psychoneuro 2003; 29(7/08): 324-331
DOI: 10.1055/s-2003-42179
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung - Gibt es Optionen für Wahlleistungen?

Jürgen Fritze1
  • 1Pulheim
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Asternweg 65

50259 Pulheim

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Publication Date:
16 September 2003 (online)

Table of Contents

Im Wesentlichen als Folge relativ abnehmender beitragsrelevanter Einkünfte bei wirtschaftlicher Rezession wird inzwischen partei-übergreifend - wenn auch mit unterschiedlicher Nomenklatur - über die Bereinigung des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenkassen (GKV), die Ausgliederung von Leistungen, die Differenzierung von Grund- und Wahlleistungen danach, ob sie notwendig oder wünschenswert sind, die Entwicklung eines Kataloges von separat zu versichernden Wahlleistungen nachgedacht.

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Aussagen der Politik

Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 14.03.2003 kündigte ausdrücklich „die Überarbeitung und Straffung des Leistungskataloges der Gesetzlichen Krankenversicherung” an und nannte explizit das Krankengeld, das gemäß Entwurf des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes (GMG) durch den Bürger selbst - also ohne Beteiligung des Arbeitgebers - zu versichern sein soll, wenn auch als Pflichtversicherung in der GKV.

Zum Vorschlag, private Unfälle aus dem Leistungskatalog herauszunehmen, äußerte sich die Regierungserklärung sibyllinisch: „Dies ist eine Forderung, die wirklich eine ernsthafte Debatte lohnt. Ich zweifle aber daran, ob diese Forderung umgesetzt werden sollte, weil es fraglich ist, ob eine trennscharfe Abgrenzung zwischen krankheits- und unfallbedingten Leiden überhaupt möglich ist.” Der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Für ein freiheitliches, humanes Gesundheitswesen ...” fordert explizit die Einführung einer privaten Pflichtversicherung für den Zahnersatz (die 1998 abgeschafft worden war). Der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion „Mut zur Verantwortung - für ein freiheitliches Gesundheitswesen” fordert die private Absicherung der gesamten zahnmedizinischen Behandlung, der privaten Unfälle und des Krankengeldes. In der Rentenversicherung wurde bereits in der letzten Legislaturperiode die - bisher freiwillige - kapitalgedeckte, zusätzliche, private Vorsorge eingeführt (wenn auch hiervon unzureichend Gebrauch gemacht wird) als - überfällige - Anerkenntnis, dass der demographische Wandel eine alleinige Absicherung der Altersversorgung im Umlageverfahren nicht mehr zulässt.

Als Definitionskriterien für auszugliedernde Leistungen werden z.B. Gesundheitsschäden infolge Risikoverhaltens (Genussmittelkonsum, riskante Sportarten) als individuell abzusichern diskutiert. Der Präsident der Bundesärztekammer hat vorgeschlagen, die Psychotherapie auszugliedern. Das kann nur so interpretiert werden, dass vermeintlich selbstverschuldete und/oder vermeintlich leichte Gesundheitsstörungen zur Disposition gestellt werden sollen. Damit sind die mit psychischen Krankheiten befassten Fachgebiete aufgerufen, grundsätzliche Verfahrensregeln einzufordern, um Beliebigkeit vorzubeugen.

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Versicherungsbeitrag für unvorhersehbare Ereignisse oder andere Prioritäten?

Die gesetzlichen Krankenkassen sind Versicherungen. Sie unterscheiden sich von privaten Versicherungen nicht im Grundsatz, sondern in Ausgestaltungen. Grundsatz jeder Versicherung ist, das Individuum bei Eintritt unvorhersehbarer Ereignisse - hier Krankheiten - nicht in existenzielle finanzielle Not oder gar Verelendung geraten zu lassen. Solche Ereignisse sind dann unvorhersehbar, wenn die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens - also die Inanspruchnahme der Versicherung - eher gering ist. Je höher diese Wahrscheinlichkeit ist, desto höher müssen - eine Banalität - die Versicherungsbeiträge sein. Je höher die Beiträge werden, desto unattraktiver wird es, eine solche Versicherung abzuschließen. Stattdessen bevorzugt man dann, Risiken zu vermeiden und ggf. dennoch anfallende Kosten für solche Leistungen unmittelbar selbst zu übernehmen. Damit bewahrt sich der Bürger Freiräume zur Gestaltung der eigenen Ausgabenprioritäten. Schließlich wird man sich nur gegen solche Ereignisse versichern, deren Kosten eben tatsächlich eine bedeutsame oder die eigenen Möglichkeiten übersteigende Belastung darstellen. Davon abhängig lassen sich die individuellen Beiträge durch Selbstbehaltregelungen, d.h. durch die Ausgliederung von Risiken, mindern. Auch wenn es traurig klingt, so ist doch plausibel: Der Versicherte hat den Trend, den dem Versicherungsprinzip inhärenten Umverteilungsmechanismus auszunutzen und maximalen persönlichen Gewinn aus der Versicherung zu ziehen, sofern ihm daraus keine eigenen, unmittelbaren Nachteile erwachsen. Solche Nachteile (Selbstbeteiligungen, Zuzahlungen, Entgehen von Beitragsrückerstattungen) entfalten erst dann gegensteuernde Wirkungen, wenn sie schmerzhaft sind.

Gesetzliche („soziale”) und private Versicherungen unterscheiden sich im Ausmaß der Umverteilung zwischen den Versicherten; diese ist in der gesetzlichen maximal, indem ohne Risikoadjustierung die Beiträge bis zur Beitragsbemessungsgrenze prozentual an die Einkünfte gekoppelt sind, sodass „Reiche für Arme”, „Alleinstehende für Familien” und „Junge für Alte” bezahlen. Da die individuellen Risiken in der gesetzlichen Versicherung für die Beitragshöhe belanglos sind, ist es plausibel, dass die soziale Krankenversicherung durch Umlage finanziert wird. Umlage bedeutet, dass keine Rücklagen gebildet werden.

Demgegenüber werden die Beiträge privater Versicherungen grundsätzlich risikoadjustiert (z.B. auch in der Pkw-Haftpflicht) so kalkuliert, dass im Grundsatz die individuelle Summe der lebenslangen Ausgaben die Summe der Beiträge nicht übersteigt (Äquivalenzprinzip, Anwartschaftsdeckungsprinzip, Kapitaldeckungsprinzip). Je kürzer die zu erwartende, verbleibende Lebens- und damit Beitragszeit ist, desto höher muss der Versicherungsbeitrag ausfallen. Wegen des Zusammenhangs zwischen Alter und Krankheitskosten wird in jungen Jahren für das Alter angespart (Alterungsrückstellung).

Das Versicherungsrisiko meint nicht nur die Höhe einzelner Kosten, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, mit der Leistungen in Anspruch genommen werden, sodass die Kosten tatsächlich anfallen. Je näher die zu versichernden Leistungen dem täglichen Leben stehen, also zum normalen Leben nahezu zwingend gehören, desto weniger stellen sie schicksalhafte Ereignisse dar und desto wahrscheinlicher wird die Inanspruchnahme sein. Je häufiger aber die Inanspruchnahme, desto größer wird das Risiko des Versicherers, desto höher müssen (in einer privaten, kapitalgedeckten Versicherung) die Beiträge sein, desto weniger versicherbar wird die Leistung, und desto unattraktiver wird es, sich für solche Leistungen zu versichern.

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Häufige Ereignisse: Eigenvorsorge

Ein Beispiel, bei dem der Gesetzgeber bereits (nach langem Zaudern und vermutlich unzureichend) Konsequenzen gezogen hat, bietet die gesetzliche (umlagefinanzierte) Rentenversicherung. Sie wurde gegründet in einer Zeit, als ein hohes Alter zu erreichen noch den (schicksalhaften) Ausnahmefall darstellte. Dank verschiedener Verbesserungen der Lebensbedingungen, zu denen auch der medizinische Fortschritt einen (eher kleineren) Teil beigetragen hat, erreichen immer mehr Menschen ein hohes Alter [Abb. 1]. Damit wird dieses „Risiko” immer häufiger, immer alltäglicher: Die Überlebenskurven nähern sich einem rechtwinkligen Verlauf an, ein immer größerer Bevölkerungsanteil erreicht ein hohes Alter (Abb. 2). Folglich stellt das hohe Alter immer weniger einen zu versichernden „Schicksalsschlag” dar, sondern ist - der Logik des Versicherungsprinzips folgend - vielmehr zunehmend der Eigenverantwortung und Eigenvorsorge zu übertragen. Konsequent hat der Gesetzgeber die supplementäre, private, kapitalgedeckte (wenn auch staatlich geförderte) Rentenversicherung eingeführt: Der Bürger soll sich für das Alter ein ausreichendes Sparguthaben anlegen. Ein Beispiel aus der Medizin wäre der unkomplizierte Rückenschmerz (ohne neurologische Ausfälle), der bis zu 80 % der Bürger irgendwann im Leben mindestens einmal ereilt. Damit könnte der unkomplizierte Rückenschmerz, so unangenehm er und es auch sein mag, eigentlich in den Bereich der privaten Lebensführung gehören.

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Inhalte des Versicherungsschutzes

In der privaten Krankenversicherung gelten die Inhalte des Versicherungsschutzes unabänderlich für die Dauer des Vertragsverhältnisses; nur der Versicherungsnehmer hat das Recht zur Kündigung, auch zur Änderungskündigung, nicht aber das Versicherungsunternehmen. In der gesetzlichen Krankenversicherung legt der Gesetzgeber die Inhalte des Versicherungsschutzes fest und definiert - wie derzeit diskutiert - dessen Umfang nach Bedarf periodisch neu. In Teilbereichen hat der Gesetzgeber seine Definitionsmacht den Vertragsparteien der Selbstverwaltung übertragen, nämlich in Form des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen nach § 91 SGB V (bzw. des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen).

Das gültige SGB V lässt keinen beliebigen Leistungskatalog zu, sondern sieht Einschränkungen der Leistungsansprüche vor: Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12[1] SGB V). Der Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit wird der jeweils aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft zugrunde gelegt. Versicherte haben Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit (§§ 27 bis 52 SGB V), zur Verhütung von Krankheiten und von deren Verschlimmerung (§ 11[1] und § 23 SGB V), und zur Früherkennung von Krankheiten (§§ 25 und 26). Sie haben auch Anspruch auf medizinische und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation, die notwendig sind, um einer drohenden Behinderung oder Pflegebedürftigkeit vorzubeugen, sie nach Eintritt zu beseitigen, zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten. Leistungen der aktivierenden Pflege nach Eintritt von Pflegebedürftigkeit werden von den Pflegekassen erbracht (§ 11[2] SGB V).

Diese bestehenden Regelungen sind medizinisch vernünftig. Trotz dieser Regelungen scheint es aber schwierig zu sein, die sich daraus ergebenden Einschränkungen der Leistungsansprüche in der Realität umzusetzen. Tatsächlich existieren einzelne Beispiele, die gegen die Einschränkungen grob zu verstoßen scheinen. Sie sollten hier eigentlich nicht namentlich benannt werden, um keine Priorität vorzugaukeln, die unfundiert ist. Dennoch sei das Beispiel der Akupunktur genannt, da es die Probleme der Umsetzung exemplifiziert. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hat in einem sorgfältigen Gutachten (HTA-Report) dargelegt, dass die Wirksamkeit der Akupunktur in keiner Indikation belegt ist. Das bedeutet nicht, sie wäre wirkungslos (zumindest hat sie die Wirkung der Suggestion, und Suggestion kann mächtige Wirkungen entfalten). Damit ist die Akupunktur nach dem Stand der Wissenschaft nicht nur keine notwendige Leistung, sondern auch keine medizinisch sinnvolle.

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Notwendige, sinnvolle, wünschenswerte, gewünschte Leistungen

Wenn eine nicht notwendige und nicht sinnvolle Leistung dennoch gewünscht wird, so liegt diesem Wunsch eine Fehlwahrnehmung der Realität, ein Irrtum, zugrunde. Solche Irrtümer sind zahlreich. Sie sind schwer auszuräumen, wenn sie in Weltanschauungen wurzeln. In der aktuellen Diskussion werden gerade dem Wahlkatalog zuzuordnende Leistungen als nicht unbedingt notwendig, aber sinnvoll und wünschenswert beschrieben, ohne wahrhaftig im Sinne des Wortes wünschenswert zu sein. Gerade im Begriff „wünschenswert” spiegelt sich wider, dass einer solchen Leistung ein Wert zukommen muss. Im Falle von Krankheiten ist dies die überzufällige Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer gewünschten Konsequenz, also Heilung oder zumindest Besserung oder Linderung oder Verhüten von Verschlimmerung. Das aber ist medizinisch notwendige Heilbehandlung entsprechend des Standes der Erkenntnis, deren Wirksamkeit also statistisch abgesichert ist.

Die Ärzteschaft wollte die Akupunktur aus dem Katalog ausgeschlossen sehen, die GKV wollte sie aufnehmen. Die GKV wollte dies u.a. deshalb, weil sie die Akupunktur in der Vergangenheit außerhalb der Budgets finanziert hatte - und weil die Akupunktur nachgefragt - gewünscht - wird. Der derzeit beschrittene Weg der Konfliktlösung ist wissenschaftlich vernünftig, nämlich weitere, methodischen Anforderungen genügende Wirksamkeitsstudien durchzuführen, die - ein begrüßenswerter Präzendenzfall - erstmals von der GKV finanziert werden.

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Evidenzbasierung

Zum Finanzierungsproblem der GKV tragen solche Beispiele „wünschenswerter” (in Wirklichkeit primär gewünschter und nachgefragter, aber nicht nachgewiesen notwendiger) Leistungen vermutlich nur in geringem Umfang bei. Größere finanzielle Beiträge stammen z.B. von diagnostischen und therapeutischen Leistungen, die ein Übermaß darstellen. Es sei auf das Gutachten des Sachverständigenrates zur Über-, Unter- und Fehlversorgung des Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2001) verwiesen (www.svr-gesundheit.de), das auch Hinweise aus dem psychiatrischen Fachgebiet aufgenommen hat. Die Lösungsvorschläge bewegen sich im Rahmen der geltenden, o.g. gesetzlich vorgesehenen Leistungsansprüche. Zu den Lösungsvorschlägen gehört ganz wesentlich die Konkretisierung, was notwendig, ausreichend und wirtschaftlich sei, durch Evidenz-basierte Leitlinien. Diese Vorschläge sind wissenschaftlich schlüssig. Sie werden aber im Einzelfall Konflikte, wie den um die Akupunktur, nicht vermeiden helfen, erst recht nicht, wenn - wie am vom Bundesgesundheitsministerium einberufenen „runden Tisch” diskutiert und im Entwurf des GMG vorgesehen, die Leitlinienerstellung von der GKV mitbeeinflusst wird.

Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen wird die Evidenz-Basierung von Leitlinien an ihre Grenzen stoßen, denn in ihrer Konsequenz würden diesen Kranken potenziell heilende oder das Leben verlängernde oder die Lebensqualität verbessernde Behandlungen vorenthalten, weil der Wirksamkeitsnachweis noch nicht abschließend erbracht wurde, es sei denn, sie erhielten diese im Rahmen experimenteller Studien. Das wäre wissenschaftlich grundsätzlich vernünftig, humanitär aber nur dann vertretbar, wenn jeder Betroffene die Chance hätte, in eine solche Studie aufgenommen zu werden. Auf die - derzeit brisante - Finanzierungsproblematik solcher Studien (z.B. off-label-use in onkologischen Therapieoptimierungsstudien) sei nur hingewiesen. Ein solches restriktives Vorgehen, experimentelle Therapie nur innerhalb methodisch adäquater Studien zulasten der GKV anzubieten, wäre vermutlich schwer durchzusetzen und durchzuhalten. Eine solche Regelung (wo keine adäquat belegte Evidenz, da Anwendung nur im Rahmen experimenteller Studien) müsste selbstverständlich auch für komplementärmedizinische Verfahren gelten. Dem entspricht nicht die aktuelle Rechtslage, indem den besonderen Therapierichtungen besondere „Nachweisoptionen” („Binnenbegründung”, „Binnenbegutachtung”, Bewertung anhand der Wissenschaftsvorstellungen dieser Richtung) zugestanden werden.

Das Beispiel Akupunktur illustriert, dass Kernleistungen und Wahlleistungen sich nicht abschließend wissenschaftlich begründet nach den Kriterien medizinisch notwendig versus sinnvoll und „wünschenswert” (gewünscht) von einander abgrenzen lassen. Schon nach derzeitiger Rechtslage dürfte die GKV gewünschte (was eben nicht wünschenswerte in engerem Sinne bedeutet) aber nicht notwendige und nicht sinnvolle Leistungen nicht gewähren. Wenn (falls) sie es dennoch tut/täte, so liegt/läge dies an Partikularinteressen und/oder - vermutlich bedeutsamer - unzureichender Datenlage. Hiervon gibt es Ausnahmen. Z.B. übernimmt die GKV nur die gesetzlich vorgeschriebenen Impfungen, obwohl - z.B. im Zusammenhang mit Fernreisen - weitere Impfungen medizinisch sinnvoll (und nach wissenschaftlichen Kriterien medizinisch notwendig) sind. In diesem Bereich der Präventivmedizin finden sich weitere Beispiele. Für solche nicht nur wünschenswerten, sondern medizinisch notwendigen Wahlleistungen bieten einzelne private Krankenversicherer bereits jetzt private Zusatzversicherungen an.

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Normative Bestimmung des Leistungskataloges

Nach medizinisch-wissenschaftlichen Kriterien lässt sich also das derzeit diskutierte Ziel, zwischen Kernleistungen zulasten der GKV und selbst zu finanzierenden (oder privat zu versichernden) Wahlleistungen zu differenzieren, nicht abschließend erreichen. Dennoch kann eine solche Differenzierung eine unter mehreren Komponenten der Weiterentwicklung des GKV Leistungskataloges sein. Die Differenzierung kann abschließend aber nur normativ gelingen. Der Versuch, die Differenzierung allein aus medizinisch-wissenschaftlichen Argumenten ableiten zu wollen, muss aus den dargelegten, grundsätzlichen Erwägungen scheitern.

Gewünschte - mitunter fälschlich als wünschenswert bezeichnete (s.o.) - Leistungen, die medizinisch nicht notwendig und nicht wirklich sinnvoll sind, können nach geltender Rechtslage schon jetzt aus dem Leistungskatalog ausgegliedert werden (und werden dies zunehmend). Ein fast schon historisches Beispiel ist die gesetzlich vorgeschriebene (§ 34 SGB V), vom Verordnungsgeber definierte sog. Negativliste nicht zulasten der GKV verordnungsfähiger Arzneimittel. Hier schreibt bereits das Gesetz (§ 34 SGB V) vor, dass „Arzneimittel auszuschließen sind, die ihrer Zweckbestimmung nach üblicherweise bei geringfügigen Gesundheitsstörungen verordnet werden.” Dazu gehören z.B. Arzneimittel zur Behandlung grippaler Infekte bei Erwachsenen.

Auch die gesetzlich vorgesehene, wenn auch unverändert nicht in Kraft getretene Positivliste trägt zur Eingrenzung des Leistungskataloges bei. Gemäß § 33a SGB V Abs. 7 sind nur solche Arzneimittel aufzunehmen, „die für eine zweckmäßige, ausreichende und notwendige Behandlung, Prävention oder Diagnostik von Krankheiten oder erheblichen Gesundheitsstörungen geeignet sind; Voraussetzung für diese Eignung ist ein mehr als geringfügiger therapeutischer Nutzen, gemessen am Ausmaß des erzielbaren therapeutischen Effekts”. Nicht aufzunehmen sind Arzneimittel, „die für geringfügige Gesundheitsstörungen bestimmt sind ...”. Die Bewertungen sollen sich an den wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren (mit Ausnahme der Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen), wobei Transparenz leider nur bedingt vorgesehen ist [4].

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Evidenzbasierte Definition des Leistungskataloges

Die Definition des Leistungskataloges hat der Gesetzgeber aber i.W. dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (§ 92 SGB V) aufgegeben. Da dessen Mitglieder potenziell nicht frei von - sogar übereinstimmenden - Partikularinteressen sind und der Gesetzgeber vom Bundesausschuss nur bedingte Transparenz seiner Entscheidungen verlangt, könnten Leistungsausgliederungen durch den Bundesausschuss anfällig für Beliebigkeit sein. Hiervor schützt allerdings, dass die Partikularinteressen in der Regel gegensätzlich sind, und die Rechtsaufsicht durch das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS). Immerhin gibt es Beispiele, dass dieser Schutz versagen kann (Ergänzung der Arzneimittel-Richtlinien (AMR) um Therapiehinweise zu „Atypischen Neuroleptika”; 3). Das im Entwurf des GMG vorgesehene „Zentrum für Qualität in der Medizin” könnte vom Einfluss solcher Partikularinteressen und von Mängeln der Transparenz frei gehalten werden. Könnte darin der Grund liegen, dass das Konzept eines „Zentrums für Qualität in der Medizin” gerade deshalb von verfasster Ärzteschaft und GKV gemeinsam derzeit mit eindrucksvoller Vehemenz bekämpft wird?

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Gewünschte Leistungen versicherbar?

Ob gewünschte - medizinisch nicht notwendige - Leistungen wirklich versicherbar sind, darf bezweifelt werden. Wer solche Leistungen, deren Notwendigkeit sich nicht stringent definieren lässt, nämlich als Wahlleistungen versichern will, wird die Leistungen auch mit hoher Wahrscheinlichkeit in Anspruch nehmen. Entsprechend hoch werden die Versicherungsbeiträge ausfallen müssen, was die Attraktivität einer solchen Versicherung fraglich erscheinen lässt und das Versicherungsprinzip letztlich ad absurdum führt: versicherbar sind letztlich nur unverhersehbare Risiken, also keine regelmäßige Inanspruchnahme.

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Selbstverschulden als Kriterium?

Die Diskussion geht längst über die Ausgliederung gewünschter, wenn auch medizinisch fragwürdiger Leistungen hinaus. Das lassen die o.g. Anträge der CDU/CSU- bzw. FDP-Fraktion erkennen. Die Anträge bedeuten die Einführung einer privaten Versicherungspflicht für zweifellos medizinisch notwendige Leistungen. Beide Anträge definieren die aus dem GKV-Katalog auszugliedernden Leistungen allein normativ. Dabei lassen sich die der Ausgliederung zugrunde liegenden Argumente nur implizit erkennen: das Prinzip des Selbstverschuldens. Die Notwendigkeit z.B. des Zahnersatzes lässt sich durch prophylaktische Zahnhygiene bestens vermeiden, die Notwendigkeit der Behandlung privater Unfallfolgen durch risikoadäquates Verhalten. Es soll dahingestellt bleiben, ob dieses Verfahren der allein normativen Ausgliederung hier zu einem dem Bürger nachvollziehbaren, rationalen Ergebnis führt.

Immerhin sei auf die Grenzen des normativen Verfahrens hingewiesen, aus „Selbstverschulden” auf Selbstverantwortung (Subsidiarität) rückzuschließen: Privates Risikoverhalten (Genussmittelkonsum, also Nikotin, Alkohol, Drogen, aber auch Überernährung mit resultierendem Übergewicht; Risikosportarten, aber auch Fahrradfahren, Motorradfahren, Autofahren) sind einerseits alltäglich, andererseits im Einzelfall kaum beweisbar. Deshalb wird es in der Praxis schwer sein, daraus schlüssig einen Leistungsausschluss abzuleiten. Im Einzelfall ist auch nicht auszuschließen, dass das Risikoverhalten Ausdruck einer Krankheit ist (z.B. Alkoholkrankheit, etc.). Es wäre den Bürgern schwerlich zu vermitteln, bestimmtes Risikoverhalten zu sanktionieren, anderes aber nicht. Übergewicht betrifft rund die Hälfte der Bevölkerung, exzessives Übergewicht (Adipositas) immerhin - mit wachsendem Trend - rund 15 %.

Privates Risikoverhalten ist oft Konsumverhalten und letztlich gesamtgesellschaftlich auch als Teil des Wirtschaftsmotors erwünscht (z.B. Ski-Tourismus). Plausibler als das Individuum mit Sanktionen (z.B. Risikozuschläge; Leistungsausschlüsse) zu belegen, wäre, auf die entsprechenden Waren (Alkohol, Tabak, Motorräder, etc.) und Dienstleistungen Abgaben zu erheben (bzw. aus bestehenden entsprechenden Steuern abzugrenzen), mit denen die Krankenversicherung subventioniert werden könnte. Die Höhe solcher Abgaben ließe sich aus gesundheitsökonomischen Analysen ableiten, was die Akzeptanz durch die Bevölkerung erhöhen würde.

In diese Richtung geht zwar der aktuelle Plan, die zusätzlichen Einnahmen aus einer Erhöhung der Tabaksteuer dem Gesundheitssystem zuzuführen. Leider sollen diese Steuereinnahmen aber nicht verursachungsgerecht verwendet werden, sondern der Refinanzierung versicherungsfremder Leistungen dienen. Danach müsste also möglichst reichlich geraucht werden, um Mutterschaftsgeld und Empfängnisverhütung u.a.m. zu finanzieren.

Zweifellos verheerend und gesundheitsökonomisch widersinnig wäre, wenn dem Verschuldensprinzip folgend z.B. die Alkoholkrankheit oder - dem Vorschlag des Präsidenten der Bundesärztekammer folgend - die Psychotherapie aus dem Leistungskatalog normativ ausgegliedert würde.

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Evidenzbasierte und normative Definition des Leistungskataloges

Schlussendlich stellt sich die Frage, ob es Alternativen zum normativen Verfahren gibt. Die Frage nach solchen Alternativen wird sich künftig desto drängender stellen, wenn der Leistungskatalog angesichts weiter wachsender Nachfrage nach Gesundheitsleistungen bei nicht in gleichem Maße wachsenden Ressourcen weiter eingegrenzt werden muss. Dazu wird es dank medizinischen Fortschritts mit neuen, zunehmend kostspieligeren Behandlungsmöglichkeiten und infolge demographischen Wandels zweifellos kommen. Solange das Leben mit dem Tode endet und dem Tod in der Regel Krankheit vorausgeht, wird die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen grundsätzlich unbegrenzt bleiben.

Eine Alternative liegt in einer systematischen Priorisierung anhand epidemiologischer und gesundheitsökonomischer („cost-effectiveness”, usw.) Parameter [1] [2]. Gesundheitsökonomische Analysen erlauben, in einem jedermann transparenten Verfahren medizinisch notwendige Leistungen in eine Rangreihe zu bringen, wobei sich wünschenswerte von weniger wünschenswerten Leistungen dann normativ abgrenzen lassen. Die weniger wünschenswerten, das wären auch solche, die bei Inanspruchnahme den einzelnen Bürger nicht in eine existenzielle Notlage bringen, deren Kosten also im Sinne der Subsidiarität zu übernehmen dem Bürger selbst zugemutet werden könnte, würden dann ausgegliedert. Dieser Gedanke ist dem SGB V bereits jetzt nicht fremd (Negativliste gemäß § 34 SGB V, s.o.). Solche Leistungen könnten durch systematische gesundheitsökonomische Analysen identifiziert werden. Dadurch ließe sich Beliebigkeit vermeiden und der notwendige gesamtgesellschaftliche Konsens erleichtern. Dies ist das Thema der Priorisierung von Gesundheitsleistungen, d.h. expliziter und rational begründeter Rationierung. Nur einer nachvollziehbaren wissenschaftlichen Methodik folgende Priorisierung kann gerecht sein. Die psychisch Kranken stehen in besonderer Gefahr, Opfer der Beliebigkeit zu werden. Während die Debatte über die Priorisierung in anderen Ländern längst offen geführt wird, ist sie in Deutschland angesichts der bestehenden, verborgenen und ungeregelten Rationierung längst überfällig.

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Abb. 1 Lebenserwartung bei Geburt zum Zeitpunkt X im internationalen Vergleich (World Population Prospects: The 2002 Revision and World Urbanization Prospects: The 2001 Revision)

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Abb. 2 Anteil der 65-Jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung im internationalen Vergleich (World Population Prospects: The 2002 Revision and World Urbanization Prospects: The 2001 Revision)

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Literatur

  • 1 Fritze J. Therapie mit atypischen Neuroleptika aus gesundheitspolitischer Sicht: Versuch einer gesundheitsökonomischen Analyse.  In: Möller H-J, Müller N (Hrsg) Atypische Neurolepika.  Darmstadt, Steinkopff. 1999;  123-154
  • 2 Fritze J. Ist die Budgetierung im Gesundheitswesen ethisch vertretbar?.  Psycho. 2000;  26 95-99
  • 3 Fritze J, Schmauß M. Änderung der Arzneimittel-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen bezüglich atypischer Neuroleptika.  Psychoneuro. 2003;  29 20-22
  • 4 Fritze J, Schmauß M, Holsboer F. Was bedeutet die Vorschlagsliste verordnungsfähiger Arzneimittel (sog. Positivliste) für die Psychopharmakotherapie? Stellungnahme für den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und den Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP).  Psychoneuro. 2003;  29 123-125
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Korrespondenzadresse:

Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

Asternweg 65

50259 Pulheim

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Literatur

  • 1 Fritze J. Therapie mit atypischen Neuroleptika aus gesundheitspolitischer Sicht: Versuch einer gesundheitsökonomischen Analyse.  In: Möller H-J, Müller N (Hrsg) Atypische Neurolepika.  Darmstadt, Steinkopff. 1999;  123-154
  • 2 Fritze J. Ist die Budgetierung im Gesundheitswesen ethisch vertretbar?.  Psycho. 2000;  26 95-99
  • 3 Fritze J, Schmauß M. Änderung der Arzneimittel-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen bezüglich atypischer Neuroleptika.  Psychoneuro. 2003;  29 20-22
  • 4 Fritze J, Schmauß M, Holsboer F. Was bedeutet die Vorschlagsliste verordnungsfähiger Arzneimittel (sog. Positivliste) für die Psychopharmakotherapie? Stellungnahme für den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und den Vorstand der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP).  Psychoneuro. 2003;  29 123-125
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Abb. 1 Lebenserwartung bei Geburt zum Zeitpunkt X im internationalen Vergleich (World Population Prospects: The 2002 Revision and World Urbanization Prospects: The 2001 Revision)

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Abb. 2 Anteil der 65-Jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung im internationalen Vergleich (World Population Prospects: The 2002 Revision and World Urbanization Prospects: The 2001 Revision)