • 18 zur Lippe R.. Neue Betrachtung der Wirklichkeit - Wahnsystem Realität. EVA-Wissenschaft 1997: S. 173 ff
  • 19 ebenda S. 159
  • 20 ebenda S. 105
  • 21 Novotny H.. Eigenzeit - Die Suche nach dem ganzheitlichen Augenblick. In: Auf der Suche nach dem ganzheitlichen Augenblick - Der Aspekt der Ganzheit in den Wissenschaften. Züricher Hochschulforum Band 19. Verlag der Fachvereine an den schweizerischen Hochschulen, Zürich 1992: S. 27 ff
  • 22 Ots Th.. Welche Aufgaben warten auf eine Universitätsprofessur für TCM?.  Dtsch. Zschr. Akup.. 43 (3) (2000);  175 ff
  • 23 Schmitz H.. Leib und Gefühl - Materialien zu einer philosophischen Propädeutik. 2. Aufl. Jungfermann, Paderborn 1992: S. 135 ff
  • 24 ebenda S. 9
  • 25 Schwartz T.. Was wirklich zählt - Auf der Suche nach Weisheit und Lebenssinn heute. 3. Aufl. Ullstein 1998
  • 26 Tàpies A.. Identitätsveränderungen im Westen. In: Tàpies. Katalog zur Ausstellung im Haus der Kunst in München. Madrid. Verlag, Aldeasa 1999: S. 55
  • 27 von Weizsäcker C. F.. Westlicher und östlicher Geist. In: Lippe, R. zur: Kultur der Stille. N. F. Weitz, Aachen 1997: S. 32
  • 28 Uexküll, Fuchs, Müller-Braunschweig, Johnen. Subjektive Anatomie - Theorie und Praxis körperbezogener Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart 1994: S. 14 ff
  • 29 ebenda S. 47 und S. 76

Peter Reibisch

Praktischer Arzt

Strandweg 12

D-24248 Mönkeberg

Fax: 04 31/72 87 32

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