Das Interesse in der HNO-Heilkunde und psychosomatischen Medizin für den Hörsturz
hat in den letzten 50 Jahren deutlich zugenommen. Auf die Beteiligung psychischer
Prozesse hat bereits Adam Politzer in seinem 1887 erschienenen „Lehrbuch der Ohrenheilkunde”
hingewiesen, wo er auch den Hörsturz systematisch beschrieb (siehe [13 ]): „Schließlich sind noch die Gemüthsaffecte als ursächliches Moment von Erkrankungen
des Hörnervenapparates anzuführen. Obwohl im Ganzen selten, sind solche Vorkommnisse
doch durch die Erfahrung festgestellt und ich habe in meiner Praxis mehrere Fälle
verzeichnet, welche durch Schreck, z.B. bei Feuersgefahr oder durch plötzlich hereingebrochenen
tiefen Kummer von temporären oder bleibendem Ohrensausen oder von Schwerhörigkeit
befallen wurden. Es ist dies erklärlich, wenn man bedenkt, dass die Gemüthsaffecte
zu den stärksten, auf die Gefässnerven (die Vasoconstrictoren und Dilatatoren) wirkenden
Reizen zählen.”
Klinik
Klinik
Wegen seines plötzlichen („Sturz”) und unerwartenden Auftretens ist der Hörsturz für
viele Betroffene mit Erschrecken und Unsicherheit, längerfristig auch mit Angst vor
einer unerklärlichen Erkrankung und weiterer Verschlechterung verbunden. Am Anfang
verspüren die Betroffenen die plötzlich einsetzende Hörminderung („wie Watte”), die
innerhalb von Sekunden oder Minuten aus völligem Wohlbefinden heraus eintreten kann.
Gelegentlich geht dem Hörsturz ein Druckgefühl im Ohr voraus oder in seltenen Fällen
wird ein Schwank- oder Drehschwindel angegeben. In auffallend vielen Fällen wird der
in der Regel einseitig auftretende Hörsturz beim morgendlichen Aufwachen bemerkt.
Tinnitus ist entgegen landläufiger Meinungen nie der Vorbote eines Hörsturz, in 60
% der Fälle jedoch ein Folgesymptom, das sich innerhalb weniger Stunden bis Tagen
einstellt. Oft bemerken die Patienten den Tinnitus im Zusammenhang mit der Gehörerholung.
Ein ausbleibender Tinnitus ist bezüglich der Gehörerholung eine prognostisch eher
ungünstige Konstellation [1 ].
Nach heutigem medizinischen Verständnis wird Hörsturz nicht als eigenständige Krankheit,
sondern als Symptom unklarer Genese (Ursache) verstanden. Es handelt sich um eine
partielle, selten komplette, Funktionsstörung des Innenohrs. Auch ohne Behandlung
erholt sich das Gehör in 25 bis 75 % der Fälle, wobei eine Schädigung im Tieftonbereich
sich häufiger spontan zurückbildet. Des weiteren ist die Spontanerholungsrate um so
günstiger, je jünger die Patienten sind und je besser der Ausgangszustand des entsprechenden
Gehörs ist. Definitionsgemäß ist als Ursache ein Akustikusneurinom, der Menière-Anfall,
Ruptur des runden Fensters, Baro-Trauma, Otosklerose, Periarteriitis nodosa, psychogene
Hörstörung, u.a. auszuschließen. Erst wenn keine plausiblen Erklärungen für die Funktionsstörung
des Innenohrs gefunden werden, wird man korrekter Weise von einem idiopathischen Hörsturz
sprechen können.
Häufigkeit
Häufigkeit
Die Forschung zum Hörsturz hat erst richtig eingesetzt, als durch Erweiterung der
HNO-Diagnostik einschließlich Einführung der Audiometrie der Hörsturz besser von der
psychogenen Hörstörung abgegrenzt werden konnte. So wurden noch im ersten Weltkrieg
Soldaten, die im Geschützdonner vorübergehend ertaubten, als „Kriegsneurose des Ohres”
verkannt!
Der Hörsturz zählt zu den zunehmenden Krankheitsbildern mit schätzungsweise 10 bis
35 neuen Fällen auf 100 000 Einwohner pro Jahr [13 ]. Für Deutschland müsste demnach eine jährliche Inzidenzrate von etwa 15 000 Neuerkrankungen
angenommen werden. Es muss allerdings von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.
Nach klinischen Studien treten etwa 60 % der Hörstürze zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr
auf (mit einem mittleren Altersdurchschnitt von etwa 46 Jahren). Aber auch Kinder
können von Hörsturz betroffen sein [16 ]. Die Hörsturzhäufigkeit verteilt sich zwischen Männer und Frauen ähnlich. Unterschiede
zwischen ländlichen und städtischen Regionen sind nicht bekannt. Nach dem Erstauftreten
eines Hörsturz muss in knapp 10 % der Fälle mit einem Rezidiv gerechnet werden. Befragt
man Berufsgruppen nach Hörsturz, so scheinen akademische Berufe (Universitätsprofessoren)
mit einer Lebenszeitprävalenz von 5 % am häufigsten betroffen zu sein [3 ].
Stressbedingte Aspekte
Stressbedingte Aspekte
Der Begriff „Stress” geht u.a. auf den kanadischen Biologen Dr. Hans Selye zurück,
der ihn in den 50er-Jahren in die Medizin einführte. Er definiert damit eine „nichtspezifische
Reaktion des Körpers auf jede an ihn gerichtete Anforderung” wie Not, Druck, Anspannung.
Stress ist somit die körperliche Antwort des Organismus auf bedrohliche oder herausfordernde
Situationen, mit deren Hilfe die zu ihrer Bewältigung notwendige Energie bereitgestellt
wird. Von ihm stammen auch die Begriffe „Eu-Stress” (für positiven Stress) und „Dis-Stress”
(für negativen Stress). Kennzeichen des Eu-Stress ist ein positives Gefühl der Herausforderung,
die bereitgestellte Energie wird in der Regel verbraucht. Dis-Stress wird als bedrohlich
erlebt, die bereitgestellte Energie wird meist nicht abgebaut.
Neben biologischen bzw. medizinischen Variablen wird für die Erklärung des Hörsturz
von Klinikern und Psychotherapeuten gleichermaßen häufig Stress bzw. emotionale Belastung
als bedeutender ätiologischer Faktor genannt. Auch die Betroffenen sehen dies ähnlich:
So finden sich in Statistiken von Patienten psychosomatischer Kliniken mit dekompensiertem
chronischen Tinnitus bis zu 53 % Patienten, deren Tinnitusursache auf einen Hörsturz
zurückgeführt wird [6 ]
[7 ]. Diese von den Prävalenzdaten extrem abweichende Häufung erklärt sich durch das
Verständnis der Hörsturzbetroffenen, die eine Psychotherapie als Rezidivprophylaxe
eines Hörsturz ansehen und entsprechend erwartungsvoll in eine psychotherapeutischen
Behandlung kommen [8 ].
Es existieren eine Reihe von Arbeiten zu psychischen Aspekten bei Hörsturz, wobei
die Ergebnisse von ca. 14 Arbeitsgruppen als wissenschaftlich akzeptabel erscheinen.
Insgesamt wurden damit unterschiedliche psychische Bereiche bei mehr als 850 Hörsturz-Patienten
empirisch untersucht. Neuere Arbeiten konnten ihre Befunde mit Kontroll- und Vergleichsgruppen
absichern. Die eingesetzten psychometrischen Testverfahren sind weitgehend valide.
Zusammenhänge mit Lebensbelastungen
Zusammenhänge mit Lebensbelastungen
Beobachtungen über psychosomatische Zusammenhänge, wie sie Fowler 1950 [4 ] erstmals systematisch zusammenstellte, wurden durch zahlreiche empirische Untersuchungen
bestätigt. Globale Befragungen (z.B. „Hatten Sie psychischen Stress?”) zeigten je
nach Untersuchern allerdings unterschiedlich stark variierende Ergebnisse.
Methodische Probleme ergeben sich wie bei allen ähnlich gelagerten Studien dadurch,
dass Stressfaktoren durch die Betroffenen eventuell erst im Nachhinein als Erklärungsmodell
angesehen werden, da andere Erklärungen fehlen und es einem weitverbreiteten Bedürfnis
des Menschen entspricht, Erklärungen für Schicksalsereignisse zu finden. Auch sind
sich wandelnde Weltbilder Einflussgrößen für solche Bereiche: Bei Fowler [4 ] gaben nur etwa 10 % der Betroffenen von sich aus psychische Auslöser an, gegenüber
den Patienten von Kropp & v. Rad [11 ] bzw. Lamparter [12 ], von denen über 70 % spontan „Stress” als Hörsturzauslöser nannten.
Zusammenhänge mit individuellen Aspekten
Zusammenhänge mit individuellen Aspekten
Oft fällt den behandelnden Ärzten auf, dass viele Patienten mit Hörsturz sich als
besonders sozial engagiert darstellen und z.B. sich in Lehrberufen besonders häufen
[3 ]. So wurde bei der Suche nach biographischen Besonderheiten, Persönlichkeitsmerkmalen
und besonderen Lebensbewältigungsstilen von der modellhaften Vermutung (Hypothese)
ausgegangen, dass solche Faktoren z.B. einen in einer bestimmten Weise defizitären
Lebensstil bedingen, der dann im klassischen Sinn der Psychosomatik eine vegetative
Fehlsteuerung mit körperlicher Folge (Hörsturz) verursacht.
Erste systematische Befunde zu Persönlichkeitsmerkmalen wurden von Dohse et al. [2 ] bei 30 Hörsturz-Patienten im Vergleich zu 35 Otosklerose-Patienten erhoben. Die
Hörsturzbetroffenen erschienen vermehrt nervös und weniger selbstbewusst. Einzelheiten
zur Stichprobe, Untersuchungsvorgehen und Statistik sind unklar; es werden ohne Mittelwertsangaben
Abweichungen gegenüber Normstichproben in einigen Skalen des Freiburger Persönlichkeitsinventar
(FPI-R) berichtet.
Neusser & Knoop [14 ] fokussierten in Ihrer Untersuchung bei 56 Akut-Hörsturzpatienten die lebensverändernden
Ereignisse und Persönlichkeitsmerkmale (1 Wochenfenster, keine Angaben zum Hörtest)
im Vergleich zu Krankenhauspersonal. Ausgeschlossen wurden Patienten, bei denen die
Infusionstherapie keine rasche Erholung des Gehörs bewirkte. Es fanden sich mehr belastende
und anhaltende Lebensereignisse sowie erhöhte Werte für Depression und Hysterie (MMPI),
die sich insgesamt jedoch im Bereich der Durchschnittsbevölkerung bewegten.
Kropp & von Rad [11 ] beobachteten in einer explorativen Untersuchung (Non-direktives Gespräch) von 64
Hörsturzpatienten mit 90 Hörstürzen in 59 von 90 Fällen keine spezifischen Persönlichkeitsmerkmale.
Die Patienten berichteten „von sich aus über einen zeitlichen Zusammenhang” zwischen
starker psychischer Belastung und Hörsturz. Die Untersucher selbst sahen nur in sieben
Fällen einen solchen Zusammenhang als gegeben an, in den restlichen 24 Fällen verwarfen
sie einen derartigen Zusammenhang.
Ein größerer Datensatz zur Biographie von Hörsturz-Patienten ist der Promotionsarbeit
von Hoffmeister [9 ] aus Tübingen zu entnehmen. Hier wurden 58 Patienten mit akutem Hörsturz im Vergleich
zu einer Gruppe von Menière-Patienten, Migräne-Patienten, Kopfschmerz-Patienten und
einer Gruppe von gesunden Personen mit einem Fragebogen zur Biographie untersucht.
Am unauffälligsten stellten sich die Hörsturz-Patienten dar: Sie schilderten ihre
Ursprungsfamilie als sehr ideal, es gab wenig Streitigkeiten zwischen den Eltern im
Gegensatz zu den sehr negativ urteilenden Kopfschmerz-Patienten. Bis auf eine etwas
unpünktliche und weniger fürsorgliche Mutter wurden die Eltern als ideale Personen
beschrieben. Der Erziehungsstil war bei den Hörsturz-Patienten am demokratischsten
und es wurden wenige Schulprobleme erinnert. Auch die aktuelle Partnerschaft wurde
im Gegensatz zu den anderen Vergleichs- und Kontrollgruppen als besonders zufriedenstellend
beschrieben. Sie schätzten sich pünktlich, ordentlich und hilfsbereit im Sinne einer
Überangepasstheit ein. Erst auf den zweiten Blick fiel ein extrem sozial erwünschtes
Verhalten auf, das heißt, Hörsturzbetroffene scheinen vor anderen und vielleicht auch
vor sich selbst ihre Situation im Sinne gesellschaftlicher Erwartungen idealisierend
darzustellen.
Eine weitere umfangreiche Untersuchung zu psychischen Aspekten stammt von Lamparter
[12 ]. Er explorierte mit einem psychoanalytischen Vorgehen und einer systematisierten
Befunderhebung sowie einer wissenschaftlich sehr aufwändigen Testbatterie 50 Patienten
mit frischem Hörsturz (10 Tagesfenster) und untersuchte sie fünf Jahre später nochmals
(Rücklaufquote über 70 %) sowie einen Pool von 160 Patienten, deren Hörsturzereignis
unterschiedlich lange zurücklag. Auch hier erschienen die Hörsturz-Patienten bezüglich
ihrer Persönlichkeit wenig auffällig und psychisch deutlich gesünder als Patienten
psychosomatischer Ambulanzen. Lamparter unterschied verschiedene psychosomatische
Funktionen des Hörsturzes und fand psychodynamisch häufig Gewissenskonflikte und eine
oft unbewusste ohnmächtige Protesthaltung unter den Hörsturzbetroffenen. Als typische
primärpersönliche Züge fand er eine hohe Sensibilität, stark entwickeltes Pflichtgefühl,
Aggressionshemmung sowie Schwierigkeiten sich abzugrenzen [Abb. 1 ].
Viele Merkmale der gefundenen Charakteristika fanden sich in ähnlicher Weise auch
bei einer Vergleichsgruppe von Blutspendern: Hörsturz-Patienten und Blutspender ähneln
sich offenbar in ihrer Moralität! In der relativ einseitigen Stichprobe (es befanden
sich kaum Arbeiter in der untersuchten Patientengruppe), fiel eine hohe Identifikation
mit dem Beruf und Akzeptanz der damit einhergehenden Belastung auf. Vor allem die
beruflich Belasteten konnten sich weniger „abschotten”: Unter den Patienten fanden
sich häufig Berufe, die als „Kommunikationsberufe” charakterisiert werden können:
Es waren Pfarrer, Ärzte, Psychotherapeuten, Lehrer, Kindergärtnerinnen, Zeitungswerber,
etc. In gewisser Weise passen hierzu die Ergebnisse einer Fragebogenaktion bezüglich
Hörsturz und Tinnitus von Fleischer et al. [3 ] bei unterschiedlichen Berufsgruppen: Die höchste Häufigkeit von Hörstürzen (5 %)
wurde bei den 1.600 hessischen Hochschulprofessoren gefunden (Rücklaufquote etwa 60
%) im Gegensatz zu einer Hörsturzhäufigkeit von 3 % bei den befragten Soldaten und
weniger als 1 % bei den befragten Jugendlichen. 12 % der Hochschulprofessoren in Hessen
gaben chronische Ohrgeräusche an, die für sie allerdings wenig belastend waren, 60
% blieben auch nach dem Hörsturz „tinnitusfrei”.
Bei der empirischen Überprüfung des Stressbewältigungsverhaltens fanden Kröger et
al. [10 ] bei einer Stichprobe von 50 Hörsturz-Betroffenen der TU Aachen im Wesentlichen die
Beobachtungen von Neuser [14 ] und Kropp & v. Rad [11 ] bestätigt: Die Untersucher eruierten eine unterdurchschnittliche Selbstaufmerksamkeit
sowie ungenügende Bewältigungsstrategien. Hörsturz-Patienten scheinen in Krisensituationen
offenbar weniger mit intra- und interpersonellen Lösungsstrategien zu reagieren, sondern
sich mehr mit körperlichen Missempfindungen bis hin zu einem Hörsturzrezidiv zu äußern
(Somatisierung).
In einer Untersuchung von Schmitt et al. [17 ] wurden 40 Patienten mit akutem Tinnitus- und Hörsturz (10 Tagesfenster) bezüglich
ihrer prämorbiden Stressoren, Alltagssorgen, Worrying (sich sorgen, grübeln), Stressbewältigung
etc. mit konservativ behandelten HNO-Patienten verglichen. Es fanden sich für alle
Bereiche klinisch relevante Unterschiede. Lediglich für die Bereiche soziale Unterstützung
bzw. psychosoziale Belastung schienen keine Zusammenhänge mit dem Hörsturz-Tinnitusauslöser
zu bestehen (siehe [Abb. 2 ]).
In einer differenzierten Datenanalyse untersuchten Gerhards et al. [5 ] die prämorbide Stressbelastung von 21 akuten Tinnitus- und Hörsturzpatienten (3
Wochen-Fenster; 81 % sekundärer Tinnitus): Es fanden sich im Vergleich zu einer teils
konservativ, teils operativ behandelten HNO-Patientengruppe ohne Tinnitus weder abweichende
Aspekte der Arbeitsbelastung, arbeitsbezogener Anspannung/Nervosität, Stressanfälligkeit-
bzw. -reagibilität, noch chronische Stressbelastung oder eine erhöhte Belastung durch
kritische Lebensereignisse. Auch beim Vergleich der Tinnitus-/Hörsturzbetroffenen,
die ihre Symptomatik auf erhöhte Stressoren zurückführten (52 %) mit den Patienten,
die die Fragen nach Stressauslöser ihres Tinnitus/Hörsturz verneinten, ließ sich mit
den objektiven Fragebögen keine unterschiedlichen Stressniveaus belegen. Die Autoren
diskutieren ihre von Hoffmeister [9 ], Neuser & Knoop [14 ] sowie Schmitt et al. [17 ] abweichenden Befunde auch unter dem Aspekt, dass Unterschiede in den Merkmalen der
verschiedenen Stichproben eine Erklärung der Diskrepanz sein könnten. Sie fordern
weiterhin dezidiert, die Stress-Hypothese bei Hörsturz weiter zu beforschen.
Zusammenfassung
Zusammenfassung
Die meisten der vorgestellten Arbeiten finden deutliche belegende Hinweise, dass der
Hörsturz in Zusammenhang mit Belastungen und Stressoren steht; Hörsturzpatienten insgesamt
haben jedoch nicht unbedingt mehr Stress als andere Menschen und Stress führt auch
nicht zwangsläufig zum Hörsturz. Die Belastungen vor dem Hörsturz erscheinen lediglich
chronifizierter und kritischer, gepaart mit deutlich belastenderen Alltagssorgen.
Spezifische Lebensereignisse, die für das Hörsturzgeschehen verantwortlich sein könnten,
wurden nicht herausgefunden. Vielmehr legen die empirischen Befunde ein komplexeres
Modell der Hörsturzentstehung unter Stress nahe: Der Hörsturz konstelliert vielmehr
in einer komplexen biographischen Situation bei Menschen mit eher guter bis sehr guter
Realitätsanpassung oft unter den Bedingungen beruflicher Belastung. Wird eine solche
Belastung ungenügend wahrgenommen bzw. verdrängt und trifft sie in auslösenden Situationen
auf eine biographisch bedingte innere „Resonanz”, kann es zu einem nicht mehr regulierbaren
Konflikt kommen. Dabei auftretende Ohnmachtsgefühle, Wut- oder Schuldgefühle münden,
da nur unvollkommen integriert, in eine „vegetative Entgleisung” mit der Folge Hörsturz.
Persönlichkeitsmerkmale, wie sie beim Hörsturz gefunden werden, sind unspezifisch,
ähnliche Charakteristika finden sich bei Hochdruckpatienten (Aggressionshemmung),
Blutspendern (soziale Angepasstheit, Moralität), Kopfschmerz- und Migränepatienten
(Perfektionismus, hoher Anspruch an sich selbst), sie bereiten jedoch den Boden für
die psychosomatische Reaktion. Speziell für den Hörsturz ist am ehesten eine vermehrte
Sensibilität anzunehmen.
Bei Lamparter [12 ] war diese Persönlichkeitseigenschaft zusammen mit dem Gefühl „alles zu viel, ich
kann es nicht mehr hören” mit einem erhöhten Rezidivrisiko verbunden (zweiter Hörsturz)
und eine testpsychologisch gefundene mehr nach innen gerichtete Aggression mit einem
quälenden Charakter des chronischen Ohrgeräusches in der Folge des Hörsturzes (5 Jahres-Katamnese).
Bei einer Nachuntersuchung der Stichprobe von Schmitt et al. [17 ] war von 33 bisher erfassten Patienten nach drei Monaten bei etwa der Hälfte der
Tinnitus chronifiziert. Bei einer ersten Analyse erschienen das aktuelle Befinden
im Anfangsstadium, negative Stressbewältigungsstrategien, eine fatalistische Kontrollüberzeugung
sowie die Beeinträchtigung durch den Hörverlust bzw. den Tinnitus negative Prädiktoren
für die Chronifizierung.
Ein Rezidivrisiko bis 40 % [12 ] und dekompensierter Tinnitus nach Hörsturz implizieren daher eine psychotherapeutische
Konsequenz. Die Untersuchungen und Erfahrungen der Autoren belegen eine hohe Therapiemotivation
der Hörsturzpatienten mit Tinnitus. Nicht zuletzt verstehen Hörsturzpatienten Psychotherapie
auch als Hörsturzprophylaxe. Sie stellen in der Klinik Roseneck die Patientengruppe
mit der höchsten Erfolgsquote, zumindest bezüglich Abnahme ihrer Tinnitusbelastung,
dar. Wie bereits v. Rad [15 ] und Gerhards et al. [5 ] ausführen, erweist sich der Hörsturz wie aus somatischer Sicht auch aus psychosomatischer
nicht als einheitliche Erkrankung, was weitere Forschungsarbeit erfordert.
Abb. 1 Die aus einer (akustischen) Wahrnehmung eines Ereignisses (auslösende Situation)
folgende Handlung wird blockiert und über eine Somatisierung abgewehrt. Berufliche
und private Überlastung, insbesondere „Telefonstress” tragen zur Somatisierung bei,
indem sie die psychischen Anpassungsressourcen des Individuums erschöpfen und disponierende
somatische Faktoren bahnen: Es ist „alles zuviel”. Individuelle persönlichkeitsspezifische
Faktoren bedingen die Handlungshemmung, aber auch die Tendenz sich zu überlasten.
Eine „infantile Resonanz”(mit Konfliktmustern der Kindheit) gibt der auslösenden Situation
besondere Wirkkraft
Abb. 2 Biographische und aktuelle Konflikte sowie Sorgen und Grübeln sind entscheidende
Wirkfaktoren auf die Alltagsbelastungen. Eine damit verbundene dysfunktionale Stressverarbeitung
gilt letztlich als Risikofaktor von Hörsturz und Tinnitus