Gesundheitswesen 2017; 79(04): 261-267
DOI: 10.1055/s-0042-107945
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nicht-Teilnahmen an Kindervorsorgeuntersuchungen als Indiz für Kindeswohlgefährdung? – Eine retrospektive Analyse von 605 an das Jugendamt gemeldeten Fällen

Failure to Attend Child Preventive Examination as a Possible Indication of Risk to Children’s Welfare: Retrospective Analysis of 605 Cases Reported to the Child Protection Services
S. Hock
1   Kindervorsorgeuntersuchungen, Hessisches Kindervorsorgezentrum, Frankfurt am Main
,
C. Graul
1   Kindervorsorgeuntersuchungen, Hessisches Kindervorsorgezentrum, Frankfurt am Main
,
S. Herb
2   Hessisches Ministerium für Soziales und Integration, Referat V 4A – Prävention und Gesundheitsberichterstattung, Wiesbaden
,
G. Nötzel
3   Amt für Jugend, Schulen und Kultur des Main-Taunus-Kreises, Hofheim/Ts.
,
M. Kieslich
4   Hessisches Kindervorsorgezentrum, Frankfurt am Main
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Publication History

Publication Date:
28 June 2016 (online)

Zusammenfassung

Ziel der Studie: Bisher wurde nicht geklärt, inwieweit eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, wenn Kinder nicht zu den verpflichtenden Kindervorsorgeuntersuchungen erscheinen. Zusammen mit dem Hessischen Kindervorsorgezentrum führte das Jugendamt des Main-Taunus-Kreises eine Studie durch, in der die Nicht-Teilnahme an Kindervorsorgeuntersuchungen als möglicher Hinweis für eine Kindeswohlgefährdung untersucht wurde.

Methodik: Dabei wurden 605 Meldungen über nicht durchgeführte Kindervorsorgeuntersuchungen aus dem Jahr 2012, die das Hessische Kindervorsorgezentrum an das Jugendamt geschickt hat, retrospektiv analysiert. Die Erfassung jedes Bearbeitungsfalles erfolgte über einen standardisierten Fragebogen sowie bei Fällen, die in dem Jugendamt an den Allgemeinen Sozialen Dienst weitergeleitet wurden, über eine zusätzliche Befragung des zuständigen Mitarbeiters.

Ergebnisse: In 60 Fällen (10%) lag auch am Ende der Bearbeitung keine Bescheinigung über eine durchgeführte Untersuchung vor und in 165 Fällen (27%) wurde die Untersuchung verspätet, d. h. erst nach Kontaktaufnahme durch das Jugendamt, durchgeführt. In 9 von 605 Fällen (1,5%) waren die Familien dem Jugendamt wegen eines bereits bekannten Kindeswohlgefährdungs-Prozesses (§ 8a-Fall) bereits bekannt. Es konnte kein neuer Fall einer Kindeswohlgefährdung detektiert werden. In 58 Fällen haben Familien Angaben zu Gründen für die ausgebliebene oder verspätete Untersuchung gemacht. Gründe waren Auslandsaufenthalte und Umzüge (20 Fälle), Versäumnisse (14 Fälle) und Krankheit (11 Fälle), aber auch Unbekanntheit des Gesetzes (6 Fälle), fehlende Krankenversicherung (4 Fälle), fehlende Sprachkenntnisse (2 Fälle) und prinzipielle Ablehnung des Gesetzes (1 Fall). Auffällig war, dass in 57% der gemeldeten Fälle am Ende der Fallbearbeitung eine bereits durchgeführte Vorsorgeuntersuchung im empfohlenen Zeitraum (inkl. Nachtoleranz) dokumentiert werden konnte. Der größte Teil dieser eigentlichen Fehlmeldungen könnte durch ein vorgeschaltetes Clearingverfahren vermieden werden.

Abstract

Objective: The extent to which childrens’s welfare is compromised when they do not attend compulsory prevention medical check-ups is yet to be determined. Together with the Hessen Prevention Center for Children (Hessisches Kindervorsorgezentrum), the Child Protection Services in the Main-Taunus district have conducted a study to investigate failure to attend child preventive examinations as a possible indication of risk to the welfare of such children.

Method: 605 notifications of child preventive examinations that were not carried out, sent in 2012 to the Child Protection Services by the Hessen Prevention Center for Children, were analyzed retrospectively. Each case was recorded using a standardized questionnaire and, cases that were passed on to General Social Services within Child Protection Services were investigated with an additional interview with the employee responsible.

Results: In 60 (10%) cases there was no certificate to show that the check-up had been conducted, while in 165 (27%) cases the check-up was conducted late, i. e. only after being contacted by the Child Protection Services. In 9 of the 605 cases (1.5%), the families involved were already known to Child Protection Services due to previous proceedings against them under endangering children’s welfare act (known as § 8a cases). No new case of a risk to children’s welfare was detected. In 58 cases, families gave reasons for the missed or late check-up. Reasons included being abroad and moving house (20 cases), forgetting (14 cases) and illness (11 cases), as well as lack of knowledge of the law (6 cases), lack of health insurance (4 cases), lack of language skills (2 cases) and objection to the law in principle (1 case). It was notable that, in 57% of the cases notified, documentary evidence could be provided by the end of the case work that the check-up had taken place within the recommended period (including additional discretionary period). The majority of these notifications of failure to attend can be prevented by an upstream clearing procedure.

 
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