Sprache · Stimme · Gehör 2010; 34(2): 51
DOI: 10.1055/s-0030-1254224
Der kleine Repetitor

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Deprivation

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Publication Date:
27 May 2010 (online)

Deprivation (lat. deprivatio ~ Beraubung) bezeichnet den Zustand der Entbehrung von wesentlichen Bedürfnissen.

In der Neurowissenschaft sind verschiedene Formen der Deprivation bekannt:

sensorische Deprivation ("Reizverarmung"): der teilweise oder komplette Verlust von sensorischen Eingängen, wie z.B. bei Gehörlosigkeit oder Blindheit, soziale Deprivation: der teilweise oder komplette Verlust von sozialen Interaktionen, meistens durch räumliche Isolation, sprachliche Deprivation: der teilweise oder komplette Verlust von sprachlichen Interaktionen, meistens durch Trennung von der Gesellschaft, emotionale Deprivation: der teilweise oder komplette Verlust von emotionalen Bezügen; eine besondere Form ist dabei der Liebesentzug.

Sensorische Deprivation führt besonders im Kindesalter zu umfangreichen psychologischen und neuronalen Umorganisationsprozessen, welche maladaptiv sind [Int J Audiol 2007;46:479-493].

Besonders dramatisch ist der Zustand einer kombinierten Deprivation, wie sie bei sogenannten "Wolfskindern" auftritt [HNO 2009;57:9-16, Audiol Neurootol 2001;6:346-362]. Solche Kinder leben in Isolation von der Gesellschaft - ihnen ist weder sprachliche, soziale noch emotionale Interaktion mit anderen Menschen ermöglicht. In der Literatur ist der wahrscheinlich in dem Bereich der Legenden angesiedelte Fall von Romulus und Remus, die angeblich von einer Wölfin 3 Jahre lang "aufgezogen" wurden, oder der sehr obskure und wissenschaftlich schlecht dokumentierte Fall von Kaspar Hauser, berühmt. Hierbei scheint die Deprivation keine auffälligen Folgen für die betroffenen Personen gehabt zu haben.

Die wenigen wissenschaftlich besser untersuchten Fälle [Bishop D, Mogford K (ed.). Extreme deprivation in early childhood. Hillsdale: Erlbaum; 1993: 29-46] zeigen jedoch, welche katastrophalen Folgen für die sprachliche und kognitive Entwicklung eine länger andauernde kombinierte Deprivation hat [HNO 2009;57:9-16]. Eine annähernd normale Sprache kann sich nicht entwickeln, wenn der Zustand einer kombinierten Deprivation über 7-10 Jahre andauert. Bei dem Fall des Mädchens Genie, die am Dachboden von den eigenen Großeltern "gehalten" und für jedes Geräusch physisch bestraft wurde sowie am Toilettenstuhl z.T. angebunden war und mit der gar nicht gesprochen wurde, konnten die besten Experten nach 12 Jahren einer solchen Deprivation keine andauernde Sprachentwicklung mehr anstoßen. Es gibt also eine kritische Periode für das Erlernen von Sprache.

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