Gesundheitswesen 2016; 78(02): 131
DOI: 10.1055/s-0041-111844
Leserbriefe
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Leserbrief

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Publication Date:
23 February 2016 (online)

Meyer-Delpho C, Schubert H-J.
Potenziale der Informations- und Kommunikationstechnologie zur Optimierung intersektoraler Versorgungsprozesse: Ein Fallbeispiel der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung
Gesundheitswesen 2015; 77: 550–556

Der demografische Wandel als dreifache Alterung der Bevölkerung spielt für das bundesdeutsche Gesundheitswesen eine hervorgehobene Rolle: (1) alte Menschen nehmen relativ und (2) absolut zu und (3) erreichen zudem ein immer höheres Lebensalter. So positiv der dritte Aspekt ist, hat der demografische Wandel zur Folge, dass ein steigender Versorgungsbedarf erbracht werden muss bei sinkenden Versichertenzahlen sowie schrumpfendem Arbeitskräftepotenzial. Daher ist es selbstverständlich, dass auch im Gesundheitswesen das Potenzial der Informations- und Kommunikationstechnologie gehoben werden muss.

Um hierbei negative ökonomische und gesellschaftliche Folgen zu vermeiden, ist es notwendig, diese Potenziale vor einer breiten Einführung von Technik zu eruieren. Insofern sind Untersuchungen, wie sie Meyer-Delpho und Schubert [1] dokumentieren, mehr als geboten. Doch ist eine Fokussierung auf die Frage nach dem Einsparpotenzial bzgl. der Zeit, die pro Patient durch das behandelnde Personal aufgebracht wird, nicht nur, aber gerade in der Palliativversorgung zu kurz gedacht. Dies wäre zu verhindern gewesen, wenn bei der Studie, die man als Teil eines Health Technology Assessments begreifen kann, alle relevanten Stakeholder berücksichtigt worden wären. Stattdessen sehen Meyer-Delpho und Schubert Patientinnen und Patienten offensichtlich nicht als Akteure, was die Frage aufwirft, was diese dann eigentlich sind: Behandlungsobjekte? Fälle? Auf jeden Fall scheinen sie keine Stakeholder zu sein, deren Interessen in die Evaluation des Nutzens von IKT im Gesundheitswesen einbezogen werden müssten. Dabei ist es schon seit geraumer Zeit ein Desiderat der HTA, Ethik und sozio-kulturelle Aspekte miteinzubeziehen [2] [3]. Denn nicht jede Technik oder Verwendungsweise von Technik ist mit unseren moralischen Ansprüchen und sozio-kulturellen Rahmenbedingungen kompatibel. Wird trotzdem versucht, problembehaftete Technik in den Einsatz zu bringen, führt dies nicht selten zur offenen oder verdeckten Ablehnung der Technik durch eine oder mehrere Stakeholdergruppen. Ökonomisch ist dies fatal, da knappe Ressourcen fehlallokiert werden, gesellschaftlich ist nicht selten die Folge, dass der Einsatz von Technik pauschal abgelehnt wird.

Aus medizinischer Sicht ist gleichfalls zu hinterfragen, ob eine Fokussierung auf die Reduktion der Kontaktzeiten zu einer korrekten Evaluierung des Nutzens von IKT beitragen kann. Der unmittelbare Kontakt zu den Patientinnen und Patienten hat therapeutische Bedeutung, so dass dessen Verringerung kontraproduktiv wirken kann. Daher sollten isolierte Betrachtungen durch eine umfassendere Perspektive ersetzt werden – schon, weil eine reduzierte Sicht alle Bemühungen zunichtemachen kann, Patientinnen und Patienten als Personen mit Würde und moralischen Ansprüchen wahrzunehmen. Dafür existieren inzwischen zahlreiche Methoden bspw. zur normativen Evaluation altersgerechter Assistenzsysteme [4] [5], die die Einbeziehung aller Stakeholder unterstützen und für IKT-Anwendungen in anderen Bereichen des Gesundheitswesen angepasst werden können. Da sowohl auf Bundes- wie auf EU-Ebene im Bereich der Forschungsförderung in der Regel obligatorisch ist, ethische, juristische und soziale Aspekte der Technik (ELSA) umfänglich zu berücksichtigen, stoßen isolierte Betrachtungen zudem schnell an Akzeptanzprobleme ganz eigener Art.

Prof. Karsten Weber, Regensburg
Karsten.Weber@oth-regensburg.de

 
  • Literatur

  • 1 Potenziale der Informations- und Kommunikationstechnologie zur Optimierung intersektoraler Versorgungsprozesse: Ein Fallbeispiel der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung. Meyer-Delpho C, Schubert H-J. Das Gesundheitswesen 2015; 8/9: 550-556
  • 2 Ethik im Health Technology Assessment – Anspruch und Umsetzung. Lühmann D, Raspe H. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 2008; 2: 69-76
  • 3 Sozio-kulturelle Aspekte in Health Technology Assessments (HTA). Gerhardus A, Stich AK. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 2008; 2: 77-83
  • 4 Bewertungskriterien für altersgerechte Assistenzsyteme. Wackerbarth A. In Weber K, Frommeld D, Manzeschke A, Fangerau H. Hrsg Technisierung des Alltags – Beitrag für ein gutes Leben?. Stuttgart: Steiner; 2015: 225-246
  • 5 MEESTAR: Ein Modell zur ethischen Evaluierung sozio-technischer Arrangements in der Pflege- und Gesundheitsversorgung. Weber K In Weber K, Frommeld D, Manzeschke A, Fangerau H. Hrsg Technisierung des Alltags – Beitrag für ein gutes Leben?. Stuttgart: Steiner; 2015: 247-262