Gesundheitswesen 2014; 76(05): 282-283
DOI: 10.1055/s-0034-1375680
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Migration

M. Wildner
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21 May 2014 (online)

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Prof. Dr. med. Manfred Wildner

Migration ist ein Menschheitsthema. Ebenso wie schon die Ausbreitung des Homo erectus, eines Vorfahren des Neandertalers, über eine Out-of-Africa-Theorie erklärt wird, wird dies auch für den modernen Homo sapiens angenommen. Moderne Menschen traten vermutlich 120 000 Jahren vor unserer Zeitrechnung im Gebiet des heutigen Äthiopiens erstmals auf. Anschließend finden sich Anzeichen für Wanderungen von kleinen Sippen entlang der afrikanischen Küste in den Nahen Osten. Von dort gelangten sie entlang der Küsten nach Südasien und vor etwa 50 000 Jahren bis nach Australien. Die Besiedelung von Zentral- und Ostasien, Europa und Amerika erfolgte erst später. Genetische Untersuchungen legen nahe, dass eine relevante Bevölkerungsvermehrung und damit verbundene Migration aus Afrika erst vor etwa 60 000 Jahren stattgefunden hat, innerhalb Asiens vor 50 000 Jahre und nach Europa vor 30 000 Jahren [1] [2] [3]. Dabei ist das Nebeneinander des modernen Homo sapiens mit dem älteren Neandertaler in Europa wahrscheinlich das einzige Aufeinandertreffen unterschiedlicher Hominidenformen. Was die Ursachen für die Migrationswellen gewesen sein mögen? Hier finden sich verschiedene Theorien. Angenommen wird eine Steigerung der Komplexität der menschlichen Fähigkeiten auf technologischem, ökologischem, sozialem und kognitivem Gebiet [1]. In Reflexion prähistorischer Funde und historischer Erfahrungen dürften sicher immer auch Neugier und Not eine Rolle gespielt haben. Nur einer von drei steinzeitlichen Menschen wurde älter als 40 Jahre, Familienverbünde mit Waisen und Halbwaisen sind damit als Normalität anzunehmen [4].

Während der Jetzt-Mensch sich in seinen genetischen und phänotypischen Ausprägungen von den Frühmenschen, den Urmenschen und den Vormenschen deutlich abgrenzt, sind sich die modernen menschlichen Populationen untereinander sehr ähnlich. 1972 beschrieb Richard Lewontin anhand der damals verfügbaren genetischen Information, dass über 80% der genetischen Variation innerhalb einer Population zu beobachten ist, unter 10% zwischen Populationen und wiederum nur unter 10% zwischen sogenannten menschlichen Rassen [5]. Sein Gedankenexperiment: Auch bei einem Aussterben der gesamten Menschheit bis auf den relativ kleinen ostafrikanischen Stamm der Kikuyu bliebe noch immer 85% der menschlichen genetischen Variation erhalten. Seine Schlussfolgerung: „Human racial classification is of no social value and is positively destructive of social and human relations“ (dt. “Die Klassifikation nach menschlichen Rassen hat keinen sozialen Wert und ist definitiv destruktiv hinsichtlich der sozialen menschlichen Beziehungen“, [5, S. 397]). Einschränkend ist zu sagen, dass kaum ein Forschungsgebiet seither derartige grundlegende Umwälzungen erlebt und Fortschritte gemacht hat wie die Molekularbiologie.

Welche Bedeutung hat Migration heute, insbesondere mit Bezug zu unserer Gesundheit und unserem Gesundheitswesen? Das statistische Bundesamt definierte für den Mikrozensus 2005 als Personen mit Migrationshintergrund „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche geborenen mit mindestens einem nach 1949 zugewandertem oder als Ausländer in Deutschland geborenem Elternanteil“ [6]. Nach dieser Definition weist fast jeder fünfte in Deutschland lebende Mensch einen Migra­tionshintergrund auf, bei den unter 5-jährigen hat jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund. Etwa jeder zehnte Mitbürger zog aus dem Ausland zu. Knapp ein Viertel der Zuwanderung erfolgte aus der EU, über die Hälfte der Zuwanderung erfolgte aus europäischen Ländern. Die bedeutsamsten Herkunftsländer sind die Türkei, die Russische Föderation und Polen. Personen mit Migrationshintergrund sind im Durchschnitt etwa 10 Jahre jünger, häufiger ledig und weisen einen leicht erhöhten Männeranteil auf. Dabei unterscheidet sich der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung re­gional erheblich: Die alten Bundesländer weisen mehr Mitbürger mit Migrationshintergrund aus als die ­neuen Bundesländer, Städte und insbesondere Großstädte haben ebenfalls einen höheren Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund bzw. Migrationserfahrung. Dies betrifft ein Drittel der Bevölkerung in München, etwa 30% der Bevölkerung in Hamburg und etwa ein Viertel der Bevölkerung in Berlin. Die soziodemografischen Analysen ließen sich noch detailliert fortführen.

Was bedeutet Migration für Gesundheit und das Gesundheitswesen? Ergeben sich daraus besondere Risiken, vielleicht auch besondere Chancen? Zu den Risiken finden sich erwartungsgemäß Zusammenhänge mit Altersstruktur und Geschlecht – eine erhöhte Risikobereitschaft bei jungen Männern hinsichtlich verschiedenster Risikofaktoren, vom Verkehrsverhalten bis zum Tabak- und Alkoholkonsum, überraschen nicht. Allerdings sind auch hier ethnische Einflüsse, z. B. auf den Umgang mit Alkohol, zu berücksichtigen. Daten bei einzuschulenden Kindern deuten darauf hin, dass der Migrationshintergrund mit einer erhöhten Neigung zu Übergewicht und einem verzögerten Spracherwerb verknüpft ist. Hier wäre eine genauere Kenntnis der vermittelnden Faktoren von großem Interesse. Sind es die Auswirkungen von Familienstrukturen und Gebräuchen, von sozialen Nachteilen, vielleicht von den Wohnverhältnissen und der „gebauten Umwelt“ (built environment)? Direkte genetische Einflüsse dürfen als unwesentlich eingestuft werden.

Bezogen auf die Einrichtungen im Gesundheitswesen sind bei Personen mit Migrationserfahrung Unterschiede im Nutzungsverhalten bekannt. Bei diesen Gruppen spielt insbesondere die medizinische Versorgung über die Krankenhausambulanzen eine große Rolle. Ansätzen zur Stärkung der Health Literacy, also der Kompetenz in gesundheitlichen Dingen einschließlich der Nutzung des Gesundheitswesens und zielgruppenspezifischen Programmen wie z. B. MiMi („mit Migranten für Migranten“), kommt große Bedeutung bei. Gleichzeitig finden sich auch besondere Chancen abhängig vom Migrationshintergrund. So konnte die Roseto-Studie in den USA zeigen, dass Zuwanderer aus Italien ein deutlich verbessertes Gesundheitsverhalten und damit eine verbesserte Lebenserwartung aufwiesen als die amerikanische Durchschnittsbevölkerung. Dieser Gesundheitsvorsprung verlor sich erst im Verlauf nachfolgender Generationen [7]. In Deutschland war ein interessanter Befund der Mikrozensusklassifikation, dass Menschen mit einem so definierten Migrationshintergrund im Schnitt sogar gebildeter und gesünder sind als der Bevölkerungsdurchschnitt.

Zudem gibt es auch eine Migration von Gesundheitspersonal, nach Deutschland und aus Deutschland heraus. So ist die Einwanderung von Pflegefachkräften nach Deutschland eine wesentliche Unterstützung des deutschen Gesundheitswesens, während gleichzeitig Probleme durch die korrespondierende Abwanderung in den Herkunftsländern zu beobachten sind. Gleiches gilt für die Zuwanderung von Ärztinnen und Ärzten nach Deutschland, oftmals aus osteuropäischen Ländern, die die Abwanderung von deutschen Ärztinnen und Ärzten um ein Vielfaches übersteigt. Ärztinnen und Ärzte aus Deutschland haben als Zielländer insbesondere die Schweiz, Österreich und die USA [8]. Von der Weltgesundheitsorganisation wurde diesbezüglich ein internationaler Verhaltenskodex formuliert [9].

Weitere Aspekte? Auch die Patienten werden mobil. Bei dieser Patientenmigration wird von Experten zwischen Medizintourismus mit dem Ziel einer hochwertigen Versorgung im engeren Sinn sowie einem Gesundheits- bzw. Wellnesstourismus mit Schwerpunkt im Bereich von Kurorten, Heilbädern und Wellnessanbietern unterschieden [10]. Die Bezeichnung Tourismus sei dabei als Fachterminus verstanden, der sich auf eine Reise mit mindestens einer Übernachtung bezieht. Im Bereich der Medizinreisen ist ein Wachstumstrend zu beobachten: Für Reisen innerhalb eines Landes ebenso wie für den länderübergreifenden „Inbound-“ und „Outbound-“ Tourismus. Auch in Deutschland lassen sich gegenwärtig jährlich etwa 100 000 ausländische Patienten in Krankenhäusern und Kliniken stationär behandeln, hinzu kommen die Patienten im ambulanten Bereich. Weltweit zählen vor allem asiatische Länder zu den beliebtesten Reisezielen des Medizintourismus. Die großen Medizindestinationen Thailand, Singapur und Indien geben jeweils über 500 000 einreisende Medizintouristen an.

Und noch ein weiterer Aspekt ist die Migration von Gesundheitsrisiken und Gesundheitschancen. Diese reichen von den klassischen epidemischen Infektionskrankheiten zu den Epidemien nicht-übertragbarer Krankheiten, von synthetischen Drogen und „Social Beer Games“ zum Ernährungsverhalten wie dem Verzehr von rohem Fisch und der Portionsgröße auf den Tellern und, als Positivbeispiel, bis zu Jogging und Tai Chi. Migration ist in seinen vielfältigen Facetten ein weites Feld, dass immer auch eine sorgfältige Differenzierung in der Deskription, in den Ursachenanalysen und ggf. den daraus entwickelten Handlungsop­tionen erfordert. Diese Vielfalt lässt sich hier nur in ausgewählten Aspekten ansprechen.

Chancen und Herausforderungen für Gesundheit und im Gesundheitswesen – teilweise mit direktem Migrationsbezug – bestimmen auch die Themen dieser Ausgabe: Die Abbildung des Ressourcenverbrauchs im Krankenhaus über DRGs, Fehler im hausärztlichen Bereich und die Gleichwertigkeitsprüfung für ausländische Ärztinnen und Ärzte in Baden-Württemberg, Pa­tientenzufriedenheit in der onkologischen Nachsorge, Ökonomisierung und Work-Life-Balance als Perspektiven der Abwanderung von deutschem Gesundheitspersonal, Erfahrungen der ÖGD-Schutzambulanz für Gewaltopfer in Fulda, medikamentöse Prävention mit Vitamin D, die Bedeutung des Migrationshintergrunds für die Tabakrauchbelastung von Kindern, das sexuelle Risikoverhalten von Auszubildenden in der Pflege sowie ein Blick in unser europäisches Nachbarland Österreich mit einer Gesundheitsbefragung der dortigen bäuerlichen Bevölkerung.

Um noch einmal auf den Anfang zurückzukommen: Nicht nur im Hinblick auf unsere Väter und Mütter bzw. Ururgroßväter und Ururgroßmütter kann gesagt werden, dass das Unterwegssein und damit ein Migrationshintergrund eine menschliche Bedingtheit zu sein scheint. In zur Migration abgeschwächter Form nimmt heute die Mobilität allgemein zu: In unseren Erwerbsbiografien genauso wie in unserem beruflichen und privaten Reiseverhalten. Vielleicht wird auch einmal die Besiedlung der neuen Welten des Cyberspace kulturgeschichtlich als ein Stück Migrationsgeschichte der Menschheit verortet werden. Eines sollte uns modernen Menschen heute genau so präsent sein wie den frühen Menschen: Unser Angewiesen-Sein auf die tragenden Strukturen und Prozesse unseres Planeten. Katastrophen mit dem Kollaps ganzer Zivilisationen sind reale Möglichkeiten, wie Jared Diamond beschreibt [11]. Zu Recht wird unser Planet auch als durchaus verwundbares „Raumschiff Erde“ bezeichnet. Dieses Raumschiff trägt uns nicht nur durch das All, sondern auch durch die Zeit. Hoffen wir auf ein weiterhin gutes, gemeinsames Unterwegssein unserer planetaren Schicksalsgemeinschaft.

 
  • Literatur

  • 1 Mellars P. Why did modern human populations disperse from Africa ca. 60.000 years ago? A new model. PNAS 2006; 103: 9381-9386
  • 2 Appenzeller T. Human migrations: Eastern Odyssey. Nature 2012; 485: 24-26
  • 3 Corraway E. Archaeology: Date with history. Nature 2012; 485: 27-29
  • 4 Trinkhaus E. Late Pleistocene adult mortality patterns and modern human establishment. PNAS 2011; 108: 1267-1271
  • 5 Lewontin R. The apportionment of human diversity. Evolutionary Biology 1972; 6: 381-398
  • 6 Statistisches Bundesamt . Deutschland. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Erschienen am 04. Mai 2007. Statistisches Bundesamt; Wiesbaden: 2009
  • 7 Egolf B, Lasker J, Wolf S et al. The Roseto Effect: A 50-Year Comparison of Mortality Rates. Am J Public Health 1992; 82: 1089-1092
  • 8 Osterloh F. Mehr Ärztinnen, mehr Angestellte. Dt Ärzteblatt 2014; 111: C560-C561
  • 9 Weltgesundheitsorganisation Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel, Sixty-third World Health Assembly – WHA63.16, May 2010
  • 10 Freyer W, Kim B-S. Medizintourismus und Medizinreisen – eine inter-disziplinäre Betrachtung. Das Gesundheitswesen 2014; 76: 65-68
  • 11 Diamond J. Collapse: How Societies Choose to Fail or Succeed. Viking Press; New York: 2004. (Dt. Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. S. Fischer, Frankfurt 2005)