Zentralbl Chir 2023; 148(05): 396-397
DOI: 10.1055/a-2054-6511
Rechtliches – Urteile und Hintergründe

Die hypothetische Einwilligung des Patienten

Urteil des BGH vom 07. Dezember 2021 (AZ. VI ZR 277/19)
Albrecht Wienke

Wer als Arzt* diagnostisch oder therapeutisch notwendige Maßnahmen bei Patienten durchführen will, benötigt dazu – abgesehen von Notfällen und anderen Sonderfällen – immer die Einwilligung des jeweiligen Patienten. Ohne eine solche Einwilligung wäre auch ein indizierter medizinischer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Patienten rechtswidrig. Diese Rechtswidrigkeit wird demnach in aller Regel nur durch die nach genügender Aufklärung erteilte Einwilligung des Patienten beseitigt.

Wer als Patient Schadensersatz und Schmerzensgeld geltend macht, beruft sich auf das Vorliegen potenzieller Behandlungs- oder Aufklärungsfehler. Während der Patient i. d. R. das Vorliegen eines Behandlungsfehlers beweisen muss, obliegt es dem beklagten Krankenhaus oder Arzt zu beweisen, dass die Aufklärung des Patienten ordnungsgemäß erfolgte und damit die vom Patienten erklärte Einwilligung wirksam ist. Es besteht bei Aufklärungsfehlern insoweit eine Beweiserleichterung zugunsten des Patienten. Liegt nämlich eine ordnungsgemäße Aufklärung nicht oder nicht vollständig vor oder erfolgte diese z. B. verspätet, kann sich der behandelnde Arzt darauf berufen, dass der Patient auch bei einer ordnungsgemäßen Aufklärung dem Eingriff zugestimmt hätte. In diesen Fällen erhebt der jeweilige Arzt den zivilprozessual anerkannten Einwand der hypothetischen Einwilligung. Diesen Einwand kann der Patient wiederum nur dadurch entkräften, dass er plausibel darlegt, dass er sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte.

Angesichts der dargestellten Beweislastverteilung lässt sich beobachten, dass in Arzthaftungsprozessen klägerseits immer häufiger neben Behandlungsfehlern auch – mitunter aus rein prozesstaktischen Erwägungen – eine fehlerhafte Aufklärung gerügt und beklagtenseits sodann – jedenfalls hilfsweise – der Einwand der hypothetischen Einwilligung erhoben wird. Vor diesem Hintergrund ist eine aktuelle Entscheidung des Bundesgerichtshofs von Interesse, die sich mit dem Einwand der hypothetischen Einwilligung und den Anforderungen an den behaupteten echten Entscheidungskonflikt des Patienten auseinandersetzt (BGH, Urteil vom 07.12.2021, Az.: VI ZR 277/19).



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Article published online:
16 October 2023

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