Psychiatr Prax 2002; 29(1): 45-46
DOI: 10.1055/s-2002-19676
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Walter Schulte: Nichttraurigseinkönnen im Kern melancholischen Erlebens (1961)

Inability to Mourn in the Core of Melancholic ExperienceRainer  Tölle
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Publication Date:
22 January 2002 (online)

Diese Arbeit verfasste Walter Schulte noch als Direktor der Landesheil- und Pflegeanstalt Gütersloh. Als sie erschien, war er bereits Ordinarius in Tübingen. Es handelt sich um eine systematische Untersuchung, die sich über mehrere Jahre erstreckt und die zuvor in Bethel (1947 bis 1954) gewonnene Erfahrungen einschließt.

Schulte begründet diese Studie so: Melancholisches Erleben hat zwar Forschung und Gesellschaft nicht so faszinieren können, wie schizophrenes. Meinte man aber, es sei weniger hintergründig, leichter ableitbar und durchschaubar, so wäre das eine Täuschung. Immer neu stehen wir Psychiater tastend und fragend vor diesem rätselhaften Geschehen …

Was Schulte mit „Melancholie” meint, muss für heutige Leser übersetzt werden. Seinerzeit bedeutete Melancholie das Gleiche wie endogene Depression. Jedoch wollte Schulte sowohl den obsoleten Begriff endogen als auch den inzwischen zerfließenden Terminus Depression vermeiden und sich der zwar altertümlichen aber eindeutigen Bezeichnung Melancholie bedienen. Diese Diagnose entspricht dem, was heute majore Depression mit melancholischen Merkmalen heißt (DSM-IV 296.22f bzw. 296.32f, je nach Schweregrad und Verlaufsform). Um abzukürzen, kann man von „melancholischer Depression” sprechen.

Zu seiner Methode schreibt der Autor: Um der Besonderheit dieses Erlebens näher zu kommen, wüsste ich keinen besseren Weg, als immer neu in die Äußerungen der Kranken und ihrer Umwelt hineinzuhorchen. Insbesondere will Schulte erfahren, wie sich der Melancholische in der Krankheit erlebt. Das ist die pathische Methode, wie Schulte sein Vorgehen in späteren Arbeiten genannt hat.

Vorab geht er auf die Angehörigen ein: wie sie die Erkrankung des Betroffenen erleben und darauf reagieren. Sodann formuliert er das Hauptthema: Von jeher werden als kardinale Merkmale der Melancholie grundlose Traurigkeit und Hemmung herausgestellt … Ist es denn aber überhaupt eine Traurigkeit? Das ist die Frage, die sich mir immer wieder aufdrängt. Hören wir doch hinein in das, was die Kranken zur Auskunft geben, wenn sie sich darüber äußern sollen, ob sie traurig sind, ob sie sich traurig fühlen.

Dem will Schulte nachgehen, ungeachtet der Mahnung K. Schneiders, die Beurteilung einer Stimmung dürfe sich nicht nach dem richten, was der Gestimmte selbst darüber sagt. Die folgenden Abschnitte sollen hier leicht gekürzt wiedergegeben werden: … der Grundton (ist) nicht zu überhören: Nicht traurig, sondern versteinert, leer, stumpfsinnig, gleichgültig, unlebendig, tot und ausgebrannt. „Traurigkeit”, so sagt eine melancholische Kranke, „das ist doch immerhin noch ein tiefes Gefühl. Was jetzt ist, ist etwas anderes. „Weder Trauer noch Freude.”

Es folgt ein geradezu beweisender Vorfall: Ein Patient konnte auf den plötzlichen Tod seines Sohnes während der Phase nicht entsprechend reagieren, keine Traurigkeit empfinden, und er litt darunter. Erst nach der Remission konnte er ermessen, was geschehen war, und er konnte weinen.

Schulte fährt fort: Mindestens bei den inzipient Melancholischen münden nahezu alle Antworten in die Erklärung, sie könnten gerade nicht traurig sein, so sehr sie es ersehnten, oder sie geben zu verstehen, dass sie sich schon durch diese Frage aus dem Vokabular normalpsychologischen Erlebens missverstanden fühlen. Die Antworten sind so durchgängig, dass ich mich zu der These veranlasst sehe, dass das Nichttraurigseinkönnen zum Kern des melancholischen Erlebens gehört. Es ist auch keine grundlose Traurigkeit (Weitbrecht), sondern überhaupt keine Traurigkeit … Der Traurige kann sein Gefühl mit anderen teilen, der melancholisch Kranke aber fühlt sich durch sein als nicht nacherlebbar und einmalig empfundenes Erleben geradezu ausgeklammert.

Schulte geht auf den nahe liegenden Einwand ein, dass sich manche melancholisch Kranke als traurig bezeichnen. Aber dann handele es sich um Traurigsein nicht über etwas Zugefügtes oder Vorenthaltenes, sondern eine Traurigkeit über sich selbst …Oder der Kranke benutze das Wort traurig wie eine Metapher; denn der melancholische Zustand sei unausdrückbar, unerklärlich und unvergleichbar.

Die Tränen, jene Ausdrucks- und Lösungsmittel echten Schmerzes und gesunder Traurigkeit sind bei der Melancholie ganz im Gegensatz zur depressiven Erlebnisreaktion weithin versiegt. Schulte zitiert auch hier einen Patienten wörtlich: „Ich müsste mir schon einen Automaten anschaffen, um überhaupt weinen zu können.” Es sei natürlich nicht zu übersehen, dass mancher Melancholische doch weine, aber dann handele es sich im Allgemeinen schon um die Remissionsphase.

Zu seinen Befunden merkt Schulte an, das Erleben auf der Höhe der Phase kann kaum weniger fremd als das Schizophrene anmuten. Der Autor betont den Charakter des Fremden. Er erörtert die diagnostischen Folgerungen, ausgehend von der bemerkenswerten Erfahrung der Uniformität der melancholischen Symptomatik, des Eindrucks einer großen Geschlossenheit. Das Nichttraurigseinkönnen sei nicht ein Randsymptom und nicht Kennzeichen einer Sondergruppe, sondern stelle einen zentralen unableitbaren Bestandteil melancholischen Erlebens dar, analog den Symptomen ersten Ranges in der Schizophrenielehre.

Hiervon könne die Differenzialdiagnose ausgehen und auch die Behandlung: Der Hauptgewinn kann aber den psychotherapeutischen Bemühungen zuteil werden. Einerseits wird allem Überspielen von nun einmal gesetzten Grenzen und Fremdheiten, allem falschen Bemühen, abzuleiten, zu überfordern oder gar auszureden, Einhalt geboten. Umso mehr kann Raum dafür gegeben werden, dass sich der Kranke paradoxerweise in der stillschweigenden Anerkennung der Unverstehbarkeit innerhalb des Möglichen besser verstanden und angenommen wissen kann als unter der Beteuerung der Einfühlbarkeit. Umso mehr wird für den Psychotherapeuten der Ort gewiesen, wo er mit ganzer Bejahung des Kranken, all seinen Selbstinterpretationen entgegen, nicht von seiner Seite zu weichen hat.

Diese psychotherapeutischen Erfahrungen hat Schulte später als kommunikative Psychotherapie des Melancholischen eingehender dargestellt. Dabei legt er besonderen Wert auf die Feststellung eines nicht einfühlbaren und nicht ableitbaren Erlebens, von dem der Kranke wisse, dass niemand, auch nicht der Arzt, seinen Zustand nachempfinden und verstehen kann.

Worauf dieses melancholische Erleben zurückzuführen sei, ist auch nach Schulte schwer auszumachen. Er sieht Beziehungen zwischen seinen Befunden und V. v. Gebsattels Werdenshemmung sowie W. Janzariks dynamische Reduktion, allerdings mit der Besonderheit, dass es sich bei Melancholischen (anders als vergleichsweise bei psychoorganischer Reduktion) um ein vermehrtes Bewusstsein der Reduktion, um eine erlebte Leblosigkeit handele.

Was besagt Schultes Studie heute? Die Befunde sind nach wie vor unabweisbar. Wenn man gelehrt wurde, sie zu sehen, trifft man sie immer wieder an. Das Nichttraurigseinkönnen ist zudem ein Argument für die Annahme einer besonderen, abgrenzbaren Depressionsform, der melancholischen Depression, die, wie gesagt, auch heute noch in der amerikanischen Klassifikation DSM vorgesehen ist, trotz aller unizistischen Tendenzen im Sinne einer einheitlichen depressiven Episode. Wenn man hiervon ausgeht, ist es relativ unerheblich, ob man die melancholische Depression als eine eigene Krankheit ansieht (wozu Schulte neigt) oder als einen Subtyp oder als einen Pol eines dimensionalen Systems.

Jedenfalls ist aus Schultes Studie zu lernen, dass es sich lohnt, ein derartig spezifisches Krankheitsbild abzugrenzen, sowohl für die Diagnostik und den Umgang mit dem Patienten als auch für die Indikationen zu Psychotherapie, Pharmakotherapie und anderen antidepressiven Verfahren.

Die referierte Arbeit ist auch ein Beispiel für die Ergiebigkeit der klinisch-psychiatrischen Forschung, die heute nur wenig gepflegt wird. Die Gegenwartspsychiatrie bevorzugt Psychopathometrie (z. T. mit gutem Grund, insbesondere um Behandlungsverläufe zu erfassen) und Kategorisierungen, die ihren Sinn bei der Klassifikation haben. Aber müssen die genannten Methoden einander ausschließen? Kann man sie nicht nebeneinander verwenden, je nach Fragestellung? Können nicht auch subtile Störungen, die wie das Nichttraurigseinkönnen mit klinischer Methode erfasst wurden, als gesicherte Befunde gelten, ohne dass sie einer psychopathometrischen Verifizierung unterzogen wurden? Warum sollte man auf dieses Wissen verzichten? Andererseits ist zu fragen, ob nicht die Störungen, die zunächst nur klinisch erfassbar erscheinen, doch mehr operationalisierend und quantifizierend untersucht werden können, als es bisher geschah.

Als Schultes Arbeit vor 40 Jahren erschien, stimmten die Fachleute allgemein zu: Ja, so ist es. Heute denkt der Referent: Es handelt sich um eine klassische Arbeit, deren Gültigkeit überdauert. Deshalb dieses „Wiedergelesen”.

Literatur

  • 1 Schulte W. Nichttraurigseinkönnen im Kern melancholischen Erlebens.  Nervenarzt. 1961;  32 314-320

Prof. Dr. med. Rainer Tölle

Albert-Schweitzer-Straße 11

48149 Münster

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