Sprache · Stimme · Gehör 2004; 28(1): 1
DOI: 10.1055/s-2004-815476
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

EditorialG. Szagun1
  • 1Institut für Kognitionsforschung, Oldenburg
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Publication Date:
24 March 2004 (online)

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Spracherwerb bei Kindern erfordert ein Expertenwissen, das aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen schöpft. Mindestens zu nennen sind: die Psychologie, und hier speziell die Entwicklungspsychologie und psychologische Diagnostik, die Linguistik, sowie die kognitiven Neurowissenschaften. Entwicklungstheorien, Systematiken und und methodische Vorgehensweisen dieser Wissenschaftsdisziplinen werden bei der Untersuchung des Spracherwerbs genutzt. Auch in der Praxis, etwa bei der Erkennung und Behandlung von Spracherwerbsverzögerungen, ist es geboten, mit wissenschaftlich fundierten diagnostischen Methoden zu einer Bewertung zu kommen, und Therapiemaßnahmen vor dem Hintergrund von entwicklungspsycholinguistischem Wissen durchzuführen. Die Artikel dieses Schwerpunktthemas sollen dazu dienen, eine Grundlage dieses Wissens in verschiedenen Aspekten des frühen Spracherwerbs zu geben.

Die hier behandelten Aspekte umfassen die frühe Sprachwahrnehmung, neurobiologische und entwicklungsmäßige Grundlagen von Sprache, den Grammatikerwerb, den Wortschatzerwerb in seinem Bezug zur kognitiven Entwicklung, den Einfluss der Sprache Erwachsener, und die Diagnostik von Spracherwerbsstörungen. Barbara Höhle gibt eine Übersicht über die in neuerer Zeit sehr extensiven Forschungen zur Sprachwahrnehmung bei Babys und diskutiert, in welcher Weise Errungenschaften der frühen Sprachwahrnehmung möglicherweise mit dem späteren Spracherwerb im Zusammenhang stehen könnten. Gisela Szagun stellt einige Ergebnisse der neuropsychologischen Forschung zur Spezifizierung von Hirnregionen für die Verarbeitung von Sprache sowie entwicklungstheoretische Konzepte der ‚sensiblen Phase‘ und der ‚Stufe‘ vor. Um den Erwerb von Grammatik und Wortschatz geht es in den nächsten beiden Artikeln. Heike Behrens zeigt an ausgewählten Aspekten des Grammatikerwerbs auf, wie grammatische Strukturen unter Einbezug phonologischen, semantischen und prosodischen Wissens aufgebaut werden, und wie die Erweiterung des Arbeitsgedächtnisses auf den Syntaxerwerb wirkt. Sabine Weinert gibt einen umfangreichen Überblick über den Wortschatzerwerb und zeigt die wechselseitigen Beziehungen von Wortschatzerwerb und kognitiv-konzeptueller Entwicklung auf, wie auch auch den Einfluss von auditiver Informationsverarbeitung und Arbeitsgedächtnis auf den Erwerb von Wörtern.

Der Einfluss, den die Sprache Erwachsener auf den Spracherwerb haben kann, ist ein Thema, das besonders dann, wenn man gezielt Einfluss nehmen möchte, nämlich bei der Sprachtherapie, von hoher Bedeutung ist. Matthias Rüter beschreibt zunächst die Sprache, die Erwachsene typischerweise an kleine Kinder richten und diskutiert dann Forschungsergebnisse zu deren möglichem Einfluss auf den Spracherwerb. Der Artikel von Hermann Schöler und Kristin Scheib befasst sich mit Anforderungen, die an eine Diagnostik von Spracherwerbsstörungen zu stellen sind. Die Heterogenität von Spracherwerbsstörungen erfordert eine umfassende und differenzierende Diagnostik und eine solche, die die Gütekriterien psychologischer Testinstrumente erfüllt. Auf diesem Gebiet ist gerade im deutschsprachigen Raum noch einige Arbeit erforderlich.

Mit den vorliegenden Artikeln hoffen wir, der Verbreitung von Expertenwissen zum Spracherwerb zu dienen.

Prof. Dr. Gisela Szagun

Institut für Kognitionsforschung

Fb 5, Psychologie, A 6

Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg

Postfach 2503

26111 Oldenburg

Germany

Email: Gisela.szagun@uni-oldenburg.de

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