Erfahrungsheilkunde 2002; 51(2): 72-79
DOI: 10.1055/s-2002-20268
Originalia

Karl F. Haug Verlag, in: MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Die Traditionelle Chinesische Medizin ist kein Museum[1]

Peter Reibisch
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Publication Date:
22 February 2002 (online)

Zusammenfassung

Wie können sich die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und die westliche Medizin gegenseitig fördern? Sollen wir uns zufrieden geben, wenn ein sich gegenseitiges Akzeptieren und Nebeneinander beider Medizinen erreicht ist, oder kann ein lebendiger Austausch entstehen? Die Auseinandersetzung zwischen TCM und westlicher Medizin ist Teil der schon viele Jahre geführten Debatte zwischen Wissenschaftlern, Philosophen, Künstlern und auch Ärzten. Aus den eigenen inneren Widersprüchen hat sich im Westen eine Wandlung entwickelt, die den west-östlichen Diskurs entscheidend befruchten kann.

Im Zentrum dieser Debatte steht das Problem der im Westen gewachsenen Trennung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Körper und Seele. Zuerst erschütterte die moderne Physik dieses Weltbild im Westen. Wenn in der Psychotherapie bei Freud noch die alte Haltung vorherrscht, so löste sich dies schon bei C.G. Jung und zunehmend in der modernen Psychotherapie auf. In der Philosophie überwindet besonders die Phänomenologie die Trennung von Subjekt und Objekt und wird zur Philosophie des Leibes bei Hermann Schmitz.

Ich zeige am Beispiel der TCM und den somatopsychischen Vorstellungen von Jochen Gleditsch und am Beispiel der „Initiatischen Therapie” nach Dürckheim Aspekte der Verschiedenheit westlicher und östlicher Grundhaltungen auf.

In der westlichen Rezeption der TCM ist aus meiner Sicht eine dogmatische Haltung verbreitet. Wer für sein heutiges ärztliches Tun kopierend chinesische Texte übernimmt, ohne die Fragen zu kennen und zu erarbeiten, die der östlich-westliche Diskurs sucht, der schiebt als Filter zwischen sich und den Patienten sowohl dicke, alte Bücher als auch seine unreflektierten Gedanken und Gefühle. Ich nehme die TCM mit ihren wesentlichen Gedanken und Haltungen dann ernst, wenn ich sie nicht kopiere, sondern sie überprüfend, auch verändernd im Heute lebendig werden lasse.

Abstract

How can TCM and western medicine be combined for mutual benefit?

Should we rest content, when mutual acceptance and the co-existence of both is attained, or could it be possible that a living exchange will come into existence? The conflict between TCM and western medicine is a part of a years-long debate between scientists, philosophers, artists and physicians. The inner conflicts inherent in this have led to the development of a change in thought in the West that could prove extraordinarily fruitful for the East-West discussion.

A central part of the debate is the Western separation of subject and object, body and soul. Modern physics first shook the foundations of this conception of the world in the western countries. While the old position still dominates in Freudian psychoanalysis, this had already been given up by C.G. Jung, and in modern psychotherapy it is increasingly on the wane. In philosophy the New Phenomenology in particular has overcome the separation of subject and object, becoming the philosophy of the corporeal in the work of Hermann Schmitz.

Using the example of TCM and the somatopsychic conceptions of Jochen Gleditsch, and also using the example of the Initiatic Therapy of Dürckheim, I will demonstrate some aspects of the difference between Eastern and Western fundamental positions.

In my opinion a dogmatic attitude in the Western reception of TCM is widespread. Those who merely imitatively apply Chinese texts for their medical work, without knowledge of the questions which the East-West debate raises, place a filter of heavy old books and of their own unreflected thoughts and feelings between themselves and their patients. I am taking TCM and its essential ideas and attitudes seriously only when I do not imitate it, but rather apply it today as living knowledge, critically and, when necessary, with alterations.

01 Artikel veröffentlicht in: Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 3 (2001) 176-182.

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01 Artikel veröffentlicht in: Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 3 (2001) 176-182.

Peter Reibisch

Praktischer Arzt

Strandweg 12

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