Diabetologie und Stoffwechsel 2012; 7(5): 395-396
DOI: 10.1055/s-0032-1325430
Stellungnahme
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Antwort der Leitlinien-Expertengruppe zum Kommentar von Merz und Gembruch

H. Kleinwechter
,
für die Leitlinien-Expertengruppe
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Publication Date:
14 November 2012 (online)

Die Leitlinien-Expertengruppe „Gestationsdiabetes“ dankt Frau Kollegin Merz und Herrn Kollegen Gembruch für ihren Kommentar und ihre insgesamt positive Beurteilung der Leitlinie. Auf den Kommentar antworten wir wie folgt:

1. Merz und Gembruch sehen mit Sorge die aus der HAPO-Studie und dem IADPSG-Konsensus abgeleitete GDM-Prävalenz von mehr als 16 %, die sich hieraus ergebenen zusätzlichen Kosten bei unklarem Nutzen und eine Medikalisierung jeder 6. Schwangerschaft. Diese Sorge teilen wir nicht. Bei der HAPO-Studie handelt es sich um eine ausgezeichnet durchgeführte epidemiologische Studie mit optimierter präanalytischer Behandlung der Blutglukose, die z. T. die hohe GDM-Prävalenz erklärt. Nach der kürzlich publizierten Perinatalstatistik für Deutschland aus dem Jahr 2011 lag die GDM-Prävalenz bei nur 4,4 % [1]. Außerdem reflektieren die zitierten 16 % den Mittelwert aller 15 HAPO-Zentren – in den einzelnen HAPO-Zentren liegen die Frequenzen von 9,3 % in Beersheba/Israel bis 25,5 % in Bellflower, Kalifornien/USA [2]. Retrospektive Analysen zeigen, dass in verschiedenen geografischen Regionen die Anwendung der IADPSG-Kriterien die GDM-Häufigkeiten um das 1,05- bis 1,29-Fache steigert, also regional sehr unterschiedlich sind [3].

Die IADPSG-Kriterien wurden bereits einer aufwendigen Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen [4] und öffentlich diskutiert [5]; der Nutzen überwiegt, wenn den Müttern nach dem GDM eine konsequente Nachsorge angeboten wird und bei postpartal gestörter Glukosetoleranz Lebensstil-Änderungen zur Prävention des Typ-2-Diabetes beitragen. In Deutschland nehmen noch zu wenige Frauen den Termin zum postpartalen oGTT 6 – 12 Wochen nach der Geburt wahr [6].

Wir teilen die Befürchtungen von Merz und Gembruch zur „Medikalisierung“ der Schwangerschaften nicht. Von den 4,4 % GDM-Fällen werden ca. 20 % mit Insulin behandelt. Damit erhält höchstens jede 114. und nicht jede 6. Schwangere ein Medikament (wegen GDM). Der „Deutsche Gesundheitsbericht Diabetes 2012“ belegt, dass bedeutende Manifestationsfaktoren des GDM höheres Lebensalter und höherer BMI der Mutter sind [7]. Damit tragen gesellschaftliche Trends und Lebensstile zur Steigerung der GDM-Häufigkeit bei. Das Reden gegen „Medikalisierung“ der Schwangerschaft ist ein verbreitetes Argument: Trotz der Gesundheit abträglicher Trends in den wohlhabenden Industriegesellschaften wird so den Frauen mit Risiken die Illusion von der unbeschwerten und natürlichen Schwangerschaft erhalten.

2. Merz und Gembruch fordern, bei einem GDM der Schwangeren Feten mit Wachstumsretardierung < 10. Perzentile nach Gestationsalter und Geschlecht differenziert pränatalmedizinisch zu untersuchen. Diese Forderung halten wir für selbstverständlich und unterstützen sie uneingeschränkt. Wir haben einen entsprechenden Hinweis in die für Herbst 2012 erstmals aktualisierte Praxisleitlinie aufgenommen. Merz und Gembruch plädieren weiterhin dafür, auch bei diesen Feten eine straffe Blutglukoseeinstellung fortzuführen und die Zielwerte nicht, wie in der Leitlinie angegeben, leicht nach oben zu setzen. Die zur Pathophysiologie aufgeführten Argumente und die hierzu zitierten Quellen sind aber nicht geeignet, die Forderung von Merz und Gembruch zu untermauern.

Merz und Gembruch befürchten bei wachstumsretardierten Feten durch ein erhöhtes Glukoseangebot eine Steigerung des fetalen Metabolismus mit erhöhtem Sauerstoff-Verbrauch und nachfolgender dekompensierender Azidose. Die hierfür als Beleg zitierten Quellen stammen entweder von Tierversuchen, glukosetoleranten Schwangeren oder diabetischen Schwangeren mit nicht wachstumsretardierten Feten. Hieraus schließen Merz und Gembruch zu Unrecht, dass die Tierversuche durch Untersuchungen beim Menschen bestätigt seien. Dies kann nach unseren Literatur-Recherchen aus den letzten 30 Jahren nicht belegt werden. Im Gegenteil: Die kritische Energieversorgung der Feten bei Plazentainsuffizienz, d. h. die ATP-Bereitstellung, bedeutet, dass sie Hypoglykämien schlechter vertragen als normal entwickelte Feten.

Hypoglykämien sind das vorrangig postnatale Risiko von SGA-Feten, nicht zuletzt, weil das SGA-Syndrom mit gesteigerter Frühgeburtlichkeit assoziiert ist [8]. Diese Feten haben auch keinen fetalen Hyperinsulinismus, der durch materno-fetalen Glukosetransport induziert würde [9] [10]. Bei GDM-Schwangerschaften besteht das Risiko, durch zu straffe Stoffwechseleinstellung mit Insulin überhaupt erst iatrogen eine SGA-Entwicklung zu induzieren, was durch klinische Studien seit vielen Jahren gut belegt ist [11] [12] [13]. Bestätigt wird dies durch die epidemiologischen HAPO-Daten, denn das Geburtsgewicht ist kontinuierlich abhängig von der Höhe der im oGTT gemessenen Blutglukosewerte der Mutter: Höhere Werte sind mit Makrosomie/LGA, niedrigere mit SGA assoziiert. Boyd Metzger, HAPO-Studienleiter, hat dies auf der Jahrestagung der DDG 2008 in München ausdrücklich bestätigt.

Zu Recht bemerken Merz und Gembruch, dass das Ergebnis von SGA-Feten bei GDM schlechter ist als bei normosomen Feten, dies gilt aber nur für eine „intensive Therapie“. Die Leitliniengruppe hat daher nach sorgfältiger Abwägung die leicht angehobenen Zielwerte empfohlen, die von einer kritischen Hyperglykämie entfernt sind, aber das Risiko postnataler, protrahierter Hypoglykämien von SGA-Neugeboren und die damit verbundenen Folgen reduzieren können.

3. Merz und Gembruch sehen den Einsatz der Ultraschall-Biometrie mit der 75. Perzentile (statt der 90. Perzentile) zur Intensivierung der GDM-Therapie als kritisch und von begrenzter Evidenz. Warum sich die Leitliniengruppe für dieses Vorgehen auf der Basis der zwar begrenzten, aber hinreichend vorhandenen Daten so entschieden hat, wird in der langen Leitlinienfassung ausführlich begründet und soll hier nicht wiederholt werden.

Wir fassen die wesentlichen Argumente zusammen: Erstens gilt ein Fetus ab der 90. AU-Perzentile bereits als auffällig, was es präventiv zu vermeiden gilt. Es ist wenig zielführend, erst auf eine intrauterine Makrosomie zu warten, um sie dann zu verhindern. Zweitens gilt die Interventionsgrenze 75. Perzentile für ein dysproportionales Wachstum, d. h. die Kopf-Abdomen-Umfangsratio mit einem Ergebnis deutlich < 1 soll zusätzlich herangezogen werden. Drittens ist die Beziehung zwischen mütterlichen Blutglukose-Selbstkontrollwerten und der fetalen Biometrie schwächer als die Beziehung zwischen Fruchtwasser-Insulinspiegeln und der fetalen Ultraschall-Biometrie. Unterhalb der 75. AU-Perzentile wurden keine erhöhten Fruchtwasser-Insulinspiegel nachgewiesen [14]. Viertens hat sich die Messung des Fruchtwasserinsulins als direkter Surrogatparameter des fetalen Hyperinsulinismus wegen seiner Invasivität mit der Notwendigkeit einer Fruchtwasserpunktion nicht durchsetzen können.

Merz und Gembruch bemängeln weiterhin die fragliche Reproduzierbarkeit der Ultraschallbefunde und zitieren hierzu Quellen aus dem Jahr 2012, die erst nach der Publikation der Leitlinie veröffentlicht wurden. Die Ultraschalluntersuchung des fetalen AU ist nicht einfach und sollte von erfahrenen Geburtsmedizinern durchgeführt werden. Zur Verbesserung von Qualität und Transparenz wäre es wünschenswert, wenn untersuchende Kliniken oder Ambulanzen/Praxen ihre interindividuelle Untersuchervariabilität veröffentlichen würden.

Abschließend empfehlen Merz und Gembruch, bei Vorliegen einer uteroplazentaren Dysfunktion eine strenge Blutzucker-Einstellung beizubehalten. Diese Empfehlung halten wir für unrichtig und potenziell risikoreich. Sie lässt sich durch klinische Studien nicht belegen. In der GDM-Leitlinie empfehlen wir, bei gesichertem SGA-Befund eines Fetus die Blutglukose-Zielwerte der mütterlichen Selbstkontrolle leicht anzuheben. Ziel dieser Empfehlung ist es, die drohende postnatale Hypoglykämie dieser gefährdeten Feten abzuwenden oder den Verlauf abzumildern.

Prof. Dr. med. Christoph Bührer, Prof. Dr. med. Irene Hösli, Prof. Dr. med. Franz Kainer, Prof. Dr. med. Alexandra Kautzky-Willer, Dr. med. Helmut Kleinwechter, Dr. med. Brigitte Pawlowski, PD Dr. med. Ute Schäfer-Graf, Dr. med. Karl Schunck, Prof. Dr. med. Thierry Somville, Dr. med. Marianne Sorger

 
  • Literatur

  • 1 http://www.sqg.de/downloads/Bundesauswertungen/2011/bu_Gesamt_16N1-GEBH_2011.pdf , Zugriff am 12.8.2012
  • 2 Sacks D, Hadden D, Maresh M et al. Frequency of Gestational Diabetes Mellitus at Colaborating Centers Based on IADPSG Consensus Panel-Recommended Criteria. Diabetes Care 2012; 35: 526-528
  • 3 Kleinwechter H. Deutsche Leitlinie Gestationsdiabetes – von den Studien zur praktischen Anwendung. Eine kritische Standortbestimmung der überarbeiteten Leitlinie, die im August 2011 erschienen ist. Diabetes Stoffw Herz 2011; 20: 317-326
  • 4 Werner E, Pettker C, Zuckerwise L et al. Screening for Gestational Diabetes Mellitus: Are the Criteria Proposed by the International Association of Diabetes and Pregnancy Study Groups Cost-Effective?. Diabetes Care 2012; DOI: 10.2337/dc11-1643.
  • 5 Kleinwechter H. Gestationsdiabetes mellitus. Dtsch Med Wochenschr 2012; 137: 999-1002
  • 6 Schaefer-Graf U, Klavehn S, Hartmann R et al. How do we reduce the number of missed postpartum diabetes in women with recent gestational diabetes?. Diabetes Care 2009; 32: 1960-1964
  • 7 Kleinwechter H, Schäfer-Graf U. Diabetes und Schwangerschaft. In: diabetes DE. Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2012. Kirchheim, Mainz: 2012: 140-148
  • 8 Knüpfer M. Clinical Management of Small-for-Gestational-Age Babies. In: Kiess W, Chernausek S, Hokken-Koelega A, (Hrsg) Small for Gestational Age. Causes and Consequence. Vol 13. Karger, Basel 2010: 99-115
  • 9 Economides D, Nicolaides K. Blood glucose and oxygen tension levels in small-for-gestational-age fetuses. Am J Obstet Gynecol 1989; 160: 385-389
  • 10 Economides D, Nicolaides K, Campbell S. Relation between maternal-to-fetal blood glucose gradient and uterine and umbilical Doppler flow measurements. Br J Obstet Gynaecol 1990; 97: 543-544
  • 11 Langer O, Brustman L, Anyaegbunam A et al. Glycemic control in gestational diabetes mellitus – how tight is tight enough: small for gestational age versus large for gestational age?. Am J Obstet Gynecol 1989; 161: 646-653
  • 12 Banerjee S, Ghosh U, Banerjee D. Effect of Tight Glycaemic Control on Fetal Complications in Diabetic Pregnancies. J Assoc Physicians India 2004; 52: 109-113
  • 13 Kessel S, Staboulidou I, Oehler K et al. Gestational diabetes under clinical conditions in aspired normoglycemia: investigation for correlation of blood glucose daily profiles and fetometric ultrasound parameters. Z Geburtshilfe Neonatol 2007; 211: 185-1890
  • 14 Schaefer-Graf U, Kjos S, Bühling K et al. Amniotic Fluid Insulin Levels and Fetal Abdominal Circumference at Time of Amniocentesis in Pregnancies with Diabetes. Diabet Med 2003; 20: 349-354