Einleitung
Einleitung
Von der Weltgesundheitsorganisation wurde das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts
zur „Bone and Joint Decade” erklärt (www.boneandjointdecade.org/ ). Knochenbrüche sind in allen Lebensaltern anzutreffen - abhängig vom Geschlecht
mit unterschiedlichen Häufigkeitsgipfeln - und betreffen Männer und Frauen gleichermaßen.
Osteoporose, eine chronisch-progrediente Erkrankung des Skeletts, ist in diesem Zusammenhang
als wichtiges Gesundheitsproblem in vielen Industrieländern erkannt. Etwa jede zweite
Frau wird eine osteoporosebedingte Fragilitätsfraktur im Laufe ihres Lebens erleiden,
aber nur etwa jeder zehnte Mann. Seit langem ist bekannt, dass diese Fragilitätsfrakturen
insbesondere die Wirbelkörper, den distalen Radius (handgelenksnaher Unterarm), den
proximalen Humerus (schultergelenksnaher Oberarm), das proximale Femur (hüftnaher
Oberschenkel), die proximale Tibia und Fibula (kniegelenksnaher Unterschenkel) und
die Malleolen (fußgelenksnaher Unterschenkel) betreffen [1 ]. Unter den genannten Frakturen ist die proximale Femurfraktur die folgenschwerste
Form.
Diese Situation hat Anstrengungen zur Ursachenforschung, Prävention und epidemiologischen
Überwachung ausgelöst [2 ]. Maßnahmen zur Prävention der proximalen Femurfraktur sind Bestandteil nationaler
und regionaler Gesundheitsziele. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betrachtet
Osteoporose als globales Problem und nennt als vordringliche Forschungsschwerpunkte
Untersuchungen zur Frakturepidemiologie und zu kostengünstigen bzw. kosteneffizienten
Präventionsstrategien [3 ]. Untersuchungen zur Häufigkeit von Wirbelkörperfrakturen wurden in der Vergangenheit
in europäischer Kooperation auch in Deutschland durchgeführt (EVOS-Studie, [4 ]).
Übergeordnetes Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den epidemiologischen Wissensstand
zu Extremitätenfrakturen in Deutschland durch eine zusammenfassende Darstellung der
eigenen Forschungen im Rahmen der Augsburger KORA-Frakturstudie zu verbessern und
exemplarisch für Fragilitätsfrakturen Anregungen für die Entwicklung und Bewertung
bevölkerungsmedizinischer Präventionsempfehlungen zu geben.
Methodik
Methodik
Die nachfolgend dargestellten Arbeiten im Rahmen der KORA-Frakturstudie sind Teil
eines umfassenderen Forschungsansatzes, welcher sich über einen Zeitraum von etwa
15 Jahren erstreckt. Diese Forschungen begannen nach der deutschen Wiedervereinigung
mit Arbeiten zur Basisepidemiologie der proximalen Femurfraktur an Datensätzen der
DDR an der Abteilung Epidemiologie nicht übertragbarer Krankheiten am Robert-Koch-Institut
in Berlin (damals noch Bundesgesundheitsamt) und setzten sich fort mit Arbeiten zur
Erforschung eines säkularen Trends bei proximalen Femurfrakturen, zur Basisepidemiologie
von Extremitätenfrakturen und zu funktionellen gesundheitlichen und gesundheitsökonomischen
Folgen im Rahmen der Augsburger Frakturstudie, zum evidenzbasierten Risiko-Assessment
sowie zur entscheidungsanalytisch begründeten Formulierung von Präventionsempfehlungen.
Zur Bearbeitung der verschiedenen Fragestellungen wurden verschiedene Datenkörper
herangezogen. Tab. [1 ] gibt eine Übersicht über die Zuordnung zu den Fragestellungen. Die verwendeten Datenkörper
wurden sorgfältig ausgewählt und teilweise mit eigens berechneten Korrekturfaktoren
aufbereitet. Zusätzlich wurden Qualitätsvergleiche aufgrund der ICD-Verschlüsselung
vorgenommen und die Qualität auch im zeitlichen Verlauf beurteilt. Für die zeitlichen
und regionalen Vergleiche wurde eine Standardisierung der Daten nach Alter und Geschlecht
durchgeführt. In der KORA-Frakturstudie wurden auf Basis einer gezielten Auswertung
des MONICA-Survey S3 (1994/95) zusätzlich im Jahr 1998 eigene Daten prospektiv erhoben
und validiert. Eine Beschreibung der verwendeten Datenkörper und Methoden wurde publiziert
[5 ]
[6 ]
[7 ]
[8 ]. Die im Rahmen des Surveys S3 erzielten Forschungsergebnisse bilden den Schwerpunkt
der vorliegenden Arbeit.
Tab. 1 Übersicht und Zuordnung der Datenkörper zu den spezifischen Fragestellungen
Datenkörper
Alters- und geschlechtsspezifische Inzidenz- bzw. Prävalenzraten
säkularer Trend proximaler Femurfrakturen
gesundheitliche Folgen und ihre Prädiktoren
kosteneffektive Präventionsmaßnahmen
Krankenhausdiagnosestatistik der GKV nach § 79 SGB IV, alte Bundesländer[1 ]
x
Krankenhausdiagnosestatistik der DDR1
x
x
x
Krankenhausdiagnosestatistik der Krankenhausstatistikverordnung vom 10.4.1990[2 ]
x
x
x
Diagnose- und Therapieindex (DTI), I + G Gesundheitsforschung2
x
x
National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES III, USA)[3 ]
x
x
MONICA-Survey 1994/94 (S3)
x
KORA-Frakturstudie[4 ]
x
x
1Die Auswertung am Robert-Koch-Institut Berlin wurde unterstützt durch ein Stipendium
der Dr.-Liesel-Keinath-Stiftung des Stifterverbandes der Deutschen Wissenschaft.
2Die Auswertung erfolgte im Rahmen des für das BMG durchgeführten Pilotprojektes „Operationshäufigkeiten
in Deutschland”.
3Die Auswertung wurde unterstützt durch das „MSD Sharp & Dohme”-Förderstipendium Osteoporose
1999.
4In der Studie, die durch das BMFT im Rahmen der 2. Förderphase des Bayerischen Forschungsverbundes
Public Health - Öffentliche Gesundheit gefördert wurde, wurden eigene Daten erhoben.
Neben Standardverfahren der deskriptiven Statistik kamen multiple logistische Regressionsmodelle
bei dichotomer Zielvariable sowie multiple lineare Regressionsmodelle bei kontinuierlicher
Zielvariable zur Anwendung, in den vorbereitenden bzw. fortführenden Forschungen multivariable
Poisson-Regression zur Analyse eines säkularen Trends, Methoden der kleinräumigen
Datenanalyse (Small Area Analysis) bei der Analyse regionaler Unterschiede sowie die
Methode der Entscheidungsanalyse für die Formulierung von Interventionsempfehlungen
auf Basis der epidemiologischen und gesundheitsökonomischen Daten. Zufallseinflüsse
wurden durch Angabe von 95 %-Vertrauensbereichen berücksichtigt, soweit es sich nicht
um Vollerhebungen handelte.
Ergebnisse
Ergebnisse
Alters- und geschlechtsspezifische Inzidenz- bzw. Prävalenzraten
Über den dritten MONICA-Augsburg-Survey S3 wurden von 4854 Personen im Alter von 25
bis 74 Jahren (2404 Männer, 2450 Frauen) Daten zu Knochenbrüchen (Extremitätenfrakturen)
aus Eigenangaben erhoben. Bei 146 Fällen mit Eigenangabe einer Fraktur waren diese
Angaben bezüglich Validität und Reliabilität geprüft worden (Anschreiben der Hausärzte)
[6 ]. Der Kappa-Wert lag dabei für die Reliabilität der Probandenangaben zu den genannten
Zeitpunkten bei 0,80 - 0,89 und für die Validität bei 0,77 - 0,89. Die Erhebung von
Probandenangaben zu Frakturen stellt somit eine zuverlässige Methode dar, um Daten
für epidemiologische Fragestellungen zu gewinnen (Abb. [1 ]).
Abb. 1 Alters- und geschlechtsspezifische Frakturraten (Alter bei Fraktur), alle Frakturen
(MONICA-Survey 1994/95 [S3]).
Die höchsten frakturspezifischen Inzidenzraten fanden sich bei Frauen in der Altersgruppe
65 - 74 Jahre für Unterarm- und Unterschenkelfrakturen (982,1/100 000 Personenjahre
bzw. 535,7/100 000 Personenjahre). Bei Männern lagen die höchsten Inzidenzraten bei
416,0/100 000 Personenjahre bzw. bei 370,2/100 000 Personenjahre für Hand- bzw. Unterschenkelfrakturen,
jeweils in der Altersgruppe 15 - 24 Jahre. Sowohl bei Männern als auch bei Frauen
mit Unterarm- bzw. Unterschenkelfrakturen handelt es sich zum größten Teil um Handgelenks-
bzw. Malleolarfrakturen. Durch einen Sturz wurden 43 % (Frauen 59 %, Männer 33 %),
durch äußere Gewalteinwirkung 40 % (Männer 47 %, Frauen 29 %) und durch sportliche
Aktivitäten 15 % (Männer 18 %, Frauen 10 %) aller Frakturen verursacht [7 ]. Die Sturzprävention bei älteren Menschen ist somit für die Zukunft ein wichtiges
Anliegen der öffentlichen Gesundheit.
Gesundheitliche Folgen und ihre Prädiktoren
Gesundheitliche Auswirkungen der Frakturen betreffen den funktionellen Gesundheitszustand
in verschiedenen Dimensionen sowie die frühe und späte Morbidität bzw. Letalität.
Frühe Komplikationen der operativen und nichtoperativen Frakturbehandlung sind in
der Literatur hinreichend behandelt. Eigenen Berechnungen zufolge liegt in Deutschland
die krankenhausbezogene Letalität nach proximalen Femurfrakturen in der ersten Lebenshälfte
bei unter einem Prozent und steigt für ältere Menschen bis auf 12 % und höher an.
Dabei existieren erhebliche regionale Unterschiede, welche zumindest für die DDR am
ehesten durch die Qualität der medizinischen Versorgung erklärbar waren [5 ]
[9 ]. Über die unmittelbaren medizinischen Auswirkungen hinaus sind die Folgen von Fragilitätsfrakturen
im höheren Lebensalter nur unzureichend untersucht. Im Rahmen der KORA-Frakturstudie
konnten 1999 insgesamt 146 Personen im Alter von 58 - 78 Jahren mit Frakturanamnese
sowie 311 nach Alter und Geschlecht zugeordnete Kontrollpersonen nachuntersucht werden
(„nested case-cohort design”). Dabei wurden als patientenzentrierte Befragungsinstrumente
zur Messung der generischen Lebensqualität die Medical Outcomes Study Short Form 36
(SF 36) eingesetzt und für die erkrankungsspezifische funktionale Gesundheit der Functional
Disability Index (FDI, Abb. [2 ]).
Abb. 2 Ergebnisse der Augsburger KORA-Frakturstudie 1999. a : Körperliche Funktionsfähigkeit nach den Dimensionen des allgemeinen Gesundheitszustandes
nach der Medical Outcomes Study Short Form 36 (SF-36) als Langzeitergebnis nach Extremitätenfrakturen.
Die Distanz zwischen Zentrum und äußerem Kreis (bestmögliche Funktionsmessung) entspricht
Funktionswerten von 0 - 100 %. Die Physical und die Mental Component Scale sind zusammenfassende
Indizes der jeweiligen Dimensionen. b : Spezifische körperliche Funktionsfähigkeit nach den Dimensionen des Health Assessment
Questionnaire (HAQ) als Langzeitergebnis nach Extremitätenfrakturen. Die Distanz zwischen
Zentrum und äußerem Kreis (bestmögliche Funktionsmessung) entspricht Punktwerten von
0 - 3. Der Functional Disability Index fasst die verschiedenen Dimensionen zusammen.
Es wird deutlich, dass gegenüber den Kontrollpersonen insbesondere bei proximalen
Femurfrakturen noch über mehrere Jahre funktionale Defizite nachweisbar sind.
Der Effekt der Fraktur und anderer Variablen auf die Fähigkeit zur unabhängigen Lebensführung
wurde über ein lineares Regressionsmodell mit Backward Elimination der potenziellen
Einflussgrößen untersucht, das Modell ist in Tab. [2 ] wiedergegeben. Zu erklärende Variable war der Functional Disability Index (FDI),
der Summenscore des Health Assessment Questionnaires (HAQ) mit Fragen zu Aktivitäten
und komplexeren instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens. In das multivariabel
adjustierte Modell wurden neben verschiedenen Einflussgrößen Design-Variablen für
Frakturen der langen Röhrenknochen der oberen und unteren Extremität aufgenommen.
Tab. 2 Modellierung der Einflüsse auf die unabhängige Lebensführung nach Frakturen im höheren
Lebensalter im Rahmen der KORA-Frakturstudie Augsburg 1999 (Anschlussuntersuchung
älterer Teilnehmer des MONICA-Surveys 1994/95 [S3]) mittels linearer Regressionsmodelle:
Obermodell 1 und reduziertes Untermodell 2 mit zugehöriger erklärter Varianz (R2 ) und Koeffizienten; abhängige Variable: Functional Disability Index (FDI)
Modell
Variable
nicht stand.
p-Wert
95 % Konfidenz-Intervall für Beta
Koeffizient Beta
Untergrenze
Obergrenze
1
Konstante
- 0,224
0,118
- 0,505
0,057
R2 0.51
Geschlecht
9,599E-02
0,026
0,011
0,181
Alter[5 ]
4,868E-02
0,254
- 0,035
0,132
Gehstörung
1,133E-02
0,799
- 0,076
0,099
SF Comorbid1
0,809
< 0,001
0,698
0,921
Zeit nach Fraktur1
0,120
< 0,001
0,060
0,181
Oberschenkelfraktur
0,600
0,014
0,123
1,077
Schlaganfall (neurol. Stör.)
0,331
0,040
0,016
0,647
Status Fall/Kontrolle
0,316
< 0,001
0,141
0,491
Social Network Index
- 5,476E-02
0,028
- 0,103
- 0,006
BMI1
0,107
0,009
0,027
0,187
Gemütserkr./ Depression
0,143
0,034
0,011
0,274
2
Konstante
- 0,194
0,030
- 0,368
- 0,019
R2 0.44
Geschlecht
0,157
< 0,001
0,071
0,242
Alter1
0,101
0,023
0,014
0,187
Status Fall/Kontrolle
3,073E-02
0,495
- 0,058
0,119
Gehstörung
0,942
< 0,001
0,835
1,050
1zur vorgenommenen Kategorisierung siehe (8)
Die subjektive globale Selbsteinschätzung der Gesundheit korreliert nur mäßig mit
dem Summenscore FDI der körperlichen Funktionsfähigkeit (r = 0,48). Das Obermodell
2 der multiplen linearen Regression mit den Forced-in-Variablen Alter, Geschlecht
und Status als Fall oder Kontrolle und weiteren statistisch signifikanten Einflussgrößen
erklärte über 50 % der beobachteten Varianz der körperlichen Funktion, gemessen mit
dem FDI. Bei einer Analyse des erklärenden Einflusses der Subskalen des HAQ war der
größte Effekt in Zusammenhang mit Gehen, Erreichen (Arm) und Schmerz zu beobachten.
Andere bedeutsame Einflussgrößen waren eine Schlaganfallanamnese oder andere neurologische
Störungen, Depressionen/Gemütsstörungen, eine Oberschenkelfraktur, die allgemeine
Komorbidität, die seit der Fraktur vergangene Zeit, Übergewicht sowie die Anzahl und
Qualität sozialer Kontakte. Der größte Beitrag zur erklärten Varianz kam dabei von
der An- oder Abwesenheit von Gehstörungen.
Ein reduziertes Untermodell, welches außer den Forced-in-Variablen nur die Eigenangabe
Gehstörungen enthielt, war in der Lage, noch immer 44 % der beobachteten Varianz zu
erklären. Dieser erklärte Varianzanteil war robust gegenüber dem Ein- oder Ausschluss
hüftnaher Femurfrakturen, war unbeeinflusst von einem Interaktionsterm zwischen Gehstörung
und Frakturen und blieb hoch auch nach Austausch der abhängigen Variablen FDI gegen
Dimensionen der körperlichen Funktion aus dem SF-36-Fragebogen.
Es zeigte sich, dass Extremitätenfrakturen noch nach mehreren Jahren zu messbaren
Beeinträchtigungen der funktionalen Gesundheit bei Personen ab dem 65. Lebensjahr
führten, insbesondere bei Beteiligung des Oberschenkelknochens [8 ]. Die wesentlichen gesundheitlichen Folgen bei Überlebenden von Frakturen der oberen
oder unteren Extremität betrafen die körperliche Funktion, und hier langfristig vor
allem die Funktionen, welche Gehen, Aktivitäten außer Haus und die Körperpflege betreffen.
Die Defizite waren in den ersten beiden Jahren nach der Fraktur am stärksten ausgeprägt,
nach fünf Jahren hatte sich die funktionale Gesundheit den Kontrollen wieder angeglichen.
In ihrem Selbstverständnis verbanden über zwei Drittel der Befragten den Begriff „unabhängige
Lebensführung” mit „gesund sein” und „alles tun können”. Nur wenige der Befragten
nannten finanzielle Aspekte an erster Stelle. Krankheit wurde als größte Bedrohung
einer unabhängigen Lebensführung genannt, gelegentlich auch ungünstige politische,
soziale und finanzielle Entwicklungen. Nur ein Drittel der Befragten gab an, in der
Fähigkeit zur unabhängigen Lebensführung nicht bedroht zu sein. Weniger als ein Fünftel
der Befragten fühlte sich hinsichtlich Themen wie Anpassung des Wohnraumes, altengerechtes
Wohnen und medizinische Hilfsmittel gut informiert (13,1 %, 15,8 % and 16,2 %). Aspekte
eines „Rechtes auf Gesundheit” wurden im Rahmen der Augsburger Frakturstudie weiter
verfolgt und mündeten in die Entwicklung eines Fragebogeninstrumentes zu Assessment-Zwecken
[10 ].
Diskussion
Diskussion
Inzidenz, Prävalenz und gesundheitliche Folgen
In der vorangegangenen Zusammenfassung wurden Arbeitsergebnisse zur Häufigkeit von
Knochenbrüchen aus dem Survey S3 vorgestellt sowie zu den gesundheitlichen Folgen
von Fragilitätsfrakturen im Alter aus dem Survey S4 (Letalität, funktionelle Einschränkungen
bei Aktivitäten des täglichen Lebens). Die vom Patienten als solche erlebte Dramatik
einer Fraktur mit akutem Schmerz und zumeist auch Bewegungsunfähigkeit des betroffenen
Gliedmaßenabschnittes macht in aller Regel einen Arztbesuch notwendig. Eigenangaben
zu Knochenbrüchen können somit bei entsprechender Dokumentation durch den behandelnden
Arzt validiert werden, wie dies von uns gemacht wurde [6 ]
[7 ]. Auch wenn sich durch Anamnese und klinisches Bild häufig die richtige Diagnose
einer Fraktur vermuten lässt, wird sie doch in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle
aufgrund des Röntgenbildes gestellt. Nur in seltenen Fällen macht eine sog. „schleichende
Fraktur” weitere diagnostische Maßnahmen wie die Kernspintomographie oder die Skelettszintigraphie
notwendig oder entgeht als eingestauchte, belastungsstabile Fraktur der Diagnose.
Aussagen zu Risikofaktoren, Mortalität, verbleibender Morbidität und Präventionsmaßnahmen
machten eine weiterführende Beobachtung notwendig. Informationen zum Gesundheitsstatus
wurden in der KORA-Frakturstudie mit international breit eingesetzten, für Deutschland
validierten Fragebogeninstrumenten gewonnen und können als zuverlässig eingeschätzt
werden [11 ]
[12 ]
[13 ]. Lebensalter, männliches Geschlecht, (Art der) Fraktur und Schwierigkeiten beim
Gehen erscheinen als signifikante und wichtige Prädiktoren der funktionalen Gesundheit
nach Fragilitätsfrakturen.
Zwei Drittel der Befragten gaben darüber hinaus an, in der Fähigkeit zur unabhängigen
Lebensführung bedroht zu sein. Nur eine Minderheit der Befragten fühlte sich hinsichtlich
Themen wie Anpassung des Wohnraumes, altengerechtes Wohnen und medizinische Hilfsmittel
gut informiert. Es wird dabei deutlich, dass die bestehenden Systeme der medizinischen
Versorgung subjektiv als wichtig empfundene und für die Prognose bedeutsame Aspekte
der tertiären Rehabilitation ungenügend abdecken. Die identifizierten Defizite haben
zum einen hinsichtlich der Behandlungsqualität Bedeutung, zum anderen hinsichtlich
der Responsiveness der Systeme im Sinne von Patientenrechten. Weiterführende Arbeiten
zum innovativen Assessment wichtiger Aspekte des Rechtes auf Gesundheit wurden publiziert
[10 ].
Kosteneffektive Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung
Auf Basis der berichteten epidemiologischen Daten wird deutlich, dass sich das Frakturgeschehen
bei Frauen und Männern auf unterschiedliche Lebensalter und unterschiedliche Frakturumstände
bezieht [7 ]. Daraus leitet sich die Forderung nach alters- und zielgruppenspezifischen Präventions-
bzw. Gesundheitsförderungsmaßnahmen ab. Grundsätzlich sind insbesondere bei Fragilitätsfrakturen
verschiedene Maßnahmen der Ressourcenstärkung (Gesundheitsförderung) und der Belastungssenkung
(Prävention) zu diskutieren bzw. zu evaluieren. Der Gesundheitsförderung zuzurechnen
wären z. B. eine Erhöhung der Peak Bone Mass in jüngeren Jahren durch entsprechende
Ernährungs- und Bewegungsangebote oder die Förderung der motorischen Fähigkeiten im
höheren Alter. Präventionsmaßnahmen betreffen neben der allgemeinen medizinischen
Versorgung insbesondere einen Erhalt des Knochenmineralgehaltes, welcher über die
Knochendichte (BMD) an standardisierten Messorten abgebildet werden kann.
Präventionsempfehlungen bzgl. Osteoporose und proximalen Femurfrakturen stehen in
enger Verbindung zu diagnostischen Maßnahmen, insbesondere zur Indikationsstellung
der Osteodensitometrie. Folgerichtig wurde die Rolle der Osteodensitometrie im Rahmen
der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention zum Gegenstand eines deutschen Health-Technology-Assessment(HTA)-Berichtes
[14 ]. Der deutsche HTA-Bericht kommt ebenso wie wir zu dem Schluss, dass die Indikationsstellung
zur Osteodensitometrie nur bei Hochrisikogruppen als selektives Screening zu stellen
ist und die Entwicklung eines validierten Fragebogen-Screening-Instrumentes zur Bestimmung
des Frakturrisikos aufgrund von Risikofaktoren dringend zu fordern ist [5 ]
[14 ]. Andere Arbeitsgruppen schließen sich dieser Empfehlung an [15 ]
[16 ]
[17 ].
Die Ergebnisse der Entscheidungsanalyse hängen natürlich von den eingegebenen bzw.
einzugebenden Voraussetzungen ab (Kosten- und Effektivitätsschätzungen, alters- und
geschlechtsspezifische Frakturrisiken, alters- und geschlechtsspezifische Osteoporoserisiken,
Korrekturfaktoren für deren Berechnungen u. a. m.), von den Unrelated Costs in der
gewonnenen Lebenszeit, den indirekten Kosten z. B. durch pflegende Angehörige und
wären bei einer Anwendung auf deutsche Verhältnisse hinsichtlich der allokationstheoretischen
Begründung innerhalb eines Systems fixer Budgets weiter zu diskutieren. Trotzdem zeigen
die Analysen in ihrer Gesamtheit, dass eine rationale Bewertung konkurrierender Strategien
zur medikamentösen Prävention proximaler Femurfrakturen möglich ist. Dabei kommt dem
Assessment des individuellen A-priori-Frakturrisikos für die Entscheidungsfindung
eine besonders wichtige Bedeutung zu [18 ].
Eine umfassendere evidenzbasierte Sichtweise findet sich in wissenschaftlich international
abgestimmten Empfehlungen zur Prävention, Diagnose und Therapie der Osteoporose [19 ] bzw. für den deutschen Sprachraum z. B. im Weißbuch Osteoporose [20 ] oder in den Leitlinien des Dachverbandes der deutschsprachigen wissenschaftlichen
Gesellschaften für Osteologie (DVO) für Osteoporose bei postmenopausalen Frauen und
bei älteren Menschen [21 ]. Maßnahmen der Gesundheitsförderung im Sinne einer Ressourcenstärkung im jüngeren
Lebensalter werden dort ebenfalls angesprochen. Hinsichtlich des Outcomes „Fragilitätsfraktur”
verdienen insbesondere Maßnahmen der Sturzprävention besondere Beachtung [22 ]
[23 ]
[24 ].
Ethik und Verteilungsgerechtigkeit
Grundsätzlich ist offen, auf Basis welcher ethischen Handlungsrichtlinien Entscheidungen
getroffen werden sollten [25 ]. Die zur Auswahl stehenden ethischen Theorien führen in ihrer Konsequenz durchaus
zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nach dem Gleichheitsprinzip (Egalitarismus) könnte
ein gleichmäßiger Ressourcenverbrauch oder ein gleichmäßiger Gesundheitszustand angestrebt
werden, nach dem Differenzprinzip (egalitärer Liberalismus) eine vermehrte Ressourcenzuwendung
zu den gesundheitlich Benachteiligten. Das Lohnprinzip würde auf die erbrachten Leistungen
abstellen, das Vertragsprinzip auf getroffene Vereinbarungen, während das christliche
Bedürftigkeitsprinzip ähnlich dem Differenzprinzip das „Not-wendige” gewährt. Demgegenüber
versucht das Nützlichkeitsprinzip (Utilitarismus), welches den dargelegten Kosten-Nutzwert-Analysen
zugrunde liegt, den gesamtgesellschaftlichen Nutzen einer Handlungsstrategie angesichts
prinzipiell beschränkter Ressourcen zu maximieren.
Kosteneffektivität ist auch kein absoluter oder abstrakt festzulegender Wert, sondern
kontextuell definiert. Sie reflektiert die generelle Bereitschaft einer Gemeinschaft,
begrenzte Ressourcen für gesundheitsbezogene Interventionen zu allozieren. Generell
liegt derzeit die Grenze der Finanzierung für akutmedizinische Interventionen bei
etwa 50 - 100 T€ pro gewonnenes Qualitäts-adjustiertes Lebensjahr (QALY), für präventive
Maßnahmen werden häufig niedrigere Grenzen angesetzt. Diese Werte sind jedoch nicht
festgeschrieben und auch nicht festschreibbar, sondern reflektieren die Kosteneffektivität
üblicher medizinischer Interventionen [26 ]
[27 ]. Darüber hinaus beziehen sie sich auf die gesamtgesellschaftliche Perspektive. Werden
auch indirekte Kosten berücksichtigt, wie dies einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive
entspricht, ist generell ein günstigeres Kosteneffektivitätsverhältnis zu erwarten
als aus der gewählten Sicht der Kostenträger.
Ausblick
Ausblick
Die vorgestellte Evidenz aus eigenen epidemiologischen Studien unterstützt die prospektive
Evaluation gezielter, kosteneffektiver Präventionsstrategien wie z. B. den Einsatz
von Medikamenten oder auch der Knochendichtemessung zu Screening-Zwecken an selektierten
Hochrisikogruppen zur Prävention osteoporotischer Fragilitätsfrakturen. Sie hat damit
das Potenzial, Rationalität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen zu unterstützen,
wie dies in § 135 SGB V gefordert ist. Eine konkrete Umsetzung hängt jedoch von der
Entwicklung eines ausreichend belastbaren Instrumentes der Risikobestimmung ab, welches
zu niedrigen Kosten eine vorbereitende Risikostratifizierung von Bevölkerungsgruppen
erlaubt (National Institutes of Health 2000). Darüber hinaus wird von der International
Osteoporosis Foundation und anderen empfohlen, die Ergebnisse standardisierter Knochendichtemessungen
an der Hüfte als Frakturrisiko über einen definierten (10-Jahres-)Zeitraum („Hüftfraktur-Äquivalent”)
auszudrücken [18 ]
[28 ]
[29 ]. Diese Forderung verlangt die wissenschaftlich begründete Entwicklung eines Instrumentes
zur Abschätzung des künftigen Frakturrisikos unter Berücksichtigung der Knochendichte.
Ein derartiges Instrument des Risiko-Assessments ist prinzipiell aufgrund veröffentlichter
Studien darstellbar, allerdings empfiehlt sich eine ausreichende Validierung vor einer
flächendeckenden Einführung. Hierfür hat die Entwicklung computerunterstützter Instrumente
des Risiko-Assessments auf Basis vorhandener Evidenz hohes Potenzial.
Auch potente Verfahren wie die Kosten-Nutzwert-Analysen bzw. Kosteneffektivitätsanalysen,
welche epidemiologische Daten rational bewerten, haben ihre Grenzen, die es genauer
zu eruieren gilt. Ein weiterer Arbeitspunkt für die Zukunft ist daher die ethische
Diskussion, welche die Chancen und Risiken derartiger Ansätze diskutiert.
Danksagung
Danksagung
Diese Studien wurden in Teilen unterstützt durch eine Förderung durch das Bundesministerium
für Bildung, Forschung und Technologie unter dem Förderkennzeichen 01 EG 9404 (Bayerischer
Forschungsverbund Public Health - Öffentliche Gesundheit).
Der Artikel nimmt besonderen Bezug auf folgende Beiträge dieses Sonderheftes von Das
Gesundheitswesen: [30 ]
[31 ]
[32 ]
[33 ].