Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2018; 23(04): 173-174
DOI: 10.1055/a-0642-9239
Herausgeberkommentar
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Reform der Notfallversorgung – Bitte ein bisschen mehr Mut!

Emergency care reform – a bit more courage please
Irmtraut Gürkan
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 August 2018 (online)

Ein kleines Land denkt groß: Wie alle westlichen Industrienationen sucht auch Dänemark nach passenden Rezepten, um den Herausforderungen einer alternden Bevölkerung und einer wachsenden Zahl chronisch kranker Menschen zu begegnen. Gleichzeitig geht es darum, das Gesundheitswesen so straff wie möglich zu organisieren. Die dänische Regierung ist davon überzeugt, dass sich die Kosten für das Gesundheitswesen senken lassen und über Konzentrationsprozesse die Qualität der Patientenversorgung zugleich verbessert werden kann. Um die begrenzten Ressourcen möglichst effektiv zu nutzen, wird die Zahl der Krankenhäuser mit 24-Stunden-Notfallversorgung von zurzeit 40 auf 21 halbiert. Kleinere Krankenhäuser werden zum Teil geschlossen, zugunsten großer, spezialisierter Kliniken. Schon heute dauert der Krankenhausaufenthalt im Schnitt nur 3,8 Tage. Ziel ist es, das Gesundheitssystem noch stärker zu digitalisieren und zu vernetzen und auf eine ambulante Behandlungsweise hin auszurichten [1].

Das „Super Hospital Programm“ startete 2007 und hat neben der aus unserer Perspektive geradezu revolutionären Veränderung der Krankenhauslandschaft die sektorenübergreifende, qualitätsgesicherte Versorgung der Patienten im Focus. Für die Patienten bedeutet dieses Qualitätsversprechen, dass sie als Notfälle innerhalb von 4 Stunden diagnostiziert und einer ambulanten Behandlung oder einer stationären Versorgung zugeführt werden. Allerdings: Die Zuweisung zum Emergency Department muss über den General practitioner als Gate keeper erfolgen.

Und wann denken wir groß?

Auch in Deutschland ist die Notfallversorgung im letzten Jahrzehnt einem starken Wandel ausgesetzt. Vor dem Hintergrund einer stetig steigenden Inanspruchnahme der Notfallambulanzen der Kliniken insbesondere in den Ballungsräumen, mehr- oder weniger erfolgreichen Restrukturierungsversuchen der Bereitschaftsdienste der Niedergelassenen seitens der KVen, und einer geringen Bekanntheit der zentralen Rufnummer 116 117, ist es zu erheblichen Fehlsteuerungen gekommen. Verschiedene Studien (z. B. [2], [3], [4], [5]) gehen davon aus, dass 30 bis 50 Prozent der Patienten, die eine Notfallambulanz am Krankenhaus in Anspruch nehmen, genauso gut oder besser im Bereitschaftsdienst der Niedergelassenen behandelt oder allein durch eine telefonische Beratung und ggf. spätere Inanspruchnahme von ambulanten Angeboten versorgt werden könnten. Diese Fehlsteuerung führt vordergründig zu erheblichen Wartezeiten bei Patienten und Sicherheits- und Kostenproblemen in den Kliniken, da viele Patienten mit weniger erheblichen Problemen die Notaufnahmen verstopfen und zu aufwändig diagnostiziert werden. Seitens der Kostenträgerseite wird (weitgehend ungeprüft) kritisiert, dass über die Notaufnahmen auch zunehmend Patienten aufgenommen werden, die primär keiner stationären Behandlung bedürfen.

Mit dem Krankenhausstrukturgesetz vom 1.1.2016 wurde dem gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) die Aufgabe übertragen, ein gestuftes System der Notfallstrukturen für Krankenhäuser zu beschließen, das auch als Grundlage für die Berechnung von Zu- und Abschlägen in der Krankenhausfinanzierung dienen soll. Im April dieses Jahres hat der GBA nun ein dreistufiges System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern beschlossen. Hierbei wurden für jede Stufe der Notfallversorgung insbesondere Mindestvorgaben zur Art und Anzahl von Fachabteilungen, zur Anzahl und Qualifikation des vorzuhaltenden Fachpersonals sowie zum zeitlichen Umfang der Bereitstellung von Notfallleistungen differenziert festgelegt. Simulationsrechnungen haben ergeben, dass nach diesen neuen Regelungen etwa ein Drittel der insgesamt 1750 Akutkrankenhäuser nicht mehr an der Notfallversorgung teilnehmen können, auf diese Häuser entfallen ca. 5 Prozent aller Notfälle. Für die Sicherstellung der Notfallversorgung in strukturschwachen Regionen ist Sorge getragen.

Aber erst mit dem Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) vom 2. Juli diesen Jahres [6], u. a. zur Neustrukturierung der Notfallversorgung, ist ein Weg aufgezeigt, die Notfallversorgung umfassend qualitativ und ökonomisch, d. h. sektorenübergreifend sinnvoll zu ordnen. Die Empfehlungen des Sachverständigenrates sehen integrierte Leitstellen vor, die Organisation der Notfallversorgung soll unter Einbeziehung der niedergelassenen Ärzte, der Einbindung von Rettungsleitstellen und der Notaufnahmen der Krankenhäuser aus einer Hand erfolgen. In Zukunft soll, bevor der Patient überhaupt sein Haus verlässt, unter Rückgriff auf aktuelle leitliniengestützte Notfallalgorithmen der im Einzelfall beste, an die lokale Situation adaptierte Versorgungspfad festgelegt werden. Dieser kann vom Einsatz eines Notarztwagens über den Hausbesuch eines Bereitschaftsarztes bis hin zur Aktivierung eines Notpflege- oder Palliativ-Care-Teams reichen. Viele Patientenanfragen und -sorgen sollten am Telefon geklärt werden.

Sucht der Patient das integrierte Notfallzentrum (INZ) auf, das an einer qualitativ besonders geeigneten nahegelegenen Klinik ebenfalls rund um die Uhr erreichbar ist, arbeiten hier niedergelassene Ärzte und Klinikärzte im Rahmen einer gemeinsamen Vergütung Hand in Hand, organisatorisch unter einem Dach. Die Patienten werden im INZ an einem zentralen Tresen empfangen, an dem die Triage nach Schweregrad und Dringlichkeit erfolgt. Je nach individueller Situation werden die Patienten dann entweder von niedergelassenen Ärzten (ambulant) oder von Klinikärzten (ggf. mit stationärer Aufnahme) weiterbehandelt.

Sinnvolle Lösungsvorschläge und gesetzliche Weichenstellungen zur qualitätsverbesserten und ökonomisch sinnvollen Organisation der Notfallversorgung liegen damit auf dem Tisch. Der Ball liegt jetzt im Feld der Politik. Es ist für das deutsche Gesundheitswesen insgesamt zu hoffen, dass wir im Sinne der Patienten bei der Notfallversorgung in Deutschland nun auch einmal groß denken und uns nicht im „Klein Klein“ des Lobbyismus verlieren.

Irmtraut Gürkan

 
  • Literatur

  • 1 Gonser Bettina. Die Zukunft hat schon begonnen. Superkrankenhäuser: Dänemark investiert 5,6 Mrd. Euro und setzt für sein Gesundheitssystem auf modernste Technik. Medizin und Technik. 2018 S.  https://medizin-und-technik.industrie.de/allgemein/die-zukunft-hat-schon-begonnen/
  • 2 Riessen R. et al. Positionspapier für eine Reform der medizinischen Notfallversorgung in deutschen Notaufnahmen. Notfall und Rettungsmedizin 2015; 18: 174-185
  • 3 Scherer M. et al. Patienten in Notfallambulanzen – Querschnittstudie zur subjektiv empfundenen Behandlungsdringlichkeit und zu den Motiven, die Notfallambulanzen von Krankenhäusern aufzusuchen. Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 645-52
  • 4 Leutgeb R. et al. Out of hours care in Germany – High utilization by adult patients with minor ailments. BMC Family Pracitce. Published online 2017 DOI: doi: 10.1186/s12875–017–0609–1
  • 5 Smits M. et al. The Development and Performance of After-Hours Primary Care in the Netherlands: A Narrative Review. Ann Intern Med 2017; 166: 737-742
  • 6 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR). Gutachten 2018 Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Auftrag laut § 142 Abs. 2 Satz 1 SGB V.