Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2013; 18(5): 210-212
DOI: 10.1055/s-0033-1350540
Editorial
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Das AMNOG: Arme Monetarisierung Neuer Optionen in der Gesundheitsversorgung

The AMNOG: Poor Monetarisation of New Options in Health Care
J. M. Graf von der Schulenburg
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Publication Date:
15 October 2013 (online)

Nein, das ist nicht die formal richtige Übersetzung von AMNOG. Sondern AMNOG ist die Abkürzung für Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz [1]. Aber etwas ist schon an der freien Übersetzung dran. Nachdem der Versuch gescheitert ist, mit der Neuformulierung des § 35b SGB V im Jahr 2007 die Kosten-Nutzen-Analyse für Arzneimittel in Deutschland einzuführen [2], wurde mit dem AMNOG der § 35a SGB V neugefasst. Er implementiert mit Wirkung zum 1.1.2011 die frühe Nutzenbewertung für Arzneimittel. Hier geht es zwar vordergründig nur um die Bewertung des Nutzens.

Aber auch beim § 35a geht es letztlich um Geld, und zwar um die Frage, was die Solidargemeinschaften der Krankenversicherten bereit sein sollen, für Arzneimittel zu bezahlen. Aber anders als bei der expliziten Kosten-Nutzen-Bewertung, wurde das Thema Moneten geschickt umschifft. Es wird zunächst nur über Nutzen gesprochen. Dieser wird auf der Grundlage eines von den Arzneimittelherstellern einzureichenden Dossiers vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bewertet.

Kosten spielen keine Rolle. Nur eine eher unwichtige Schätzung des Budgeteffekts auf die Krankenkassen ist dem Dossier beizufügen. Diese beschränkt sich aber auf die reinen Arzneimittelkosten für ein Jahr. Die gesamten Kosten der Therapie, mit dem zu bewertenden Arzneimittel und die Therapiekosten der Vergleichstherapie, welche für eine Evaluation wichtig gewesen wäre, werden nicht erfasst. Führt z. B. ein Arzneimittel zu geringeren Krankenhausaufenthalten oder ist mit zusätzlichen Diagnosekosten verbunden, so sind diese natürlich bei einer Krankenkassensicht zu evaluieren.

Trotz der reinen Nutzenfokussierung erfolgt aber am Ende dann doch eine Preisfindung: Das Arzneimittel landet entweder in einer Festbetragsgruppe, wobei der Festbetrag vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen festgelegt wird, oder es kommt zu nicht öffentlichen Preisverhandlungen zwischen dem Arzneimittelhersteller und dem genannten Verband.

Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, warum die Kosten-Nutzen-Analyse (KNA), die explizit, offen, transparent und interpersonell nachvollziehbar die Kosten eines Arzneimittels ins Verhältnis zu dessen Nutzen setzt, in Deutschland gescheitert ist. Der von 2004 – 2010 amtierende Leiter des Instituts für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG), Peter Sawicki, sah die Schuld eher bei den Fachökonomen des Landes. Sie lehnten nämlich mehrheitlich die vom IQWiG vorgelegten Methoden [3] [4] ab, was beim IQWiG auf völliges Unverständnis stieß [5]. Die Fachökonomen des Landes hingegen sahen die Schuld beim IQWiG, das nicht in der Lage gewesen sei, in einem vertretbaren Zeitraum Methoden zur Kosten-Nutzen-Analyse vorzulegen, die den im Gesetz geforderten internationalen Standards der Gesundheitsökonomie entsprechen [5]. Zudem wurde das vom IQWiG propagierte Konzept der Effizienzgrenze zur Festlegung eines angemessenen Preises als für die Fragestellung ungeeignet, selbst gestrickt, methodisch-theoretisch nicht fundiert und innovationsfeindlich eingestuft. Schließlich beteiligten sich neben den Gesundheitsökonomen [6] andere Disziplinen an der Diskussion. Ethiker lehnten eine kardinale Nutzenmessung und eine Aggregation verschiedener Nutzendimensionen ab, insbesondere die Vorgehensweise, wie sie das Konzept der qualitätsbereinigten Lebensjahre (QALY) [7] vornimmt [8] [9]. Juristen diskutierten die verfassungs- und sozialrechtlichen Probleme der Kosten-Nutzen-Analyse und einer expliziten und impliziten Rationierung (obwohl es um die gar nicht ging) [10].

Wer immer in diesem Streit der Schuldzuweisungen recht hatte, das IQWiG hat zu verantworten, dass es den ergebnisorientierten Dialog mit deutschen Fachökonomen nicht gesucht und weitgehend abgelehnt hat. Die Kritik der deutschen Gesundheitsökonomen wurde trotz ihrer Deutlichkeit ignoriert. In einer Stellungnahme hatten diese festgestellt, dass die „Behandlung der Methoden nicht systematisch erfolgte“ und „fachliche Unzulänglichkeiten aufweist“, „der verwendete Nutzenbegriff unklar bleibt“ und „der internationale Wissensstand nicht adäquat berücksichtigt wird“, „das IQWiG-Konzept der ‚Effizienzgrenze‘ unrealistisch und die vorgeschlagene Anwendung wissenschaftlich nicht haltbar“ sind und das Methodenpapier in der vorgelegten Form „untauglich ist“ [11]. Die vom IQWiG eingesetzte Kommission unter Leitung des Nichtökonomen Jaimi Caro zur Entwicklung der Methoden zur Kosten-Nutzen-Analyse arbeitete nicht nur ohne jede Beteiligung deutscher Fachleute, sondern zeichnete sich auch durch einen Mangel an Fachökonomen, ökonomischen Fachkenntnissen und einer demonstrativen Ablehnung der Methoden aus, die von anderen ausländischen Institutionen – wie dem NICE, SMC, NOMA, TLV, CVZ oder PBAC – angewendet werden. Nur so ist zu erklären, dass die dann präsentierten Methoden nicht im Einklang mit der ökonomischen Theorie und den international üblichen Verfahren bei der Kosten-Nutzen-Analyse von Arzneimitteln standen [12].

Das AMNOG hat nun einen neuen Ansatz gewählt: Am Anfang steht die Nutzenbewertung. Kern der Bewertung ist die Bestimmung des Ausmaßes des Zusatznutzens des Arzneimittels gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie. Dabei wird der Gesamtnutzen eines Arzneimittels im Vergleich zur aktiven Vergleichstherapie in 6 Stufen eingeteilt (erheblich, beträchtlich, gering, nicht quantifizierbar, fehlt, geringer) [13]. Interessanterweise wird diese Form der Aggregation und der Quantifizierung der Nutzendimensionen kaum kritisiert. Dabei bestehen bei der Quantifizierung des Nutzens nach dem AMNOG die gleichen grundlegenden Bewertungsprobleme, wie sie im Zusammenhang mit dem QALY-Konzept breit diskutiert wurden.

Der Beschluss des G-BA dient als Grundlage für die Entscheidung über den Erstattungspreis zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und Privaten Krankenversicherung (PKV) – und damit über die Frage, wie teuer die Medikation für die Krankenversicherung sein darf. Falls ein Zusatznutzen bescheinigt wird, findet im Folgenden eine Rabattverhandlung zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem pharmazeutischen Unternehmer statt – andernfalls wird das Arzneimittel in eine Festbetragsgruppe einsortiert bzw. erhält einen Erstattungspreis, der dem der Vergleichstherapie entspricht. In der [Abb. 1] ist der Prozess des AMNOG dargestellt.

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Abb. 1 Der AMNOG-Prozess [14].

Die KNA spielt nach dem AMNOG de facto keine Rolle mehr, wie die Abbildung auch verdeutlicht. Sie kommt nur in zwei Fällen zur Anwendung: Erstens kann sie der Hersteller verlangen und auf eigene Kosten durchführen, wenn seinem Medikament kein Zusatznutzen bescheinigt wird. In diesem Falle macht so eine Analyse gar keinen Sinn. Eine KNA setzt die Kostendifferenz (Zähler des Quotienten) ins Verhältnis zur Nutzendifferenz (Nenner des Quotienten). Ist die festgelegte Nutzendifferenz null, dann ist der Nenner offensichtlich auch null und damit die ICER (= vergleichende Kosten-Effektivitätsrate, incremental cost-effectiveness ratio) unendlich. Der zweite Fall ist ein Nichtakzeptieren des Spruchs der Schiedsstelle. Hier könnte eine KNA Informationen über die Angemessenheit des Preises liefern, wenn eine Vorgabe für eine angemessene ICER bestehen würde. Unser Gesundheitssystem sieht aber keine Institution und/oder auch kein Verfahren vor, das dies leisten könnte. Das heißt, in der Regel ist eine KNA entweder nicht erforderlich oder sie ist nutzlos.

Das Erstaunliche an der durch das AMNOG eingeführten frühen Nutzenbewertung ist, dass das Verfahren auch ohne eine explizite Evaluation der Kosten und der Kosten-Nutzen-Relation funktioniert. Bislang wurden rund 30 Bewertungen vom G-BA vorgenommen, die letztlich zu einer Festlegung der Erstattungspreise für die Arzneimittel führen. Die Vorarbeiten für die Nutzenbewertung stammen in der Regel vom IQWiG. Der G-BA ist allerdings nicht in jedem Verfahren der Empfehlung des IQWiG gefolgt. Dies zeigt zumindest eine gewisse Unabhängigkeit der Institution, die das „Assessment“ durchführt und derjenigen, die das „Appraisal“ zu verantworten hat. In der überwiegenden Zahl der Verfahren haben die Arzneimittelhersteller die Vergleichstherapie akzeptiert, die der G-BA vorgeschlagen hat. In den Fällen, in denen der Arzneimittelhersteller nicht der G-BA-Empfehlung bei der Festlegung der Therapie gefolgt ist, hatte er schlechte Karten. In der überwiegenden Zahl der Fälle bekam er keinen Zusatznutzen vom G-BA für sein Arzneimittel testiert. Aber auch hier gibt es Ausnahmen, was zeigt, dass der G-BA auch die Argumente der Arzneimittelhersteller hört. Von den Preisverhandlungen zwischen den Arzneimittelherstellern und dem Spitzenverband Bund hört man bislang nichts Außergewöhnliches. In der Regel enden sie mit einem Ergebnis, d. h. der Übereinkunft über einen Erstattungsbetrag – der natürlich unter dem bei Einführung vom Hersteller fixierten Preis liegt. Nur selten wird die Schiedsstelle gemäß § 130b (4) SGB V angerufen.

Aus gesundheitspolitischer Sicht ist das AMNOG ein Erfolg. Das Gesetz hat bei innovativen Arzneimitteln eine Countervailing Power zwischen Arzneimittelherstellern und Krankenkassen institutionalisiert, die vorher so nicht bestand. Die Situation, dass ein Arzneimittelhersteller einen Preis nach Gutdünken verlangen kann, ist beendet. Ob das Verfahren auch eine ökonomisch sinnvolle Lösung ist, ist indes noch zu prüfen. Insbesondere ist fraglich, ob man auf Dauer auf eine Kosten-Nutzen-Analyse verzichten kann und sollte.

Eine weitere Herausforderung kommt nun auf die Arzneimittelhersteller, den G-BA und den Spitzenverband Bund der Krankenkassen zu. Nach dem AMNOG werden nicht nur neu auf den Markt gebrachte Wirkstoffe einer Nutzenbewertung durch den G-BA unterzogen, sondern der G-BA kann auch bereits zugelassene und im Markt befindliche Arzneimittel (Bestandsmarkt) einer Nutzenbewertung unterziehen. Damit findet dann auch für diese Arzneimittel im Bestandsmarkt das Verfahren einer Festlegung der Erstattungspreise entweder über Festbeträge, wenn kein Zusatznutzen zur Vergleichstherapie festgestellt wird, oder Verhandlung/Schiedsstellenbeschluss, wenn ein Zusatznutzen testiert wird, statt. Im Bestandsmarkt sollen vorrangig solche Arzneimittel bewertet werden, die für die Versorgung von Bedeutung sind oder die mit Arzneimitteln im Wettbewerb stehen, deren Nutzen bereits bewertet wurde. Im April 2013 hat der G-BA nach eingehenden Diskussionen über die Vorgehensweise eine Vielzahl an Präparaten zur Nutzenbewertung aufgerufen. Sie sind in folgenden Indikationsgebieten: starke Schmerzen, Osteoporose, Herzerkrankungen, Diabetes, rheumatoider Arthritis und Depressionen. Die Hersteller dieser Arzneimittel müssen innerhalb einer bestimmten Frist Dossiers vorlegen.

Ein anderes Thema ist die Behandlung von Therapien für seltene Erkrankungen [15]. Derzeit sind diese von der frühen Nutzenbewertung ausgenommen worden, wenn der erwartete Umsatz 50 Mio. € nicht übersteigt. Diese Regelung gibt nicht nur Anreize, Krankheiten zu segmentieren, um möglichst viele seltene Erkrankungen zu haben, sondern es besteht auch die Gefahr, dass ein großer Kostenblock ausgespart wird und es dadurch zu Verzerrungen in den relativen Preisen kommt. Fasst man nämlich seltene Erkrankungen zusammen, so sind sie gar nicht so selten: 7000 der ca. 30 000 bekannten Erkrankungen gelten als seltene Erkrankungen, die zusammen eine Prävalenz von rund vier Prozent haben dürften.

In diesem Heft greifen Ökonomen verschiedene Aspekte des AMNOG auf und weisen auch auf die Notwendigkeit der Weiterentwicklung hin.

 
  • Literatur

  • 1 Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz. Gesetz vom 22. Dezember 2010 BGBl. I S. 2262 (Nr. 67). 2011
  • 2 Leidl R. Der Effizienz auf der Spur: Eine Einführung in die ökonomische Evaluation. In: Schwartz FW, Badura B, Busse R, (Hrsg) Das Public Health Buch: Gesundheit und Gesundheitswesen. München, Jena: 2003: 461-484
  • 3 IQWiG. Methodik für die Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten im System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung. Version 1.1.2008. Im Internet unter: http://www.iqwig.de/download/08-10-14_Methoden_Kosten-Nutzen-Bewertung_Version_1_1.pdf
  • 4 IQWIG. Allgemeine Methoden zur Bewertung von Verhältnissen zwischen Nutzen und Kosten. Version 1.0 vom 12.10.2009; 2009 Im Internet unter: http://www.iqwig.de/download/Methodik_fuer_die_Bewertung_von_Verhaeltnissen_zwischen_Kosten_und_Nutzen.pdf Datum des Zugriffs: 24.04.2013
  • 5 Greiner W, Kuhlmann A, Schwarzbach C. Ökonomische Beurteilung des Effizienzgrenzenkonzeptes. Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement 2010; 15: 241-250
  • 6 Nord E, Pinto JL, Richardson J et al. Incorporating Societal Concerns for Fairness in Numerical Valuations of Health Programmes. Health Economics 1999; 8: 25-39
  • 7 Wagstraff A. QALYs and the equity-efficiency trade-off. Journal of Health Economics 1991; 10: 21-41
  • 8 Lübbe W. „Aus ökonomischer Sicht…“ Was ist der normative Anspruch gesundheitsökonomischer Evaluationen?. RMM 2009; 0: 451-463
  • 9 Deutscher Ethikrat. Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung. Stellungnahme. Berlin, 2011. Im Internet unter. http://www.ethikrat.org Datum des Zugriffs: 24.04.2013
  • 10 Von der Schulenburg JM. Rationierung und Gerechtigkeit. Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement 2010; 15 (04) 158-161
  • 11 Gemeinsame Erklärung von 38 deutschen Gesundheitsökonomen vom 12.3.2008: Deutsche Gesundheitsökonomen lehten Methodenvorschlag des IQWiG zur Bewertung medizinischer Verfahren ab.
  • 12 Schöffski O, von der Schulenburg JM (Hrsg). Gesundheitsökonomische Evaluationen. . 4. vollständig überarbeitete Auflage Berlin: Springer; 2011
  • 13 Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung. Verordnung über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a Absatz 1 SGB V für Erstattungsvereinbarungen nach § 130b SGB V vom 28. Dezember 2010 (BGBI: 2324).
  • 14 Prenzler A, von der Schulenburg JM. Institutionen der Vierten Hürde. In:  Schöffski O, von der Schulenburg JM, (Hrsg) Gesundheitsökonomische Evaluation. Berlin: Springer; 2011: 437-456
  • 15 Hagn D, Schöffski O. Orphan Drugs. In: Schöffksi O, Fricke FU, Guminski W, (Hrsg). Pharmabetriebslehre. 2. Aufl. Berlin, Heidelberg: 2008: 413-427