psychoneuro 2007; 33(7/08): 318-319
DOI: 10.1055/s-2007-986482
Blickpunkt

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zukunftsperspektive für niedergelassene Neurologen und Psychiater - Ambulante Demenzversorgung

Further Information

Publication History

Publication Date:
27 August 2007 (online)

 
Table of Contents

Die zu erwartende demografische Entwicklung wird in Zukunft zu einer Nachfragesteigerung nach gerontopsychiatrischer Kompetenz führen. Gegenwärtig ist jedoch offen, wie die gerontopsychiatrische Versorgung strukturiert sein wird. Im Vierten Altenbericht wird schon eine Unterversorgung von Demenzkranken konstatiert [3]. Für eine Verbesserung der ambulanten Versorgung speziell der Demenzkranken werden dort zwei Alternativen vorgeschlagen. Entweder werden Hausärzte und Allgemeinärzte intensiv und flächendeckend geschult und arbeiten enger mit niedergelassenen neuropsychiatrischen Fachärzten zusammen oder es werden flächendeckend Gedächtnissprechstunden und Memory Clinics gegründet. Allerdings: "Man könnte durchaus auch daran denken, die Entwicklung psychiatrischer Praxen mit Schwerpunkt Gerontopsychiatrie anzuregen, die dann eine weitere alternative Lösung dieses Problems böten" [4]. Die gegenwärtige politische Willensbildung und auch die Gesetzgebung fördern hausärztlich dominierte Versorgungsstrukturen. Wie sieht demgegenüber das tatsächliche Diagnose- und Therapieverhalten in den niedergelassenen Praxen von Haus- und Fachärzten aus?

#

Abrechnungsdiagnosen und Antidementiva-Verordnungen

Angesichts fehlender Daten aus der Versorgungsforschung ist es hilfreich, auf die Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (ZI-ADT-Panel KV-Nordrhein 2004 - www.zi-berlin.de) und die im Arzneiverordnungsreport [7] vorgelegten Daten zum Verordnungsverhalten von Antidementiva zurückzugreifen. Bei der Stichprobe der Region Nordrhein liegen Demenzdiagnosen bei den über 80-jährigen in den Hausarztpraxen im 1. Quartal 2004 nicht unter den ersten fünfzig am häufigsten genannten Diagnosen (Tab. [1]). Epidemiologisch informiert rechnet man aber mit einer Prävalenzrate bei den über 80-Jährigen von 10-20 % und bei den über 90-Jährigen von über 30 %. Passend hierzu finden sich bei den Nervenärzten bei 13,2 % der über 80-Jährigen die Diagnose Alzheimer Demenz und bei 7,1 % die Diagnose vaskuläre Demenz.

Zoom Image

Tab. 1 Abrechnungsdiagnosen bei Patienten über 80 Jahre, Quartalsabrechnung 1/2004 - Stichprobe aus 450 Praxen der KV-Nordrhein

Bezüglich des Therapieverhaltens geben die Daten des Arzneiverordnungsreports Auskunft, wie hoch die Anzahl der verordnenden Ärzte ist, wie viele tägliche Antidementivadosen (DDD) verordnet werden und wie groß der Prozentanteil der Antidementiva-Verordnungen im Vergleich zu allen anderen verordneten Medikamenten der jeweiligen Fachgruppe ist. Aus Tabelle [2] ist zu ersehen, dass rund 60 000 Allgemeinärzte und Internisten nur ein gutes Drittel der täglichen Antidementivadosen verordnen, dagegen etwa 6 000 Nervenärzte die restlichen zwei Drittel. Der Prozentanteil an der Gesamtverordnung der jeweiligen Fachgruppen macht bei den Hausärzten 0,25 %, bei den Internisten 0,18 % und bei den Nervenärzten 3,63 % aus.

Zoom Image

Tab. 2 Antidementiva-Verordnungen 2005 (nach [7])

Betrachtet man die Bedarfschätzung des Kompetenznetzes Demenzen [8] und setzt sie in Beziehung zu der Anzahl der verordnenden Ärzte, so ergibt sich folgendes Bild: Von den 210 000 Patienten mit einer potenziellen Indikation für die Verordnung moderner Antidementiva kommen 3,5 Patienten auf einen der ca. 60 000 Allgemeinärzte und Internisten, 35 auf einen der ca. 6 000 Nervenärzte und 1 750 auf eine der ca. 120 Gedächtnissprechstunden an psychiatrischen Krankenhäusern (Tab. [3]). Vor dem Hintergrund dieser Schätzung erscheint eine angemessene medikamentöse Versorgung durch niedergelassene Nervenärzte praxisorganisatorisch durchaus möglich.

Zoom Image

Tab. 3 Anzahl Patienten mit AChEH-Indikation pro Arzt bei geschätztem Bedarf von 210 000 Patienten (nach [8])

#

NICE - zukünftige Anforderungsprofile

Zukünftige Anforderungsprofile in der ambulanten Demenzversorgung lassen sich mit der englischen Leitlinie des NICE darstellen [6]. Hier finden neben ethischen Gesichtspunkten zunehmend auch ökonomische Überlegungen Einzug in das medizinische Denken. In der Diagnostik wird die Indikationsstellung für teure Verfahren wie Liquoruntersuchungen und PET den Fachärzten vorbehalten. Teuere Medikamente werden nur durch Spezialisten verordnet und die Kombination von körperlicher und kognitiver Aktivierung sowie der Angehörigenberatung wird durch multiprofessionelle Teams durchgeführt. Übertragen auf Deutschland würden sich für den niedergelassenen Nervenarzt neue Aufgabenfelder eröffnen: die Gate-Keeper-Funktion für teuere Medikamente und Therapien, die Koordination von vielen Beteiligten, die Entwicklung neuer Managementstrategien sowie zunehmend auch Fortbildungsaufgaben.

#

Aktuelle Möglichkeiten besser nutzen

Die gegenwärtige Gesundheitspolitik verhält sich gegenüber den niedergelassenen Fachärzten restriktiv. Dies führt einerseits zu Resignation und Demotivation. Andererseits sollte jedoch beachtet werden, dass die Gesetzesänderungen auch Verbesserungsmöglichkeiten enthalten. Hierzu zählen die Veränderungen des Gebührenkatalogs EBM von 2005, die gesetzliche Pflicht zur Qualitätssicherung sowie das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz von 2007. Bezüglich der Integrierten Versorgung oder eines speziellen Disease-Management-Programms Demenz zeichnet sich gegenwärtig noch keine bundesweit einheitliche Entwicklung ab.

#

Möglichkeiten des EBM

Betrachtet man zunächst die Möglichkeiten die Vergütungsregelungen des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) (vgl. www.kbv.de), so werden sowohl der Hausarzt als auch der Facharzt hinsichtlich der Diagnostik- und Therapieerfordernisse bei Demenzkranken spezifischer honoriert. Für den Hausarzt wurde das hausärztlich-geriatrische Basisassessment geschaffen. Für den Facharzt gibt es für Demenzkranke eine Aufwertung der Testpsychologie und die sog. Betreuungsziffern. Diese EBM-Veränderungen bewirken zwar nicht eine Erhöhung des Gesamtbudgets einer Praxis, aber sie verändern die Bewertung einzelner Leistungsinhalte und ermöglichen damit eine interne Umverteilung des Leistungsspektrums zugunsten Demenzkranker. Das Problem der zu niedrigen Budgets kann allenfalls durch Outsourcing bestimmter Therapie-, Beratungs- und Betreuungsleistungen oder durch die Flexibilisierungsmöglichkeiten des Vertragsarztrechts abgepuffert werden.

#

Qualitätssicherung

Die am 1.1.2006 in Kraft getretene Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über grundsätzliche Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement für die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte, Psychotherapeuten und medizinischen Versorgungszentren schreibt u.a. im Bereich der Patientenversorgung die Ausrichtung der Versorgung an fachlichen Leitlinien, die Patientenorientierung und Patienteninformation/-beratung sowie die Strukturierung von Behandlungsabläufen vor (vgl. www.g-ba.de). Auch wenn nicht im gleichen Maße die Voraussetzung für eine entsprechende Finanzierung dieser Richtlinie sichergestellt wurde, erhöht sie die Qualität der fachärztlichen Versorgung [1], [2].

#

Integrierte Versorgung

Bezüglich der vom Gesetzgeber geförderten Integrierten Versorgung konnten sich in einer von der DGPPN angeregten Arbeitsgruppe Hausärzte, Fachärzte und Klinikvertreter einerseits auf grundlegende Elemente der Diagnostik und der Therapie der Demenzen einigen [5]. Andererseits war es aber nicht möglich, detailliert Behandlungspfade und Schnittstellen zu definieren. Es ist deshalb weiterhin mit einer Atmosphäre der Konkurrenz zwischen Hausärzten, Fachärzten und Klinikeinrichtungen zu rechnen.

#

Unterschiedliche Rollen des niedergelassenen Facharztes

Aufgrund der unübersichtlichen Gemengelage ist zukünftig mit unterschiedlich ausgeprägten Rollentypen des niedergelassenen Facharztes in der ambulanten Demenzversorgung zu rechnen. Vor allem in unterversorgten Regionen, aber auch in der Heimversorgung wird eine eher beratungsorientierte Rolle als Konsiliarpsychiater für den Hausarzt vorherrschen. In städtisch geprägten Regionen wird man häufiger auch die therapie- und teamorientierte Rolle im Rahmen größerer Berufsausübungsgemeinschaften finden.

#

Zusammenfassung

Nicht zuletzt aufgrund der zu erwartenden Morbiditätsentwicklung mit einer Zunahme von Demenzen wird die Kompetenz des niedergelassenen psychiatrischen oder neurologischen Facharztes zukünftig immer wichtiger werden. Gegenwärtig besteht bei einer relativ hohen Arztdichte eine ambulante Unterversorgung Demenzkranker. Hausärzte und Internisten notieren bei den Altersgruppen über 80 Jahre zu selten Demenzdiagnosen. Die Behandlung mit modernen Antidementiva in Deutschland ist gegenwärtig eindeutig eine Domäne der Nervenärzte.

Angesichts dieses Diagnose- und Therapieverhaltens der Hausärzte werden niedergelassene Fachärzte in naher Zukunft nicht nur im diagnostischen Bereich konsiliarisch für die Hausärzte tätig sein, sondern vor allem in städtischen Regionen auch wichtige therapeutische Funktionen in der Demenzversorgung übernehmen. Auch wenn ein Poliklinikmodell politisch gewollt sein mag, ist es gegenwärtig nicht zwingend, dass kliniknahe Gedächtnissprechstunden zukünftig diese Aufgaben übernehmen werden. Einerseits gibt es zu wenige, andererseits werden die Leistungen durch niedergelassene Fachärzte preisgünstiger angeboten.

Dr. Jens Bohlken, Berlin

Email: Dr.J.Bohlken@gmx.net

#

Literatur

  • 01 Bohlken J . Neue Versorgungsformen für Demenz-Patienten. Qualitätszirkel Demenz - erste Ergebnisse.  In Neurotransmitter. 2005;  4 42-46
  • 02 Bohlken J . et al . Demenzbehandlung in Nervenarztpraxen.  Psychoneuro. 2005;  31 (3) 157-159
  • 03 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002. 
  • 04 Helmchen H . Kanowski S . Gerontopsychiatrie in Deutschland. Gegenwärtige Entwicklung und zukünftige Anforderungen. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.) Expertisen zum Dritten Altenbericht der Bundesregierung.  Bd. 4 Opladen: Leske+Budrich. 2001;  369-378
  • 05 Jessen F . et al . Integrierte Versorgung Demenz. Die Herausforderung wird nur im Netz zu bewältigen sein. Info Neurologie & Psychiatrie 2006; 12: 30 ff. 
  • 06 NICE - National Institute for Health and Clinical Excellence. Dementia. Supporting people and their carers in health an social care. NICE clinical guideline 42. Developed by the National Collaborating Centre for Mental Health, 2006. 
  • 07 Schwabe U & Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungsreport 2006. Heidelberg: Springer Verlag, 2007. 
  • 08 van den Bussche H . Kaduszkiewicz H . Verschreibungsmuster und Wirksamkeitsvermutung von Antidementiva.  Nervenheilkunde. 2005;  24 485-492
#

Literatur

  • 01 Bohlken J . Neue Versorgungsformen für Demenz-Patienten. Qualitätszirkel Demenz - erste Ergebnisse.  In Neurotransmitter. 2005;  4 42-46
  • 02 Bohlken J . et al . Demenzbehandlung in Nervenarztpraxen.  Psychoneuro. 2005;  31 (3) 157-159
  • 03 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002. 
  • 04 Helmchen H . Kanowski S . Gerontopsychiatrie in Deutschland. Gegenwärtige Entwicklung und zukünftige Anforderungen. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.) Expertisen zum Dritten Altenbericht der Bundesregierung.  Bd. 4 Opladen: Leske+Budrich. 2001;  369-378
  • 05 Jessen F . et al . Integrierte Versorgung Demenz. Die Herausforderung wird nur im Netz zu bewältigen sein. Info Neurologie & Psychiatrie 2006; 12: 30 ff. 
  • 06 NICE - National Institute for Health and Clinical Excellence. Dementia. Supporting people and their carers in health an social care. NICE clinical guideline 42. Developed by the National Collaborating Centre for Mental Health, 2006. 
  • 07 Schwabe U & Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungsreport 2006. Heidelberg: Springer Verlag, 2007. 
  • 08 van den Bussche H . Kaduszkiewicz H . Verschreibungsmuster und Wirksamkeitsvermutung von Antidementiva.  Nervenheilkunde. 2005;  24 485-492
 
Zoom Image

Tab. 1 Abrechnungsdiagnosen bei Patienten über 80 Jahre, Quartalsabrechnung 1/2004 - Stichprobe aus 450 Praxen der KV-Nordrhein

Zoom Image

Tab. 2 Antidementiva-Verordnungen 2005 (nach [7])

Zoom Image

Tab. 3 Anzahl Patienten mit AChEH-Indikation pro Arzt bei geschätztem Bedarf von 210 000 Patienten (nach [8])