Suchttherapie 2011; 12(2): 94-95
DOI: 10.1055/s-0031-1277146
Nachruf

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Nachruf für Herrn Prof. Dr. G. Alan Marlatt

Obituary for Prof. Dr. G. Alan MarlattJ. Körkel
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Publication Date:
16 May 2011 (online)

Mit Gordon Alan Marlatt (geb. am 26.11.1941 in Vancouver) ist am 14. März 2011 einer der weltweit einflussreichsten Suchtpsychologen im Alter von 69 Jahren verstorben. Marlatt, kanadischer und US-amerikanischer Staatsbürger, erlangte 1964 seinen Bachelorabschluss in Psychologie und 1968 seinen PhD in Klinischer Psychologie. Seit 1976 war er Professor für Psychologie an der University of Washington (Seattle) und Direktor des ihr angegliederten Addictive Behaviors Research Center.

Alan Marlatt hat die Theoriebildung über Sucht wie auch die Behandlung weichenstellend geprägt. Er hat bahnbrechende Arbeiten in mindestens fünf Gebieten vorgelegt, die allesamt die vorherrschenden Paradigmen über Sucht infrage gestellt, relativiert oder abgelöst haben:

Mittels des „balanced placebo designs” hat er nachgewiesen, dass das sogenannte „Kontrollverlusttrinken” Alkoholabhängiger stark von Kognitionen (Erwartungen über den vermuteten Alkoholinhalt und die damit einhergehenden Wirkungen usw.) abhängt und nicht auf eine „zelluläre Aberration des alkoholkranken Körpers” reduziert werden kann (vgl. u. a. das von Marlatt u. a. herausgegebene Buch „Alcoholism: New directions in behavioral research and treatment”, Springer 1978). Mit seinem Buch „Relapse prevention: Maintenance strategies in the treatment of addictive behaviors” aus dem Jahr 1985 (2., überarb. Auflage 2005) und dem darin entwickelten sozial-kognitiven Rückfallmodell hat er maßgeblich das heutige Denken über Rückfall geprägt, das Jellineksche Alkoholismusverständnis relativiert, Simplizismen (wie „Just say no!”) ad absurdum geführt und Moralismen über Rückfällige („Der will doch saufen!”) zurückgedrängt (vgl. auch „Cognitive-behavioral relapse prevention for addictions”, DVD, American Psychological Association 2004, und „Therapist's guide to evidence-based relapse prevention”, Academic Press 2007). Seine schon in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts getroffene Unterscheidung zwischen einem „Ausrutscher”, der erst durch internal-stabile Kausalattributionen („Ich bin halt ein willensschwacher Alkoholiker”), Selbstvorwürfe und resignative Erwartungen, aber eben nicht „naturhaft” zum „ausgewachsenen Rückfall” führt, ist inzwischen wissenschaftliches Allgemeingut. Auch andere Komponenten seines Rückfallmodells – etwa Hochrisikosituationen und unzureichende Bewältigungskompetenzen als maßgebliche Rückfallvorläufer – finden heutzutage in nahezu jedem deutschen Rückfallpräventionsprogramm ihren Niederschlag. Beeindruckt von den pragmatischen Ansätzen niedrigschwelliger Drogenarbeit in Holland, die in krassem Gegensatz zum moralistischen Suchtverständnis der USA standen/stehen, wurde Marlatt Fürsprecher der Erweiterung abstinenzorientierter Behandlungsangebote durch solche der Schadensminderung (vgl. „Harm reduction: Pragmatic strategies for managing high-risk behaviors”, Guilford 1998). Er hinterfragte damit auch – datengestützt – das Diktum der Anonymen Alkoholiker und ihre 12-Schritte-Programme, wonach Alkoholismus und andere Suchterkrankungen unheilbar und nur durch Abstinenz unter Kontrolle zu bringen seien. So erwog er öffentlich, ob das Leben des heroinabhängigen Rockstars Kurt Cobain durch einen Harm-Reduction-Ansatz (statt des Cobain auferlegten „abstinence only”-Weges) hätte gerettet werden können. 2005 unterstützte er in Seattle ein Wohnprojekt, in dessen Rahmen „Straßenalkoholikern” in ihren neu geschaffenen Wohnräumen Alkoholkonsum gestattet wurde – was, wie sich zeigte, der Stadt erhebliche Kosteneinsparungen, u. a. durch den Rückgang an Notfallaufnahmen, bescherte. Zusammenfassend zog Marlatt einen, wie er es ausdrückte, „compassionate pragmatism” einem „moralistic idealism” vor – auch mit Blick auf das Allgemeinwohl (vgl. „Changing addictive behavior: Bridging clinical and public health strategies”, Guilford 1999). Eine vierte Innovation war die Nutzbarmachung von Kurzinterventionen für Collegestudierende mit Alkoholhochkonsum. Er entwickelte das einem Harm Reduction-Ansatz verpflichtete, in diversen Studien auf seine Wirksamkeit getestete Programm „BASICS” („Brief Alcohol Screening and Intervention for College Students [BASICS]: A harm reduction approach”, Guilford 1999), das in mehr als 1 800 Colleges implementiert worden ist. Und schließlich machte er seit über 30 Jahren den Ansatz der „Mindfulness Meditation”, der im Moment in der Psychotherapie Premium-Aufmerksamkeit genießt, als rückfallvorbeugende Intervention für das Gebiet der Suchterkrankungen nutzbar (vgl. „Mindfulness for addiction problems” [DVD; American Psychological Association 2004], „Mindfulness-based relapse prevention for addictive behaviors: A clinician's guide”, Guilford Press 2010).

Neben den bereits zuvor genannten spricht eine Vielzahl weiterer (Herausgeber-)Werke für seine Schaffenskraft und die inhaltliche Breite seines Wirkens. Dazu gehören u. a. „Assessment of addictive behaviors” (1985, 2.Aufl.2005), „Addictive behaviors: Prevention and early intervention” (Swets & Zeitlinger 1989), „Addictive behaviors across the lifespan” (Sage 1993), „Addictive behaviors: New readings on etiology, prevention, and treatment” (American Psychological Association 2008) und „The complete idiot's guide to changing old habits for good” (Alpha 2008). Darüber hinaus veröffentlichte er über 200 Buchkapitel und Zeitschriftenaufsätze und war Editor-in Chief bzw. Mitglied des Editorial Board renommierter Zeitschriften, u. a. des Journal of Consulting and Clinical Psychology, Journal of Clinical Psychology, Journal of Abnormal Psychology, Addictive Behaviors, Journal of Studies on Alcohol, Psychology of Addictive Behaviors, Current Drug Abuse Reviews und The Brazilian Journal of Addictions.

Marlatt genoss in den USA und in vielen anderen Ländern eine hohe Reputation, die sich u. a. in der Präsidentschaft der Society of Psychologists in Addictive Behaviors (1983–1984) und der Association for Cognitive and Behavior Therapy (1991–1992) sowie der Mitgliedschaft im National Advisory Council on Drug Abuse des National Institute on Drug Abuse (seit 1996) und dem Advisory Council des National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism (seit 1997) ausdrückte. Für seine bahnbrechenden Forschungen und theoretischen Innovationen wurden ihm zahlreiche Auszeichnungen zuteil, so u. a. der Jellinek Memorial Award for Alcohol Studies (1990), der Innovators in Combating Substance Abuse Award (2001), der Distinguished Researcher Award (2004), der Harriet Tubman Freedom Award for Outstanding Community Activism and Lifetime Achievement to Improve Health (2007) und der Distinguished Scientific Contributions to Clinical Psychology Award der American Psychological Association (2009).

Alan Marlatt war Buddhist, empirisch ausgerichteter Wissenschaftler, unideologischer Verhaltenstherapeut und von Respekt für sein Gegenüber geprägter Mensch. Er legte stets Wert darauf, die praktische Bewährung seiner Modelle und Theorien zu überprüfen und das Wohl jedes einzelnen Patienten und seines sozialen Umfeldes über alles zu stellen. Er brachte Mitgefühl und Empathie in den Umgang mit Menschen mit Suchtproblemen, der insbesondere in den USA durch harsche Konfrontation geprägt war. Er blieb seiner Haltung auch in politisch schwierigen Zeiten treu, so etwa in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts bei der wissenschaftlichen Seriositätsbekundung für die bahnbrechende Studie des Ehepaars Sobell zur Möglichkeit kontrollierten Trinkens bei „Gamma-Alkoholkern”.

Wer Alan Marlatt kannte, wird ihn in freundlicher, wertschätzender Erinnerung behalten. So, wie er den Umgang mit Menschen gestaltete, schied er aus dem Leben: „He passed away peacefully in his own bed with his wife on one side and me and my wife on the other … He was looking up through the skylights, watching the eagles soar and the rain gently fall”. (Christopher Alan Marlatt, Sohn von G. Alan Marlatt).

Joachim Körkel, Nürnberg

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. phil. J. Körkel

Evangel. Hochschule Nürnberg

Bärenschanzstraße 4

90429 Nürnberg

Email: joachim.koerkel@evhn.de

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