Gesundheitswesen 2008; 70(12): 779-790
DOI: 10.1055/s-0028-1103263
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zusammenhänge zwischen der Soziallage, Empowermentprozessen und der Entwicklung psychischer Gesundheit

Correlation between Social Status, Empowerment Processes and the Development of Psychological HealthS. Sperlich 1
  • 1Medizinische Soziologie, Medizinische Hochschule Hannover
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Publication Date:
11 December 2008 (online)

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit verfolgt die Zielsetzung, das Wissen über soziallagespezifische Empowermentprozesse anhand von katamnestischen Daten aus Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen für Mütter und ihre Kinder zu fundieren. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Beantwortung folgender Fragen: 1. Wie entwickelt sich die psychische Gesundheit in Abhängigkeit von der sozialen Lage nach der Intervention? 2. welche soziallagespezifischen Empowermentprozesse bilden sich poststationär ab? und 3. welche Bedeutung kommt Empowerment für die nachhaltige Verbesserung der psychischen Symptombelastung zu? Die Analyse basiert auf Daten von 6 094 Patientinnen aus 39 Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, die bis zu einem Jahr nach der Intervention erhoben wurden. Für die Evaluation von Empowerment wurden zwei Itembatterien entwickelt, die sich auf kleinräumige Veränderungen der Lebenssituation (‚Verhältnis-Empowerment’) sowie auf Optimierungen von gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen, Einstellungen und Kompetenzen (‚Verhaltens-Empowerment’) beziehen. Veränderungen im Gesundheitszustand wurden hinsichtlich der Dimension ‚psychische Symptombelastung’ (SCL-K-9) erfasst. Die soziale Schichtzugehörigkeit wurde clusteranalytisch bestimmt, die soziallagespezifische Gesundheitsrelevanz von Empowerment regressionsanalytisch ermittelt. Die gesundheitlich am stärksten belasteten Mütter der unteren sozialen Lage profitieren kurzfristig am meisten von der Intervention, jedoch gehen die Therapieeffekte in dieser sowie in der mittleren Soziallage nach der Rückkehr in den häuslichen Alltag überdurchschnittlich stark zurück. Insbesondere für die Mütter der unteren und mittleren Soziallage erwies sich das ‚Verhaltens-Empowerment’ als bedeutsam für die nachhaltige Verbesserung des psychischen Gesundheitszustandes, allerdings sind die Empowermenterfolge hier im Vergleich zu den Müttern der oberen Soziallage vor allem in der Katamnese nach sechs Monaten deutlich geringer. In der Katamnese nach zwölf Monaten ist ein deutlicher Rückgang in der Bedeutung von Empowerment zu verzeichnen, wobei die relative Bedeutung des Verhältnis-Empowerments in der langfristigen Perspektive zunimmt. Die theoretische Evidenz von Empowerment konnte empirisch bestätigt werden. Der Umstand, dass die Gesundheitseffekte zwölf Monate nach der Intervention deutlich zurückgehen, weist auf die Notwendigkeit von unterstützenden poststationären therapeutischen Maßnahmen hin. Die ermittelten geringen Unterschiede zwischen den Empowermenterfolgen der unteren und mittleren Soziallage legen nahe, dass sozialschichtspezifische Analysen im vorliegenden Fall nur begrenzt aussagekräftig sind.

Abstract

The aim of this paper is to deepen our knowledge about empirical evidence of empowerment on the basis of follow-up data from mother-child rehabilitation centres. The study focusses on three questions: i) to what extent can psychological health in different socioeconomic groups be improved by the intervention?, ii) Is there an impact of social position on the success of empowerment and iii) Is there any relevance of empowerment for sustainable improvement of psychological health? The study is based on data from 6 095 patients of 39 mother-child rehabilitation centres in Germany, collected up to one year after intervention. Empowerment was assessed by two self-defined scales, measuring positive changes i) in living circumstances, such as partnership or household (‘Verhältnis-Empowerment’) and ii) in health-related behaviours and competencies, such as better coping with problems and higher health awareness (‘Verhaltens-Empowerment’). Health status was assessed by psychological symptoms and measured by SCL-K-9, a short form of the SCL-90-R. The socioeconomic position was determined by cluster analysis, the influence of social position and empowerment for psychological health was computed by analysis of regression. Before intervention mothers from the lower class showed higher degrees of psychological symptoms. After intervention they reached higher short-term effects, but six months later psychological symptoms increased again. In particular improvement of health-related behaviours and competencies was associated with better psychological health. The highest impact on health was found among mothers from the middle and lower class. These mothers, however, showed less success in optimising health-related behaviours and competencies. Twelve months after treatment the health-related impact of empowerment decreased. The theoretical evidence of empowerment could be empirically confirmed. However, decreasing health effects of empowerment after twelve months show that supporting help after clinical intervention is necessary to maintain the positive impact of empowerment. Only small differences in empowerment between lower and middle class lead to the conclusion that terms of social class are less appropriate for the clinical sample of mothers investigated in this study.

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1 Hierbei handelt es sich um typische Klartextangaben, die zu t3 von den Patientinnen zu den einzelnen Veränderungsbemühungen gemacht wurden. Siehe hierzu ausführlich [22].

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Medizinische Hochschule Hannover

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