Geburtshilfe Frauenheilkd 2005; 65(7): 667-668
DOI: 10.1055/s-2005-837656
Editorial

Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Vulva als „l'origine des plaintes“

The Vulva as “l'origine des plaintes”R. Kürzl1
  • 1I. Frauenklinik der LMU München
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
01. August 2005 (online)

Wohl jeder Besucher, der im Musée d'Orsay unvermittelt vor dem Gemälde „L'origine du monde“ von Gustave Courbet steht, wird gleichsam gezwungen, die Vulva dieser abgebildeten Frau zu betrachten. Für uns Frauenärzte gehört die Inspektion der Vulva zur Selbstverständlichkeit einer gynäkologischen Untersuchung, aber die Vulva als „l'origine des plaintes“, als Ursache von Beschwerden, hat doch ihre Schwierigkeiten.

Das Karzinom als mögliche Erkrankung der Vulva ist offensichtlich allen Frauenärzten bewusst, wenngleich epidemiologisch eine solche Erkrankung nur sehr, sehr selten erwartet werden kann: Nach den Daten des Tumorregisters München beträgt die Inzidenz 3,6 Fälle pro 100 000 Frauen, d. h. 1 Fall auf mehr als 27 700 Frauen. Im Gegensatz zu dieser Seltenheit steht die Häufigkeit, mit der in der Praxis über die typischen klinischen Symptome dieser Erkrankung, nämlich Juckreiz, Wundsein und Brennen geklagt wird. Diese Symptome finden sich aber bei vielen, zumeist chronischen Hauterkrankungen der Vulva und hier ergibt sich fast regelmäßig ein chronisches Problem der Gynäkologen.

Es laufen nämlich sehr häufig folgende therapeutische Reflexe ab: Die junge Frau mit solchen Beschwerden bekommt ein Rezept für ein Antimykotikum, die alte Frau mit solchen Beschwerden bekommt ein Rezept für ein lokal anzuwendendes Östrogenpräparat. Soweit in dieser Situation überhaupt Diagnosen für diese Behandlungen gestellt werden, hält sich unausrottbar eine obsolete Uralt-Nomenklatur mit Begriffen wie Leukoplakia vulvae oder Kraurosis vulvae. Der erste Begriff wurde 1877 von Schwimmer, einem Dermatologen in Budapest, geprägt, der zweite 1885 von Breisky, einem Gynäkologen in Prag. Leukoplakie ist die griechische Bezeichnung für weißer Fleck und Kraurosis ist abgeleitet von griechisch krauros, auf deutsch trocken, spröde. Damit sollte klar sein: Mit diesen Begriffen können u. U. klinische Bilder deskriptiv erfasst, aber nicht diagnostiziert werden.

1983 hat E. Friedrich in seinem nach wie vor grundlegenden Buch „Vulvar Disease“ eine einfache klinische Einteilung der Vulvaläsionen vorgeschlagen: rote, weiße, ulzeröse und dunkle Läsionen, kleine und große Tumoren. Innerhalb dieser unterschiedlichen klinischen Bilder, die oft auch gemischt auftreten können, erfolgt dann die Differenzialdiagnose. Der Schlüssel dieser Differenzialdiagnose liegt in der Gewebsprobe, um die Erkrankung histologisch zu diagnostizieren. Die Gewebsprobe kann einfach als Stanzbiopsie in Lokalanästhesie entnommen werden. Eine Naht ist selbst bei einem Durchmesser des Stanzzylinders von 6 mm nicht erforderlich. Zum Abheilen der kleinen Wunde bewähren sich desinfizierende Vorlagen (z. B. mit Octenisept®).

In den 80er-Jahren wurden Nomenklaturen für intraepitheliale Neoplasien (1986) und nicht neoplastische Erkrankungen der Vulva (1989) publiziert. Die Vorarbeiten dazu erfolgten interdisziplinär von Gynäkologen, Dermatologen und Pathologen in der International Society for the Study of Vulvovaginal Disease (ISSVD) und in der International Society of Gynecological Pathologists (ISGYP). Damit soll einigermaßen sichergestellt werden, dass die Diagnostik international möglichst unter gleichen Kriterien erfolgt.

Wer nach diesen Vorgaben Frauen mit Vulvaerkrankungen diagnostisch abklärt, wird bald feststellen: Mit Abstand die häufigste Erkrankung ist der Lichen sclerosus, eine chronische, nicht neoplastische Hauterkrankung, die unbehandelt fast immer mit einem qualvollen Juckreiz einhergeht. Lokale Behandlungen unterschiedlichster Art bringen meist nur kurzfristig Linderung. Das gilt auch für die lokal anzuwendenden Östrogene, die u. U. sogar bei längerer Anwendung die Symptomatik verschlimmern können. Durch Studien wird die Wirksamkeit der lokalen Behandlung mit Kortikosteroiden eindeutig belegt: z. B. das hochpotente Clobetasol für zwei Wochen zur Induktionstherapie, gefolgt vom milderen Clobetason für weitere acht Wochen und anschließender Reduzierung der Anwendungshäufigkeit über mehrere Wochen mit dem Ziel einer Dauertherapie mit einer Anwendung pro Woche. Mit dieser wöchentlichen Applikation ist eine Dauertherapie ohne kortisoninduzierte Nebenwirkungen an der Haut möglich und effektiv. Die früher empfohlene lokale Applikation von androgenhaltigen Externa ist durch die Kortikoidtherapie obsolet geworden.

Squamöse Hyperplasie, vulväre intraepitheliale Neoplasien (VIN) unterschiedlicher Grade, Morbus Paget der Vulva, malignes Melanom oder eben das Vulvakarzinom sind absolut und gemessen an der Häufigkeit des Lichen sclerosus seltene Erkrankungen der Vulva, die aber bei konsequenter histologischer Diagnostik trotz ihrer Seltenheit nicht übersehen werden können. Dies gilt auch für andere Dermatosen, die eben auch an der Vulva auftreten können, wie zum Beispiel Psoriasis oder Ekzeme, deren weitere Therapie oder Abklärung wohl besser in die Hände der Dermatologen gelegt werden sollte. Die Kompetenz zur Diagnostik und Therapie von Lichen sclerosus und der anderen eben aufgezählten Erkrankungen der Vulva sollte aber durchaus in unserem Fachgebiet zu finden sein, darf sich aber nicht mit Pseudodiagnosen wie Leukoplakie oder Kraurosis und mit Verschreiben von Östrogensalben begnügen.

Prof. Dr. med. Rainer Kürzl

I. Frauenklinik der LMU München

Maistraße 11

80337 München

eMail: rainer.kuerzl@med.uni-muenchen.de

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