Rehabilitation (Stuttg) 2007; 46(6): 378-380
DOI: 10.1055/s-2007-992801
Aus den Ausschüssen der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Forschungs- und Entwicklungsbedarf in der Rehabilitation aus der Sicht von Betroffenen und ihren Verbänden

Anmerkungen zu einer Befragung von Behindertenverbänden und von Selbsthilfeorganisationen durch den Ausschuss „Interdisziplinäre Rehabilitationsforschung” der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e. V. (DVfR)[*] F. Schliehe 1
  • 1Ausschuss „Interdisziplinäre Rehabilitationsforschung” der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e. V. (DVfR)
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Publication Date:
11 January 2008 (online)

Der Forschungsausschuss der DVfR beschäftigt sich gegenwärtig vor allem mit der Frage, wie die Perspektive und die Interessen von Menschen mit Behinderungen stärker als bisher in die Rehabilitationsforschung eingebracht werden können. Förderprogramme in der Rehabilitation sowie im Gesundheitswesen insgesamt sind dafür ein wichtiger Ausgangspunkt.

Der mehrjährige gemeinsame rehabilitationswissenschaftliche Förderschwerpunkt von Bundesforschungsministerium und Rentenversicherung - eine der wichtigsten Förderinitiativen auf dem Gebiet der Rehabilitation - lief im Jahre 2005 aus. Dies war für die Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften e. V. (DGRW) Anlass, eine Bestandsaufnahme zur Rehabilitationsforschung in Deutschland durchzuführen, die inhaltlichen, strukturellen und organisatorischen Entwicklungen aufzuarbeiten, aber auch auf den zukünftigen Forschungsbedarf hinzuweisen.[2] Ein zusammenfassendes Ergebnis der Expertise wurde mit Stand vom Februar 2007 veröffentlicht (vgl. [1]). Die Expertise fasst u. a. den Stand der Rehabilitationsforschung und den prioritären Forschungsbedarf aus der Sicht wissenschaftlicher Experten unter Beteiligung von Fachleuten der Rehabilitation zusammen. Der Schwerpunkt liegt in der medizinischen Rehabilitation, wobei sowohl indikationsübergreifende als auch indikationsspezifische Themen der Rehabilitationsforschung sowie auch forschungsmethodische Fragen behandelt werden.

Der Forschungsausschuss der DVfR begrüßt die Expertise der DGRW, sieht darin aber auch eine mögliche perspektivische „Verzerrung” insofern, als die Sichtweise von Betroffenen und ihren Verbänden nicht ausdrücklich einbezogen wurde. Als Unterstützung der Expertise hat sich der Forschungsausschuss unabhängig von den Ergebnissen entschlossen, die Expertise zum Forschungsbedarf der DGRW durch eine Befragung von Behindertenverbänden und Selbsthilfeorganisationen zu ergänzen. Sie führte deshalb im Oktober 2006 eine schriftliche Befragung zum Forschungsbedarf in der Rehabilitation aus der Sicht von Menschen mit Behinderung und chronischer Krankheit durch.[3] Dazu wurden insgesamt 212 Verbände auf Bundesebene, die die Interessen von Betroffenengruppen und ihren Angehörigen vertreten, angeschrieben und gebeten, (offene) Fragen zur Rehabilitationsforschung und insbesondere zum Forschungsbedarf zu beantworten. Von den angeschriebenen Organisationen auf Bundesebene haben nur rund zehn Prozent, zum Teil sehr ausführlich, geantwortet. Dies ist zwar einerseits ein relativ geringer Rücklauf, sodass weder repräsentative Aussagen möglich noch eindeutige Prioritäten daraus abzuleiten sind. Andererseits geben die Antworten jedoch durchaus deutliche Hinweise darauf, wo aus der Sicht von Betroffenenverbänden Defizite in Versorgung und Forschung gesehen werden. Aus diesem Grunde werden einige wichtig erscheinende Aussagen, die sich aus der Befragung ergeben, in einem kurzen Überblick zusammengefasst.

Der begrenzte Rücklauf dürfte damit zusammenhängen, dass die Verbände meistens nur aus kleinen Geschäftsstellen bestehen und Wissenschaftsfragen häufig nur nebenher behandeln können. Bei den Verbänden, die geantwortet haben, handeltes sich in der Regel um eingetragene Vereine mit formal unterschiedlichen Bezeichnungen (wie Verband, Vereinigung, Liga, Stiftung), die sich nur im Einzelfall ausdrücklich auf „Selbsthilfe” beziehen. Es kommt jedoch auch vor, dass in einem Verein vorwiegend Fachleute (umweltbedingte Erkrankungen) mitwirken oder dass kooperierende Experten einbezogen wurden. Zum Teil wurden regionale Gliederungen der Verbände um Unterstützung oder Beantwortung gebeten, oder es erfolgten Rückfragen bei den Mitgliedern und eigens dazu einberufene Besprechungen in den Organen. In Einzelfällen wurden auch wissenschaftliche Referenten hinzugezogen. An dieser Stelle ist ferner darauf hinzuweisen, dass die meisten Verbände erwartungsgemäß einen indikationsspezifischen Schwerpunkt aufweisen mit in ihrer Anzahl und Breite allerdings sehr unterschiedlichen Betroffenen- bzw. Erkrankungsgruppen. Die Durchführung der Befragung wurde insgesamt sehr positiv eingeschätzt. Mehrfach wurde betont, dass Behindertenverbände bei Forschungen zukünftig stärker einbezogen werden sollten („Keine Forschung über Menschen mit Behinderungen ohne Beteiligung”). Im Einzelfall wurde aber auch Skepsis über potenzielle Einflussmöglichkeiten geäußert. Der Forschungsausschuss der DVfR sieht sich mit seiner Initiative grundsätzlich bestätigt.

Im Folgenden sollen nun einige der in den Antworten erwähnten Forschungs- und Entwicklungsbereiche angesprochen werden. Diese und andere Einzelaussagen stehen dabei häufig im Zusammenhang mit den jeweiligen Indikationsbereichen. Auch ist darauf hinzuweisen, dass nicht immer zwischen Forschungsbedarf und Problemen unterschieden wird, die unabhängig von weiteren Forschungsaufgaben behandelt werden könnten. Auch Empfehlungen zur Versorgungssituation sind anzutreffen:

Zunächst ist festzuhalten, dass die Antworten sich nicht immer auf die Rehabilitationsphase im engeren Sinn beschränken - häufig wird sie gar nicht explizit angesprochen -, sondern sich auch auf die akutmedizinische Behandlung chronischer Erkrankungen einschließlich der medikamentösen Versorgung, ihre Defizite und Langzeitwirkungen beziehen. Dabei wird auch die unzureichende Beforschung von Auswirkungen auf chronisch kranke Kinder und Jugendliche (z. B. Rheuma) erwähnt. Damit im Zusammenhang steht offenbar, dass die Ursachenforschung von chronischen Erkrankungen als nicht ausreichend betrachtet wird. Auf die hohe Komplexität der Verlaufsformen und Folgeerkrankungen wird ebenso hingewiesen wie auf die Notwendigkeit, seltenere Krankheiten intensiver zu beforschen (z. B. Fibromyalgie). Während einerseits in Einzelfällen auf eine Übertherapie bzw. -diagnose hingewiesen wird, scheint bei anderen Erkrankungen (besonders bei seltener vorkommenden) auch eine Unterdiagnostik vorzuliegen. Dabei wird angemerkt, dass bestimmte Krankheitsbilder bei den Ärzten zu wenig bekannt sind und die richtige Behandlung oft zu spät eingeleitet werde. Grundsätzlich wird dem Nachweis der Wirksamkeit, auch der langfristigen, eine relativ große Bedeutung beigemessen. Dies gilt auch für die Rehabilitationsbehandlung und besonders für einzelne Therapieelemente wie Funktionstraining oder Rehabilitationssport. Erwähnt wird in diesem Zusammenhang beispielsweise die Hippotherapie, das Laufband oder die „Robotertherapie”. Die Hinweise auf die Beforschung einzelner Therapieelemente scheinen dabei auch im Zusammenhang mit dem Bewilligungsverhalten der Kostenträger (Ablehnungen) zu stehen. Mehr oder weniger deutlich werden auch eine Verstärkung der interdisziplinären und sektorenübergreifenden Versorgung sowie ein stärkerer Einbezug von Kontextfaktoren angesprochen. Dazu gehört etwa eine bessere Integration begonnener Maßnahmen in den Alltag oder eine engere Verzahnung beteiligter Therapeuten (z. B. Haus- und Betriebsarzt). Auch eine nicht ausreichend erscheinende Kommunikation zwischen Spezialkliniken und Einrichtungen der Rehabilitation einschließlich fehlender Rückkopplungsprozesse (z. B. Sozialarbeit im Krankenhaus) wird angeführt. Die Kritik an Schnittstellen zwischen den Versorgungssektoren wird von Seiten der Vertreter verschiedener Indikationsbereiche geäußert. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls ein Untersuchungsbedarf zur Rolle von Selbsthilfeorganisationen angesprochen. Auf Interesse stößt auch das persönliche Budget. So interessiert etwa, ob die Anwendung die Rehabilitationschancen bei psychischen Krankheiten erhöhen könnte. Qualitätsfragen werden in verschiedenen Zusammenhängen angesprochen. So wird zunächst angemerkt, dass die Qualität von Einrichtungen für die Betroffenen nicht durchschaubar sei, wobei diese offenbar im Krankenhaussektor positiver gesehen wird als im Rehabilitationsbereich. Unter Qualitätsaspekten wird auch die Versorgung mit Hilfsmitteln gesehen. Dafür sei die Entwicklung von Qualitätsstandards notwendig, wozu auch eine neutrale Beratung gehören könnte. Auch für die Erstellung von Gutachten zum Bedarf sollten die Kriterien problemgruppenorientiert weiterentwickelt werden. Die sozialmedizinische Kompetenz in Rehabilitationseinrichtungen wird teilweise als nicht ausreichend angesehen. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation würden zu wenig dem Berufsbild angepasst und die Umgestaltung des Arbeitsplatzes nicht ausreichend berücksichtigt. 7.Eine Reihe von Aussagen steht im Zusammenhang mit sozialen Kontexten bzw. der Lebenswelt von Betroffenen. Dazu gehören Fragestellungen, die sich auf Angehörige und die Familie beziehen (Warum werden Angehörige so selten von Therapeuten einbezogen, wie kann das System „Familie” gestärkt werden?). In diesem Zusammenhang wird auch danach gefragt, welche Unterstützungsformen sich außerhalb des professionellen Systems entwickelt haben.

Die genannten Punkte geben nur unzureichend die Vielfalt und Bandbreite von geäußerten Entwicklungsdefiziten wieder. Sie sind einerseits an indikationsspezifisch beeinflussten Problemlagen von Betroffenengruppen orientiert, andererseits sind sie allein aufgrund der Befragung noch nicht ausreichend zu gewichten. Wenngleich wesentliche Aspekte des in der Expertise von wissenschaftlichen Experten festgestellten Forschungs- und Entwicklungsbedarfs auch bei der Befragung von Betroffenen und ihren Verbänden ebenfalls geäußert werden (vor allem die Notwendigkeit von langfristig und sektorenübergreifend angelegten Wirkungsanalysen), so geben die Auswertungen der Befragung auch deutliche Hinweise auf eine andere Gewichtung. So wird vor allem der unmittelbare Bezug zur Lebenswelt von Betroffenen deutlicher herausgestellt als in der Expertise. Ferner wird die Bedeutung einer interdisziplinären, sektoren- und phasenübergreifenden Betrachtung hervorgehoben. Eine übergreifende Thematik lässt sich in dem deutlichen Bedürfnis nach Information und Transparenz festmachen. Insgesamt weisen die Rückäußerungen darauf hin, dass eine Intensivierung des Dialogs mit den einbezogenen Verbänden zusätzliche Erkenntnisse bezüglich einer gezielteren und problemorientierten Festlegung des zukünftigen Forschungsbedarfs bringen könnte. Der Forschungsausschuss will den begonnenen Dialog deshalb im Rahmen einer geplanten Tagung, aber auch mit gezielten Gesprächen fortsetzen.

Offen bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Frage, wie eine stärkere Beteiligung von Betroffenen und Selbsthilfeverbänden an der Rehabilitationsforschung gestaltet werden kann. Der Forschungsausschuss der DVfR plant in absehbarer Zeit auch Initiativen in dieser Richtung (Etablierung von Kommunikationswegen, Schaffen von Gelegenheiten zu persönlichen Begegnungen von Betroffenen und Forschern, Anregung und Unterstützung von Musterprojekten, die anderen zur Orientierung dienen können). Anregungen in dieser Hinsicht sind herzlich willkommen.

1 Mitglieder des Ausschusses sind: Prof. Hans-Jürgen Gerner, Dr. Rita Hahnenfeld, Dr. Hans-Martin Schian, Dr. Ferdinand Schliehe, Prof. Karl Wegscheider (Leitung).

Literatur

1 Mitglieder des Ausschusses sind: Prof. Hans-Jürgen Gerner, Dr. Rita Hahnenfeld, Dr. Hans-Martin Schian, Dr. Ferdinand Schliehe, Prof. Karl Wegscheider (Leitung).

2 Mittlerweile hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung zusammen mit der Deutschen Rentenversicherung und den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen und der Verbände der privaten Krankenversicherung ein weiterführendes Förderprogramm ins Leben gerufen mit dem Titel „Chronische Krankheiten und Patientenorientierung” (Bekanntmachung vom 7.7.2006).

3 Das Anschreiben enthielt insgesamt zwölf Fragenkomplexe, die allerdings lediglich als Anregung dienen sollten. Die antwortenden Verbände haben somit auch keineswegs alle Fragen beantwortet, sondern eine Auswahl getroffen und Freitexte hinzugefügt.

Korrespondenzadresse

Dr. Ferdinand Schliehe

An der Blankenburg 18

49078 Osnabrück

Email: fam.schliehe@t-online.de

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