Erfahrungsheilkunde 2007; 56(2): 88-95
DOI: 10.1055/s-2007-968048
Übersichten/Reviews

Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Multidisziplinäres Forschungs- und Interventionsprogramm für präventive Medizin, Innovation und Leistungssport

Ronald Grossarth-Maticek
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Publication Date:
23 February 2007 (online)

Allgemeine Information zur multidisziplinären Interventionsforschung

Einführung

Das zentrale Anliegen unserer multidisziplinären Forschung und Intervention ist es, strukturelle Probleme mit der Mentalität zu verbinden, ihre Wechselwirkungen aufzuzeigen und die Ergebnisse für erfolgreiche Interventionen zu nutzen. Die Forschungs- und Interventionsarbeit leitet sich aus folgenden Kritikpunkten ab:

  • Wissenschaft und Praxis sind i.d.R. an monodisziplinären und monokausalen Denk- und Handlungsmodellen orientiert, während die Phänomene, die wir beobachten und beeinflussen wollen, das Ergebnis von komplexen Wechselwirkungen und daraus resultierenden Steuerungsmechanismen sind.

  • Die einzelnen Faktoren, die berücksichtigt werden, sind häufig derart kontextabhängig, dass ihre Wirkung von einer großen Anzahl anderer Faktoren determiniert wird.

  • Strukturelle Faktoren und Einflüsse stehen in enger Wechselwirkung mit emotional-kognitiven Faktoren. Die Berücksichtigung solcher Wechselwirkungen ermöglicht weitaus effektivere Interventionen, als wenn nur strukturelle Aspekte berücksichtigt werden.

  • Es existiert ein Widerspruch, der sich von Familie, Schule, Berufsleben bis hin in die Politik erstreckt, indem von den Bürgern kreative und autonome Eigenaktivität gefordert wird, während de facto passive Erwartungshaltungen der Bürger gepflegt und befriedigt werden.

  • Das menschliche Verhalten ist von der Kommunikation in der Ursprungsfamilie weitgehend mehr beeinflusst als im Alltag angenommen wird. Gleichzeitig können hemmende Probleme aus der Ursprungsfamilie durch Veränderung in der gegenwärtigen Kommunikation aufgehoben werden. Somit befreit sich ein hohes Potential an Autonomie und Kreativität.

  • Die zwischenmenschliche Kommunikation in unterschiedlichen Lebensbereichen (z.B. Familie, Arbeit) basiert häufig auf der Betonung von negativen Eigenschaften und Verhinderung von Kreativität und Innovation. In einer positiven Kommunikation kommt das Gegenteil zum Tragen: Positive Eigenschaften werden gefördert und negative kompensiert.

  • Eine Basis für Kreativität ist die häufig fehlende Verbindung von selbst- und fremderkannten Fähigkeiten mit beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen.

  • Der Mensch und seine sozialen Organisationen sind Sicherheit und Wohlbefinden suchende Systeme. Die mentalitätsbedingte Orientierung richtet sich aber häufig an negativen Konsequenzen, Betonung von Unlust und Unsicherheit aus.

  • Wenn Wohlbefinden, Lust und Sicherheit blockiert sind, entwickelt sich Sucht, verbunden mit negativen Folgen. Eine suchtbelastete Gesellschaft wird eher krank, ist weniger kreativ und innovativ. Das Gegenteil ist die autonome Selbstregulation, in der Menschen nicht von äußeren Objekten abhängig sind, sondern sich selbst integrieren und durch Eigenaktivität Wohlbefinden erzeugende Zustände erreichen.

  • Eine problemlösungsfähige Gesellschaft berücksichtigt die komplexen Wechselwirkungen von Mentalitäten und Strukturen und passt sich somit an die real existierende Komplexität der zu beeinflussenden Systeme an.

  • Eine suchtbelastete Gesellschaft wird kränker und weniger fähig, meditative und religiöse Beziehungen einzugehen. Eine emotional getragene Gottesbeziehung korreliert aber mit Gesundheit und innovativer Problemlösungsfähigkeit.

  • Während in der monodisziplinären Analyse viele Teilbereiche als isolierte Probleme erscheinen, sind die multidisziplinäre Wissenschaft und die darauf basierenden Interventionen bemüht, die Verbindung von Teilbereichen in Wechselwirkungssystemen zu erkennen und zu beeinflussen.

Im Folgenden werden einige Probleme von großer gesellschaftlicher Bedeutung beschrieben, um im Anschluss Aspekte des multidisziplinären Konzeptes darzustellen.

Präventivmedizin

Trotz breit geförderter Präventionsmaßnahmen ist die präventive Medizin sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch international ein unterentwickeltes und ein ausbaubedürftiges Forschungs- und Interventionsfeld von größter gesellschaftlicher Bedeutung (gerade in Anbetracht der zunehmend alternden Gesellschaft).

Eine große Anzahl von einzelnen, isoliert angewandten Präventivmaßnahmen führt leider oft nicht zum gewünschten Erfolg. So beteiligen sich Personen an unterschiedlichen von Krankenkassen geförderten Präventivprogrammen, die sowieso schon ein hohes Gesundheitsbewusstsein haben, während Hochrisikogruppen mit hoher Gefährdung für chronische Erkrankungen in der Regel an den Präventivmaßnahmen gar nicht erst teilnehmen.

In der Forschung weiß man häufig nicht so richtig, in welcher Reihenfolge sich eine Risikokonstellation entwickelt (z.B.: Führt chronischer Disstress zu physischen Risikofaktoren? Oder umgekehrt?) und es bleibt unklar, welche Verhaltensstrategien für erfolgreiche Prävention angesprochen und aktiviert werden müssen.

Unsere Forschung zeigt, dass es von großer Bedeutung ist, die individuellen Motivationen anzusprechen und die Präventivmaßnahmen mit Wohlbefinden und Lust zu verbinden und Abstand zu nehmen von dogmatischen/dirigistischen Gesundheitsempfehlungen, die gerade die Hochrisikogruppen nicht befolgen (z.B. aufgrund unterschiedlicher Suchttendenzen).

Arbeitslosigkeit

Staatliche Instanzen versuchen mit großer Intensität die wichtigsten gesellschaftspolitischen Probleme zu lösen (z.B. Arbeitslosigkeit, Innovationsmangel, mangelnde Anregung der Binnenkonjunktur) und bedienen sich überwiegend wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die ausschließlich aus der Volkswirtschaftslehre stammen. Aufgrund der Erwartungen an die beschlossenen Maßnahmen entsteht die Hoffnung, so viel Wohlstand zu erreichen, dass die sozialen Sicherungssysteme wenigstens z.T. aufrecht erhalten werden können. Solche Maßnahmen sind notwendig, aber sie reichen zur effektiven Problemlösung offensichtlich nicht aus.

Die Erkenntnis scheint sich langsam durchzusetzen, dass komplexe Systeme, in denen eine große Anzahl unterschiedlicher Faktoren interagieren, durch eine begrenzte Anzahl wirtschaftspolitischer Maßnahmen nicht oder nur sehr schwer gesteuert werden können.

Es entwickelt sich ein zunehmender Bedarf unterschiedliche Disziplinen zu verbinden, indem beispw. eine multidisziplinäre Volkswirtschaftslehre entsteht, die in der Lage ist, auch mentale Strategien zu berücksichtigen.

Leistungssport

Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Nation mit hohem Ansehen im internationalen Leistungssport. Trotzdem ist eine wissenschaftlich fundierte Verbindung von technischen und spieltaktischen Fähigkeiten mit mentalen Faktoren noch in keinem Forschungsprogramm ausreichend belegt worden und es fehlen wissenschaftlich begründete Interventionsmaßnahmen. Hier ist häufig sportlicher Erfolg, z.B. bei Fußballmannschaften, zufälligen Konstellationen und Wirkfaktoren überlassen.

Auch die öffentliche Kultur spielt eine große Rolle in der Problemlösungsfähigkeit einer Gesellschaft. Wenn sich kulturell gestützte Kommunikationsformen durchsetzen, in denen individuelle Fähigkeiten gegenseitig unterstützt und gefördert werden, dann sind andere Folgen zu erwarten, als wenn sich eine öffentliche Kommunikation durchsetzt, in der Fähigkeiten systematisch unterdrückt und behindert werden (zugunsten eines sich selbst organisierenden und problemlösungsunfähigen Mittelmaßes).

Monokausale Denkfalle

Wir sind in unserer Kultur und v.a. in der wissenschaftlichen Tradition noch weitgehend dem monokausalen und monodisziplinären Denken verpflichtet, indem wir am liebsten für ein Phänomen eine Ursache ausmachen und diese mit einem Hebeldruck verändern wollen. Diese reizvolle Idee entspricht leider nicht den realen Wirkungszusammenhängen in komplexen Systemen und sie erlaubt nicht, die für die erfolgreiche Intervention nötige Erkenntnisse über Steuerungsfaktoren zu erlangen.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Dr. phil. Dr. h.c. Ronald Grossarth-Maticek

Professor für Präventive Medizin
und Wirtschaftspsychologie/
postgraduierte Studien ECPD
Zentrum für Multidisziplinäre
Forschung und Entwicklung
präventiver Verhaltensstrategien

Sandgasse 12

69117 Heidelberg

Email: info@grossarth-maticek.de

URL: http://www.grossarth-maticek.de

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